Junge Welt 01.08.2008 / Thema / Seite 10

Verpaßte Chance

Das Kapital verschärft im August 1923 den Klassenwiderspruch, die SPD unterstützt diesen Kurs, die KPD nutzt die Massenproteste nicht für den Umsturz

Von Nick Brauns

Im Jahr 1923 machte die Weimarer Republik die bis dahin schwerste wirtschaftliche und politische Krise der Nachkriegszeit durch. Unter Wilhelm Cuno, dem parteilosen HAPAG-Direktor, war im November 1922 eine Regierung des Großkapitals gebildet worden, um nationalen Widerstand gegen die Reparationsforderungen der Entente zu organisieren. Doch Cunos Vorschläge für ein Moratorium in der Repara­tionsfrage wurden von Frankreich abgelehnt. Da Deutschland die vorgeschriebenen Mengen Holz und Kohle nicht lieferte, marschierten am 11. Januar 1923 französisch-belgische Truppen ins Ruhrgebiet ein. Der Reichstag beschloß gegen die Stimmen der Kommunisten »passiven Widerstand« gegen die Besatzung, und Cuno erließ einen Aufruf an alle Beamten im besetzten Gebiet, »Anordnungen der besetzenden Mächte keinerlei Folge zu geben, sondern sich ausschließlich an die Anweisungen ihrer eigenen Regierung zu halten«.1 Auf den passiven Widerstand reagierten die Besatzungstruppen mit der Beschlagnahmung der Eisenbahn im Ruhrgebiet. Die auf rund 100000 Mann verstärkten Besatzer erschossen protestierende Arbeiter. Bürgermeister und Bergwerksdirektoren wurden inhaftiert und Städte mit Geldstrafen belegt. Doch der vielgerühmte »nationale passive Widerstand« ist nur eine patriotische Legende. Er scheiterte schon nach wenigen Wochen am Egoismus der Großkapitalisten. Die Zechenbesitzer waren nicht bereit, die durch einen längeren Streik entstehenden Verluste zu tragen. So wurde nur symbolisch gestreikt, wenn die französischen Truppen die geförderte Kohle abtransportierten, ansonsten blieben die Betriebe offen. Am Profitstreben der deutschen Kapitalistenklasse scheiterte Cuno auch beim Versuch, der Inflation Herr zu werden. Zwar war es ihm im Januar gelungen, den Wechselkurs des US-Dollars bei 20000 Mark zu halten, doch bereits im April setzten sich die Spekulanten wieder durch, und der Dollarkurs erreichte die Millionengrenze. Die deutschen Industriellen konnten zu geringsten Löhnen für den Weltmarkt produzieren lassen und erhielten beim Verkauf harte Währungen, so daß die Unternehmen aus der galoppierenden Inflation in dieser Hinsicht keine Nachteile hatten.

Proletarischer Internationalismus

Die Zentrale der KPD hatte am 23. Januar in einem Leitartikel der Roten Fahne die Linie des Kampfes vorgegeben: »Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree«. Auf dem »Rücken der deutschen Arbeiterschaft« wurde eine Auseinandersetzung zwischen deutschen und französischen Industriellen um die prozentualen Anteile bei der Ausbeutung der Kohle- und Eisenerzlager beiderseits der Grenzen ausgetragen. »Die Kommunistische Partei hat die Führung der Proletarier im Ringen für das nationale Lebensrecht des Reiches zu übernehmen«, forderte Clara Zetkin angesichts der »verräterischen deutschen Bourgeoisie«.2 Im strikten Gegensatz zu den nationalistischen Gegnern der Ruhrbesetzung propagierte die KPD im Geist des proletarischen Internationalismus den gemeinsamen Kampf mit den französischen Werktätigen. Französische und deutsche Kommunisten warben unter den Besatzungssoldaten für die Verbrüderung mit den deutschen Arbeitern. In einem Fall versuchten französische Soldaten, streikende deutsche Arbeiter vor der deutschen Polizei zu schützen. Dabei wurden mehrere Soldaten erschossen. Nach einem Massaker französischer Truppen an Arbeitern in Essen veröffentlichte die Rote Fahne einen Solidaritätsbrief französischer Soldaten, die Geld für die Familien der Ermordeten sammelten.

