junge Welt 26.01.2008 / Geschichte /


Streik gegen Krieg

Die Arbeitsniederlegungen vom Januar 1918 – Generalprobe der Novemberrevolution

Von Nick Brauns

Seit Dezember 1917 verhandelten die durch die Oktoberrevolution an die Macht gekommenen russischen Bolschewiki in Brest-Litowsk mit dem deutschen Kaiserreich und seinen Verbündeten über einen Separatfrieden. Doch die deutsche Delegation forderte von Rußland große Gebietsabtretungen, um die Kriegsziele des deutschen Imperialismus im Osten zu verwirklichen. Der Volkskommissar für das Äußere Leo Trotzki nutzte die Friedensverhandlungen als Tribüne für flammende Appelle an die Arbeiter Europas. Diese Rufe verhallten nicht ungehört. Am 15. Januar 1918 begann in Wiener Neustadt ein politischer Massenstreik für Frieden und Demokratisierung, der sich über die ganze Habsburger-Monarchie bis nach Budapest und Prag ausdehnte.

Die österreichische Streikwelle fand Mitte Januar ein Echo in Deutschland. Die aus Gegnerschaft zu deren Kriegspolitik von der SPD abgespaltene Reichstagsfraktion der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD, gegründet im April 1917) erließ eine Deklaration an die Arbeiterschaft, in der sie sich allerdings nicht traute, offen zum Streik aufzurufen: »Es ist keine Zeit zu verlieren. Nach allen Schrecken und Leiden droht neues schwerstes Unheil unserem Volke, der gesamten Menschheit. Nur ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, kann uns davor retten. Die Stunde ist gekommen, eure Stimme für einen solchen Frieden zu erheben. Ihr habt jetzt das Wort.«

SPD unerwünscht


Die Initiative lag nun bei der Bewegung der radikal-sozialistischen »revolutionären Obleute« in den Großbetrieben. Auf Antrag von deren Vorsitzendem Richard Müller beschlossen Delegierte der Berliner Betriebe am 27. Januar die Ausrufung des Generalstreiks. Am folgenden ersten Streiktag konstituierten sich 414 gewählte Betriebsvertrauensleute im Gewerkschaftshaus am Engelufer als Groß-Berliner Arbeiterrat. Unter Vorsitz Richard Müllers wurde ein elfköpfiger Aktionsausschuß gebildet, zu dem die USPD-Reichstagsabgeordneten Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann sowie von der SPD Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun hinzugezogen wurden. Die marxistische Spartakus-Gruppe innerhalb der USPD kritisierte den Beitritt von SPD-Vertretern zu den Streikkomitees scharf. »Sorgt dafür, daß die Gewerkschaftsführer, die Regierungssozialisten und andere ›Durchhalter‹ unter keinen Umständen in die Vertretungen gewählt werden. Heraus mit den Burschen aus den Arbeiterversammlungen! Diese Handlanger und freiwilligen Agenten der Regierung, diese Todfeinde des Massenstreiks haben unter den kämpfenden Arbeitern nichts zu suchen.«

Von Groß-Berlin, wo eine halbe Million Arbeiter die Arbeit niedergelegt hatte, griff die Bewegung auf Kiel, Hamburg, Leipzig, Braunschweig, Köln, Breslau, München, Nürnberg, Mannheim, Magdeburg, Halle, Bochum, Dortmund und andere Städte über. Eine Million Arbeiter insbesondere der Rüstungsbetriebe, Werften und Zechen standen im Streik gegen Krieg und Militärdiktatur. Ihre Forderungen waren die schnelle Herbeiführung eines Friedens ohne Annexionen, die Hinzuziehung von Arbeitervertretern aller Länder zu Friedensverhandlungen, eine tiefgreifende Demokratisierung des Staates, die Aufhebung des Belagerungszustandes und des Hilfsdienstgesetzes zur Arbeitsverpflichtung in der Rüstungsindustrie, politische Amnestie und bessere Lebensmittelversorgung.

Auf Druck der Obersten Heeresleitung unter General Ludendorff lehnte die Regierung jegliche Verhandlungen mit den Streikenden ab und verlangte deren vollständige Unterwerfung. Berittene Polizei ging in Berlin mit blankem Säbel gegen Demonstranten vor und schoß in die Menge. Am Alexanderplatz, in Charlottenburg und in Moabit kam es zu blutigen Auseinandersetzungen mit mehreren Toten. Am Abend des 31. Januar wurde über Berlin der verschärfte Belagerungszustand mit außerordentlichen Kriegsgerichten verhängt. Der kommandierende General stellte am 1. Februar sieben Berliner Großbetriebe, darunter Borsig und AEG in Hennigsdorf, unter militärisches Kommando und befahl die Wiederaufnahme der Arbeit bis zum 4. Februar um sieben Uhr früh. Es kam zu Massenverhaftungen, darunter des Führers der Spartakus-Gruppe Leo Jogiches sowie des Reichstagsabgeordneten Dittmann. Die Leitungen der Großbetriebe stellten Namenslisten politisch aktiver Arbeiter zusammen, die anschließend zu Tausenden zum Kriegsdienst an die Front geschickt wurden.

