Junge Welt Wochenendbeilage 24.12.2003
Am Nerv der Zeit
Die erste Gesamtdarstellung der Roten Hilfe Deutschlands hat gleich das Zeug zum Standardwerk.
Ein vorzügliches Buch von Nick Brauns
Rote Hilfe Deutschlands – bei der Nennung dieses Namens
reagieren selbst Historiker, deren Fachgebiet die Weimarer Republik oder das
›Dritte Reich‹ ist, mit fragenden Blicken. Heute ist diese Organisation, deren
proletarische Mitgliederzahl Hunderttausende umfaßte und zu deren Unterstützern
so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Wilhelm Pieck und Herbert Wehner,
Erich Mühsam und Kurt Tucholsky, Albert Einstein und Thomas Mann gehörten, in Vergessenheit
geraten. Zu Unrecht.« So beginnt Nikolaus Brauns sein vorzügliches Buch über
die Rote Hilfe. Tatsächlich findet die Rote Hilfe selbst in einschlägigen
westdeutschen Arbeiten zu den sozialen Bewegungen im Weimarer Deutschland kaum
Erwähnung – z. B. nicht bei dem rechtssozialdemokratischen Historiker Heinrich
August Winkler – oder sie fristet allenfalls eine marginale Existenz, was bei
einer »politischen Sozialgeschichte« des Kommunismus von Klaus Michael Mallmann
um so mehr verwundern muß. Historiker der DDR (Gerlinde Grahn, Siegfried
Bresler, Christine Hoffmeister, Günter König, Heinz Werner, Johannnes Zelt) und
der Sowjetunion (A. I. Awrus, I. G. Banitschenko) haben Studien über einzelne
Aspekte der Roten Hilfe vorgelegt, aber ebenfalls keine Gesamtdarstellung.
Einzig Hartmann Wunderers Untersuchung »Arbeitervereine und Arbeiterparteien«
von 1980 enthielt eine kurze Überblicksdarstellung über die organisatorische
Entwicklung der Roten Hilfe, und 1996 hat die Neugründung Rote Hilfe e.V. einen
Geschichtsüberblick publiziert, der die Tätigkeit der gegenwärtigen
Organisation dieses Namens einbezieht.
Nachdem 2002 die Arbeit von Heinz Jürgen Schneider, Erika Schwarz und Josef
Schwarz über die Rechtsanwälte der Roten Hilfe erschienen ist, stellt Brauns
nun veröffentlichte Dissertationsschrift die erste auf die Auswertung der
relevanten Archivquellen gestützte wissenschaftliche Monographie zum Thema dar.
Sie umgreift die 1919 bis 1923 wirkenden Vorläufer und die 1924 gegründete Rote
Hilfe Deutschlands, die in der Nazizeit bis 1938 tätig war. Nick Brauns
schließt nicht nur eine Lücke, er hat ein für heutige und künftige Historiker
der deutschen Arbeiterbewegung unentbehrliches Standardwerk geschaffen. Es ist
gründlich recherchiert und präsentiert eine beeindruckende Materialfülle, die
der Autor aus mehr als einem halben Dutzend Archiven ausgegraben hat. Es ist
zeitlich und sachlich gut aufgebaut und für eine wissenschaftliche Monographie
gut lesbar geschrieben. Der Pahl-Rugenstein Verlag präsentiert es in angemessener
Form als großformatigen Band in leuchtend rotem Einband, ausgestattet mit über
300 Abbildungen und Faksimiles.
Die Weimarer Republik basierte auf dem Sieg der Konterrevolution im Januar
1919. Noskes Schießbefehl fielen allein in Berlin über tausend Arbeiter zum
Opfer. Während in dieser Republik die Mörder von Luxemburg und Liebknecht, die
Freikorpsterroristen, die Fememörder und Putschisten von Kapp und Lüttwitz
straffrei ausgingen, saßen die Räterepublikaner zu Tausenden in Gefängnissen
und Zuchthäusern. Zu ihrer Unterstützung entstanden 1919 erste Komitees bei der
USPD und den revolutionären Obleuten. Aus ihnen gingen 1921 die ersten
Rote-Hilfe-Komitees hervor, die sich 1924 zur Roten Hilfe Deutschlands (RHD)
zusammenschlossen, nachdem 1922 auf Initiative von Willi Münzenberg und auf
Beschluß des IV. Kongresses der Komintern die Internationale Rote Hilfe (MOPR)
gegründet worden war.