Neben den Lohnabhängigen, die eine Woche für einen Sack Kartoffeln und zehn Stunden für ein Pfund Margarine arbeiten mußten, waren die Mittelschichten der größte Verlierer der Infla­tion. Die Geldentwertung war eine beispiellose Enteignung von Sparkontenbesitzern und kleinen Eigentümern. Der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) wies darauf hin, »daß jene geistige und gewerbliche Mittelschicht, die traditionsgemäß Trägerin des Staatsgedankens war, ihre völlige Hingabe an den Staat im Kriege mit der völligen Aufgabe ihres Vermögens bezahlte und proletarisiert wurde«.3 Die ungeheure Notlage der breiten Volksmassen führte zu einer bis weit ins Kleinbürgertum reichenden Radikalisierung nach links und rechts. »Es hat nie in der neueren deutschen Geschichte einen Zeitabschnitt gegeben, der für eine sozialistische Revolution so günstig gewesen wäre wie der Sommer 1923«, schrieb der damals in die KPD eingetretene Historiker Arthur Rosenberg rückblickend im Jahr 1935. »Im Wirbel der Geldentwertung hatten sich alle herkömmlichen Begriffe von Ordnung, Eigentum und Gesetzlichkeit aufgelöst.«4 Doch um vorwärtszuschreiten, brauchten die Massen die bewußte Führung durch eine revolutionäre Partei. Die Sozialdemokratie konnte und wollte dies nicht sein. Ihre Führer lehnten jeden Bruch mit der verfassungsmäßigen Ordnung ab. Ihre sowohl objektive als auch selbst verordnete Funktion, das bestehende System zu erhalten und in schwierigen Situation sogar zu retten, trieb die SPD-Führer zur Unterstützung der Cuno-Regierung.

Richtungskämpfe in der KPD

Aber auch die Kommunistische Partei gab den Massen nicht die notwendige Führung. Innerhalb der KPD und der Kommunistischen Internationale (KI) herrschte Unklarheit über die nächsten Schritte. Auf dem 8. Parteitag der KPD vom 28. Januar bis 1. Februar in Leipzig waren die konträren Auffassungen deutlich geworden. Die hinter dem Parteivorsitzenden Heinrich Brandler stehende Parteimehrheit wollte mit Hilfe der Einheitsfrontpolitik die Gewerkschaften und Genossenschaften erobern und propagierte gemäß den Beschlüssen der Komintern die Losung einer »Arbeiterregierung«. Diese sollte »weder die Diktatur des Proletariats« noch ein »friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr« sein, sondern eine aus Arbeiterparteien gebildete Regierung »der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und proletarische Massenbewegungen«. Für die linke Opposition der KPD um Ruth Fischer mit Rückhalt in den Industriebezirken Hamburg, Frankfurt/Main, Lausitz und Berlin waren dies »rechte Abweichungen« mit der Gefahr eines »Aufgehens in der SPD«. Statt einer Arbeiterregierung zur Heranführung der Mehrheit der Arbeiterklasse an die Revolution propagierten die Linken die unmittelbare gewaltsame Revolution zur Errichtung der proletarischen Diktatur. Der Parteitag wählte indes vor allem Vertreter des rechten Parteiflügels wie Heinrich Brandler, August Thalheimer, Paul Frölich, Hugo Eberlein, Jakob Walcher und Clara Zetkin sowie einige Exponenten der Mittelgruppe (Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht) in die Zentrale. Erst nach einer von der Komintern anberaumten Krisenkonferenz wurden im Mai auch Ruth Fischer, Ottomar Geschke, Arthur König und Ernst Thälmann als Vertreter der Parteilinken kooptiert.