Spartakus unterliegt


Die Reichstagsmehrheit um die SPD kuschte vor den Stiefeln des Militärs, anstatt sich mit ihrer Friedensresolution an die Spitze der Streikbewegung zu stellen. Während die zahlenmäßig noch schwache und nicht als eigenständige Partei organisierte Spartakus-Gruppe das Weitertreiben des Streiks bis zum Aufstand forderte, verhinderten die SPD-Vertreter in den Streikkomitees eine Ausweitung und die Radikalisierung der Forderungen. Insbesondere war es so nicht möglich, die Truppe auf die Seite der Streikenden zu ziehen.

Am 3. Februar beschloß der Aktionsausschuß den Abbruch des sechstägigen Massenstreiks. Der marxistische Historiker Arthur Rosenberg urteilte später: »Wäre der Kampf nur von Spartakus und USPD, unter bewußter Ausschaltung der Mehrheitssozialisten geführt worden, so hätte sich sein Charakter völlig geändert. Es wäre dann eine proletarische Klassenaktion sozialistischen Charakters und keine Friedensbewegung mit bürgerlich-demokratischen Zielen gewesen. Aber Spartakus konnte sich nicht durchsetzen. Im Aktionsausschuß saß die SPD und nicht der Spartakusbund. So sind die Grundfragen der Novemberrevolution bereits im Januarstreik enthalten.«

Vorerst hatte General Ludendorff gesiegt. Doch zahlreiche Arbeiter zogen aus dieser Generalprobe für die kommende Revolution die Lehre, im Kampf um Frieden und Demokratisierung nicht mehr auf die Reichstagsparteien, sondern allein auf die eigene Kraft zu vertrauen. Der als »geistiger Leiter und Organisator der Ausstandsbewegung« beim Münchner Munitionsarbeiterstreik zu neun Monaten Haft verurteilte bayerische USPD-Vorsitzende Kurt Eisner gelangte damals zu der Erkenntnis, daß die Sozialdemokratie »eine bis zur Komik getreue Volksausgabe des Staates, in dem sie lebt«, darstellt und ihre Funktionäre eine »beispiellos unfähige und verdächtig zersetzende Führung, die sich unmäßig weise in ihrer illusionsfreien Realpolitik dünkt«. Notwendig sei eine Emanzipation der Arbeiter von diesen Führern und ihre Selbstorganisation auf Betriebsebene, forderte Eisner, der vor dem Krieg dem rechten Parteiflügel der SPD angehört hatte. »Sie dürfen sich nicht vertreten lassen, von niemandem.«

Wie recht Eisner hatte, belegen die Äußerungen führender Sozialdemokraten nach dem Krieg. Er sei mit der Absicht in die Streikleitung eingetreten, den Streik zum schnellsten Abschluß zu bringen und eine Schädigung des Landes zu verhüten, versicherte Reichspräsident Friedrich Ebert 1925 vor Gericht, nachdem er von einem rechten Journalisten wegen seiner Teilnahme am Januarstreik des Landesverrats bezichtigt worden war. Und Philipp Scheidemann ergänzte: »Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären, dann wäre der Krieg und alles andere nach meiner festen Überzeugung schon im Januar erledigt gewesen.«

Quellentext: Flugblatt der Spartakus-Gruppe

Ausharren!

Die Machthaber wollen nicht den Frieden. Nicht nur mit dem »äußeren Feind« wollen sie ihn nicht, auch gegen das deutsche Volk selbst wollen sie Krieg führen. (...)

Man konnte voraussehen, daß alle Verhandlungen mit der Regierung zwecklos sind, nur ein Tor kann noch von ihr etwas erwarten. Aber es galt, dies den Arbeitermassen, dem ganzen deutschen Volke vor Augen zu führen. Die Weigerung der Regierung hat alle Zweifel zerstreut.

Nun gilt es nicht zu verhandeln, sondern zu handeln!

Arbeiter in den militarisierten Betrieben! Keiner von euch darf dem Ukas des Oberkommandos Folge leisten. Hinter euch steht die gesamte Berliner Arbeiterschaft. (...) Der Segen kommt nicht von oben, er liegt in den Massen selbst, in ihrem unmittelbaren Kampfe. Die Entscheidung über den Ausgang unseres Kampfes wird nicht am Verhandlungstisch, nicht im Aktionsausschuß und sogar nicht im Arbeiterrat, sondern einzig und allein auf der Straße fallen.

Der Arbeiterrat ist von Polizeibütteln gesprengt, der Aktionsausschuß wird verfolgt, um die Leitung der Bewegung unmöglich zu machen. Den Gewaltakten der Polizei muß rücksichtslosester, hartnäckiger Widerstand mit allen Mitteln geleistet werden. Die noch arbeitenden Betriebe müßten um jeden Preis stillgelegt werden und der Straßenbahnverkehr eingestellt werden. Vor allem aber sucht durch alle Mittel unsere Brüder im Waffenrock, das Heer für die Sache des Friedens und der Freiheit zu gewinnen. Die Gewaltherrschaft stützt sich auf die Bajonette und ist verloren, sobald sie ihr aus der Hand gewunden sind.

Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! Hoch der Kampf um Frieden, Freiheit, Brot!




aus: Harald von Königswald: Revolution 1918, Breslau 1933, S. 34