Die Rote Hilfe Deutschlands war eine überparteiliche Massenorganisation der
deutschen Arbeiterklasse, die 500 000 Mitglieder vereinigte und darüber hinaus
viele prominente Unterstützer aus Kultur und Wissenschaft sowie etwa 300
Anwälte unterschiedlicher politischer Position als Nichtmitglieder um sich
scharte. Obwohl die organisatorische Initiative von der KPD ausging, bezog die
RHD in ihre Hilfeleistungen auch Sozialdemokraten und parteilose Linke ein.
Braun beschreibt die Arbeitsweise der Roten Hilfe anhand zweier
unterschiedlicher Wirkungsweisen. Einmal führte sie große öffentliche Kampagnen
für die Freilassung von Erich Mühsam, Max Hoelz, Richard Scheringer aus
deutscher Haft, für die Rettung von Sacco und Vanzetti vor dem elektrischen
Stuhl in den USA, für die Freilassung politischer Gefangener in faschistischen
Ländern wie Italien oder reaktionären Diktaturen wie Bulgarien und Ungarn
durch. Zum anderen organisierte ihr zahlenmäßig sehr kleiner Arbeitsstab mit
vielen vielen ehrenamtlichen Helfern die kontinuierliche Unterstützung für die
Gefangenen und ihre Familien, angefangen vom Sammeln der Spenden bzw. der Unterschriften
für die Vollamnestie über die juristische und persönliche Betreuung politischer
Gefangener durch Besuche und Briefe bis hin zu Gedenkveranstaltungen für
gefallene revolutionäre Kämpfer. Nick Brauns analysiert und beschreibt
sorgfältig alle diese Tätigkeitsfelder. Doch er untersucht nicht nur die
politischen Aufgabengebiete, er stellt die Rote Hilfe auch mitten hinein in die
widersprüchliche und komplizierte politische Sozialgeschichte der deutschen
Arbeiterbewegung jener Jahre.
Die Rote Hilfe ist untrennbar mit der politischen Strafjustiz der Weimarer
Republik verbunden, gegen die sie ankämpfte. Zu ihrer täglichen Kleinarbeit
gehörten Rechtsschutz und Prozeßhilfe für politisch Verfolgte durch Anwälte der
RHD, Aufklärung und Unterstützung der Angehörigen und die Ausbildung und
Schulung revolutionärer Proletarier für ihre Selbstverteidigung. In allen Orts-
und Betriebsgruppen der Roten Hilfe wurden Rechtsschutzkommissionen gegründet.
Ihnen gehörten auch Mitglieder anderer proletarischer Organisationen an. Diese
Kommissionen sammelten, unabhängig oder zusätzlich zu der Hinzuziehung von
Anwälten, Beweismaterial, ermittelten Entlastungszeugen. 1928 konnte die Rote
Hilfe Deutschlands 18 000 Inhaftierten und ihren Angehörigen rechtlichen,
finanziellen und moralischen Beistand leisten und 27 000 Menschen Rechtsschutz
geben.
Ein besonders sensibler Bereich war die Hilfe für die Kinder der verfolgten und
inhaftierten Arbeiter. Die RHD unterhielt zwei Heime, einmal das 1923 eröffnete
Kinderheim Barkenhof in Worpswede, das ihr der Maler Heinrich Vogeler
übereignet hatte, und seit 1925 das Arbeiterkinderheim der MOPR in Elgersburg
im Thüringer Wald.
Der Kampf der Roten Hilfe gegen die Polizei- und Justizwillkür der Weimarer
Republik, gegen die Beschneidung der bürgerlichen Grundrechte, für ein echtes
und wirkungsvolles Asylrecht und gegen ein politisches Strafrecht, das extra
zur Abstrafung sozialistischer, kommunistischer und demokratischer Gesinnung
geschaffen und eingesetzt wurde, ist nicht nur von historischem Interesse. Die
schändliche Haltung der SPD-Führung zur Frage einer vollen Amnestie für
Tausende proletarische Gefangene findet eine aktuelle Parallele in der
schmachvollen Kapitulation der PDS vor der heutigen Rachejustiz des Kapitals,
für die die politischen Gefangenen der ehemaligen Staatspartei des Sozialismus
auf deutschem Boden abgeschrieben sind. Mögen sie doch im Gefängnis verfaulen.
Inwieweit eine sozial emanzipatorische Bewegung ihrem programmatischen Anspruch
entspricht, zeigt sich exemplarisch am Verhalten zu ihren eingekerkerten
Genossen.
Werner Röhr