Angesichts der fortschreitenden Verelendung entwickelte die KPD-Zentrale Übergangsforderungen wie die Losung der Abwälzung der Lasten des Ruhrkampfes auf die Bourgeoisie, der Erfassung der Sachwerte und der Kontrolle der Produktion. Eine Arbeiterregierung sollte, gestützt auf ihre eigenen Klassenorgane, diese Arbeiterforderungen durchsetzen. Als ersten Schritt gingen die Kommunisten an die Schaffung eigenständiger Machtorgane. Kontrollausschüsse überwachten, daß Lebensmittel nicht über den amtlich festgesetzten Preisen verkauft oder zur künstlichen Verknappung gehortet wurden. Laut dem nach Deutschland entsandten Militärspezialisten der Komintern, Valdemar Roze »Wolf«, hatten sich bis Juli bereits 900 Proletarische Hundertschaften aus Kommunisten und linken Sozialdemokraten als Keimzelle einer Roten Armee gebildet, die freilich kaum über Waffen verfügten.

Während die Zentrale um Brandler auf den geduldigen Aufbau solcher Einheitsfrontorgane setzte, provozierten die Parteilinken um Ruth Fischer mit abenteuerlichen Vorschlägen wie dem zur Besetzung der unter französischen Bajonetten stehenden Betriebe im Ruhrgebiet. In Mülheim stürmten kommunistische Arbeiter am 13.April das Rathaus, übernahmen die Verwaltung der Stadt, verteilten Lebensmittel aus den Lagern und stellten eine Arbeitermiliz auf. Das von der KPD-Zentrale strikt abgelehnte Abenteuer endete blutig, als die Franzosen der deutschen Schutzpolizei am 21. April den Sturm auf das Rathaus erlaubten. Als Ende Mai eine Massenstreikwelle für Lohnerhöhungen durch das Ruhrgebiet rollte und es in Bochum, Gelsenkirchen und anderen Städten zu schweren Straßenkämpfen kam, setzte sich die Brandler-Zentrale für ein Ende des Streiks ein, nachdem die Unternehmer eine von der Inflation rasch wieder aufgefressene 52,3 prozentige Lohnerhöhung gewährten. In der von den Parteirechten dominierten KPD-Zentrale herrschte der irrige Glaube, der Einfluß der KPD würde linear anwachsen, und das Proletariat müsse seine Kräfte für einen finalen Generalstreik und anschließenden bewaffneten Aufstand zurückhalten. Diese abwartende Politik Brandlers war das opportunistische Gegenstück zu den ultralinken Abenteurern.

Schlageter-Kurs

Nationalistische und faschistische Organisationen wie die NSDAP wuchsen vor dem Hintergrund des Ruhrkampfes und der Wirtschaftskrise rasant an. Aus ihren Reihen gingen Sabotagetrupps ins Ruhrgebiet, um dort den Guerillakampf gegen die Besatzer aufzunehmen. Sie sprengten Brücken, Eisenbahnanlagen und Kanäle und erschossen französische Posten. Faschistische Verbände aus Bayern drohten mit einem Marsch auf das »rote Sachsen«, wo die KPD die sozialdemokratische Regierung von Ministerpräsident Erich Zeigner tolerierte.

Die Einschätzung und der Umgang mit dem Faschismus stand im Mittelpunkt des vom 12. bis 23. Juni in Moskau tagenden dritten erweiterten Plenums des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI). Clara Zetkin nannte den Faschismus in ihrem richtungsweisenden Grundsatzreferat den »gefährlichsten Feind des Proletariats« und »konzentriertesten Ausdruck der Generaloffensive der Weltbourgeoisie«. Träger des Faschismus seien breite soziale Schichten bis hinein ins Proletariat. »Nur wenn wir verstehen, daß der Faschismus eine zündende, mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen ausübt, die die frühere Existenzsicherheit und damit häufig den Glauben an die Ordnung von heute schon verloren haben, werden wir ihn bekämpfen können«, forderte Clara, den Faschismus nicht allein »militärisch« niederzuringen. Es gelte, den suchenden Massen nicht nur die Verteidigung des Brotes zu bieten, sondern zugleich den Kommunismus als Weltanschauung.5

Dies versuchte der Deutschlandexperte der Komintern, Karl Radek, mit seiner berüchtigten Schlageter-Rede auf dem gleichen EKKI-Plenum. Am 27. Mai hatten französische Truppen Albert Leo Schlageter, Führer einer rechtsextremen Freischärlergruppe, wegen Sabotage hingerichtet. Diese Erschießung hatte in allen Bevölkerungsschichten starke Erregung hervorgerufen. »Wir sind keine sentimentalen Romantiker, die an der Leiche die Feindschaft vergessen, und keine Diplomaten, die sagen: am Grabe Gutes reden oder schweigen. Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns, Soldaten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu werden«, erklärte Karl Radek. »Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn des Geschicks Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollen sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts«, spielte Radek auf den Titel eines Freikorps-Romans an. Die Nationalisten hätten sich zu entscheiden: »Gegen das Ententekapital oder das russische Volk? Mit wem wollen sie sich verbinden? Mit den russischen Arbeitern und Bauern zur gemeinsamen Abschüttelung des Jochs des Ententekapitals oder mit dem Ententekapital zur Versklavung des deutschen und russischen Volkes?«6 Aufgabe der KPD sei es, nationalistischen Kräften des Kleinbürgertums zu zeigen, daß sie ins Lager der Arbeit gehörten. Die mit dieser Rede eingeleitete KPD-Politik der nationalen Phrase zielte außenpolitisch auf eine Erweiterung des im Vorjahr in Rapallo 1922 geschlossenen Bündnisses zwischen Deutschland und der Sowjetunion zu einer Allianz gegen den anglo-französischen Imperialismus.

Die Veröffentlichung der Rede Radeks in der Roten Fahne stieß auf lebhaftes Interesse unter Theoretikern der extremen Rechten. Der Nationalsozialist Ernst Graf zu Reventlow durfte Diskussionsartikel im KPD-Organ veröffentlichen, und Radek publizierte eine gemeinsame Broschüre mit Beiträgen von ihm und Paul Frölich sowie Reventlow und Arthur Moeller van den Bruck, dem Verfasser des damals gerade erschienenen Buches »Das Dritte Reich«. Offenheit bestand bei den Vertretern der extremen Rechten für einen gemeinsamen deutsch-russischen Kampf gegen das Versailler Diktat, während sie in der sozialen Frage zu keinen Zugeständnissen bereit waren. Zwar gelang es der KPD, einige wenige nationalrevolutionäre Führer wie Josef »Beppo« Römer vom Freikorps Oberland oder den Nationalbolschewisten Hans von Hentig für ihren geheimen Militärapparat zu gewinnen, ansonsten sorgte die Schlageter-Linie vor allem für Verwirrung in den Reihen der Kommunisten. So kam es zu Entgleisungen wie in einer Rede von Ruth Fischer – selbst jüdischer Herkunft – vor faschistischen Studenten: »Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. (...) Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner?«7

Tatsächlich stieß der Schlageter-Kurs keineswegs auf die ungeteilte Zustimmung der Kominternführung. Das zeigt der Streit um eine Absage von antifaschistischen Massendemonstrationen durch die KPD-Führung im Juli. »Wir sind mit Karl R[adek] nicht einverstanden«, stellten Grigori Sinowjew und Nikolai Bucharin, die anfangs auch für »die nationalen Töne« geworben hatten, in einem Privatbrief an Brandler und Thalheimer klar. »Radek macht den Fehler, daß er nur eine Seite sieht: Zerlegung der Faschisten durch Propaganda à la seine Rede über Schlageter. Er vergißt aber, daß ein guter Faustschlag am besten den Faschismus zerlegen würde.«8 Dies sahen auch die meisten KPD-Arbeiter so, die von Radeks Geheimdiplomatie mit nationalistischen deutschen Politikern nichts wußten, aber im täglichen Abwehrkampf gegen die immer besser bewaffneten faschistischen Stoßtrupps standen. Auf Druck der Parteibasis und ermutigt von Sinowjew rief die KPD schließlich zum landesweiten Antifaschistentag für den 29. Juli auf; der Schlageter-Kurs wurde stillschweigend beerdigt.

Cunos Sturz

Großer Verlierer im Sommer 1923 war die SPD, deren durch die Freien Gewerkschaften ausgeübter Einfluß auf die Arbeiterklasse beständig abnahm. Die Inflation hatte die Streikkassen der Gewerkschaften schrumpfen lassen, aus denen nicht einmal mehr ihre Angestellten bezahlt werden konnten. Tarifverträge verloren angesichts der Geldentwertung ihren Sinn, mehr als zwei Millionen Arbeiter verließen ihre Verbände und ließen sich lieber von ihren Betriebsräten vertreten. Politisch verlor die SPD das Vertrauen ihrer Anhänger aufgrund ihrer Tolerierungspolitik der Cuno-Regierung. »Ohne Zweifel hatte im Sommer 1923 die KPD die Majorität des deutschen Proletariats hinter sich«9, meint Arthur Rosenberg, und der Historiker Hermann Weber, ein bürgerlicher Kritiker der KPD-Politik, hält es für möglich, daß es der KPD »vermutlich zeitweise gelang, die Mehrheit der sozialistisch orientierten Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen«.10

In der Komintern wurde diese Chance nicht erkannt. Noch auf dem Juni-Plenum des EKKI war keine Rede von einem geplanten Aufstand in Deutschland. Während die revolutionäre Krise in Deutschland ihrem Höhepunkt entgegentrieb, ging die Führung der Komintern in den Sommerurlaub. »Das Präsidium stirbt so langsam hier ab. Clara soll morgen nach dem Kaukasus abfahren. Sinowjew und Bucharin treten einen sechswöchentlichen bzw. achtwöchentlichen Urlaub am 15. an, Radek sitzt auf dem Dorfe zwölf Werst von hier, auch die meisten ausländischen Vertreter sind kaum noch zu erreichen. In dringenden Angelegenheiten ist nur Radek telefonisch zu erreichen«,11 klagte Edwin Hoernle, deutscher Vertreter im EKKI, am 9.Juli 1923 in einem Schreiben an das Politbüro der KPD.

Am 7. August schaltete sich erstmals der Generalsekretär der russischen KP, Josef Stalin, in die Debatte ein. Die Erfolgschancen einer deutschen Revolution schätzte Stalin in einem Schreiben an Sinowjew pessimistisch ein. »Wenn heute in Deutschland die Macht sozusagen stürzt und die Kommunisten sie aufheben, dann werden sie mit Pauken und Trompeten scheitern. Im besten Falle. Im schlechtesten wird man sie in Stücke hauen und weit zurückwerfen.«12 Zu diesem Zeitpunkt war die revolutionäre Stimmung in Deutschland auf einem Höhepunkt. Der Dollarkurs erreichte 6,5 Millionen Mark. Die Warenpreise stiegen ins Unendliche. Immer mehr Arbeiter der Großbetriebe traten in passive Resistenz. In der bürgerlichen Presse wurde über Cunos Sturz diskutiert. Am 9. August traten die Buchdrucker in einen Streik für Lohnerhöhungen. Da auch die staatlichen Gelddruckereien betroffen waren, stellten die Banken die Auszahlung von Papiergeldern ein, und die Großbetriebe stoppten die Lohnauszahlungen. »Die Stimmung unter der Arbeiterschaft war aufs Äußerste erregt«, schrieb KPD-Vertreter Hugo Eberlein in einem Bericht an die Komintern. »Seit 1918 erlebten wir in Berlin wie auch in Teilen des Reichs nicht so erregte Situationen. In allen nennenswerten Betrieben stand die Arbeit still. Auf allen Straßen und Plätzen sammelte sich die erregte Bevölkerung und führte heftige Diskussionen. Polizei und Schupo raste durch die Stadt, um Plünderungen und Zusammenstöße zu verhindern. Sie wirkte selbstverständlich nicht beruhigend, sondern erregte die Massen noch mehr.«13 Einmütig beschloß eine von rund 12000 Berliner Betriebsräten besuchte Vollversammlung am 11. August den Generalstreik in der Hauptstadt, der noch am gleichen Tag begann. Hauptforderungen waren die Sicherung der Lebensmittelversorgung und der Rücktritt des Reichskanzlers Cuno. Als 3,5 Millionen Arbeiter und Angestellte auch über Berlin hinaus im Streik standen, beschloß die SPD, der Regierung das Vertrauen zu entziehen, und Cuno mußte am 12. August seine Demission einreichen. So erhielt seine Abdankung den Ausdruck eines Regierungsaktes, statt eines Weichens vor dem entschlossenen Teil der Arbeiterklasse.

Angesichts der revolutionären Stimmung unter großen Teilen der Arbeiterschaft sah die Bourgeoisie die Notwendigkeit, die Sozialdemokratie in eine Regierung der großen Koalition einzubinden. Neuer Reichskanzler und zugleich Außenminister wurde am 13. August der Führer der wirtschaftsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), Gustav Stresemann. Die SPD, aus deren Fraktion 43 Abgeordnete des von Paul Levi geführten linken Flügels gegen die Regierungsbildung votierten, übernahm im zwölfköpfigen Kabinett das Innen-, Finanz- und Justizministerium und den Posten des Vizekanzlers. Die Streikbewegung wurde durch die psychologische Wirkung der stark in der Regierung vertretenen Sozialdemokratie sowie eine überraschende Bereitschaft von Industrie und öffentlichen Betrieben zu großzügigen Lohnerhöhungen ihrer politischen und ökonomischen Motive beraubt und abgebrochen. »Kampfpause, nicht Kampfabschluß« titelte die Rote Fahne am 15. August.

Jetzt erst begannen auf einer Politbürositzung der russischen KP in Moskau ab dem 21. August die konkreten Planungen für einen »deutschen Oktober«. »Die kommenden Ereignisse werden bestätigen, wie recht Genosse Lenin mit seinem wiederholten Ausspruch hatte, daß es den deutschen Arbeitern schwerer werden wird, den sozialistischen Umsturz zu beginnen, aber leichter, ihn siegreich zu Ende zu führen«, heißt es in einer von Sinowjew verfaßten Lageeinschätzung, »Die Krise reift heran. Der Einsatz ist ungeheuer. Es naht der Augenblick, wo eines vonnöten sein wird: Kühnheit, Kühnheit und nochmals Kühnheit.«14

 

 

1 Zit. nach Werner T. Angress: Stillborn Revolution. Die Kampfzeit der KPD 1921–1923, Wien 1973, S. 317

2 Clara Zetkin: Um Deutschlands nationales Lebensrecht, in: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, S. 662

3 Zit. nach Arthur Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1980 [1935], S. 129

4 Ebd., S. 135

5 Vgl. Clara Zetkin: Der Kampf gegen den Faschismus, in: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. II, S. 689, 692 u. 725

6 Inprekorr (Internationale Pressekonferenz) Nr. 108, 1923, S. 931 f.

7 Zit. nachWerner T. Angress: Stillborn Revolution, a. a. O., S. 375

8 Bernhard Bayerlein u.a. (Hg.): Deutscher Oktober 1923. Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, S. 95

9 Arthur Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, a.a.O., S. 136

10 Bernhard Bayerlein u.a. (Hg.): Deutscher Oktober 1923, a.a.O., S. 19

11 Ebd., S. 92

12 Ebd., S. 100

13 Ebd., S. 106

14 Ebd., S. 104