Aus: junge Welt vom 13.6.2018
Zwischen Putsch
und Guerilla
Die türkische 68er-Bewegung kämpfte für Unabhängigkeit
und Sozialismus. Eine ihrer Schwächen war ihr Glaube an das revolutionäre
Potential der Armee
Von Nick Brauns
Am 27. Mai 1960 beendete ein Militärputsch die zehnjährige Herrschaft der
konservativen Demokratischen Partei in der Türkei. Die jungen Offiziere
verstanden ihren Erhebung als Akt der Verteidigung des kemalistischen Erbes der
Republik gegen die undemokratischen Praktiken der Regierung von Adnan Menderes,
die einseitig die Großgrundbesitzer und religiöse Netzwerke gefördert hatte.
Die Junta ließ Menderes hinrichten und eine neue liberale Verfassung
ausarbeiten. Erstmals waren in der Türkei demokratische ebenso wie soziale
Rechte einschließlich des Rechts auf Arbeit garantiert. Damit verbanden die
zivile und die militärische kemalistische Bürokratie und die hinter ihr
stehenden Kapitalfraktionen die Intention, fortan ihre Pfründe und Privilegien
durch die Ausweitung ihrer Herrschaftsbasis auf größere städtische Schichten
einschließlich der Arbeiterklasse zu sichern – gegenüber den ländlichen
Mehrheiten, auf die sich die durch die Demokratische Partei repräsentierten
Fraktionen der herrschenden Klassen gestützt hatten.
Aufschwung der Linken
Für die Linke, die nach
dem Verbot der Kommunistischen Partei der Türkei (Türkiye
Komünist Partisi, TKP)
Mitte der 1920er Jahre zu einem einflusslosen Dasein im Untergrund, in
Gefängnissen oder im Exil verdammt war, brach nun eine neue Zeit an. Die Türkei
trat in eine zwei Jahrzehnte währende Periode ein, in der fast jede Form des
Klassenkampfes von der Fabrikbesetzung bis zum Guerillakampf erprobt wurde. Der
Aufschwung der Linken und der Arbeiterbewegung muss vor dem Hintergrund eines
sozioökonomischen Wandlungsprozesses gesehen werden, in dem das Vordringen
kapitalistischer Produktionsverhältnisse die feudal geprägten
Gesellschaftsstrukturen immer stärker untergrub.
Im Februar 1961 gründete
ein Dutzend Gewerkschaftsaktivisten aus Istanbul die Arbeiterpartei der Türkei
(Türkiye İsci Partisi, TIP). Über deren Wahlwerbung im Radio erreichten
erstmals in der Geschichte des Landes sozialistische Ideen die Massen. Ihren
Durchbruch erzielte die TIP bei den Parlamentswahlen im Oktober 1965, als sie
aus dem Stand heraus mit 270.000 Stimmen – das entsprach drei Prozent – 15
Abgeordnete in das 450köpfige Parlament entsenden konnte. Die Türkei stehe »vor
zwei miteinander verknüpften Herausforderungen: dem erneuten Kampf für
Unabhängigkeit und dem Aufbau des Sozialismus«, verkündete der
Parteivorsitzende Mehmet Ali Aybar auf dem 2.
Parteikongress 1966. Trotz ihrer revolutionären Rhetorik setzte die Partei auf
eine rein parlamentarische Orientierung. »Heute ein Revolutionär in der Türkei
zu sein, bedeutet, die Verfassung zu verteidigen und sie zur Angelegenheit des
Volkes zu machen, denn die Verfassung ist ihrer Natur nach revolutionär«,
erklärte Aybar.
Studenten aus dem Umfeld
der TIP gründeten im Herbst 1965 die »Föderation der Ideenklubs«, die an den
großen Universitäten in Ankara, Istanbul, Izmir und Trabzon schnell Zulauf
bekam. Standen Mitte der 1960er Jahre noch universitäre Probleme wie eine
Erhöhung der Studiengebühren im Mittelpunkt studentischer Proteste, so rückten
bald der Antiimperialismus und die wirtschaftliche Unterentwicklung in den
Vordergrund. Dabei nutzten Studierende die ihnen durch die Verfassung
garantierte Autonomie der Universitäten als sicheren Hort für politische
Aktivitäten.
Maßgeblichen Einfluss
auf die Studentenbewegung erlangte Mihri Belli, ein Veteran der kommunistischen Bewegung, der in den
1940er Jahren dem Zentralkomitee der illegalen TKP angehört und als Partisan im
griechischen Bürgerkrieg (1946–1949) gekämpft hatte. Diese Vergangenheit machte
Belli, der in den 1950er Jahren mit der TKP und ihrer
Auslandsführung im Leipziger Exil gebrochen hatte, zu einer Autorität unter den
linken Studenten. 1966 entwickelte er in der einflussreichen Zeitschrift Yön(Richtung), die linkskemalistische und
sozialistische Intellektuelle um die Idee eines »türkischen Sozialismus« als
dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus versammelte, das Konzept der
Nationaldemokratischen Revolution (Milli Demokratik Devrim, MDD). Im Unterschied zur TIP-Führung sah Belli in der Türkei kein kapitalistisches, sondern ein
halbkoloniales und halbfeudales Land, das noch nicht reif für eine
sozialistische Revolution sei. Die zentralen Ziele seien daher Erlangung
nationaler Unabhängigkeit und Liquidation des Feudalismus. Mit der Forderung,
dass die »Schicht der Intellektuellen in Armee und Zivilleben« in Form einer
revolutionären Junta die Macht übernehmen sollte, zielten die MDD-Anhänger
letztlich auf einen erneuten Militärputsch. Belli
bezeichnete sich selbst allerdings nicht als Nationalrevolutionär. »Wir sind
Revolutionäre, die eine soziale Revolution durchführen wollen – nicht in der
gegenwärtigen Etappe, aber danach. Wir sind proletarische Revolutionäre«.
Militante Praxis
Das MDD-Konzept erlangte
unter Jugendlichen und Intellektuellen nicht nur als ideologische Strömung
Einfluss, sondern trug in der Studentenbewegung zum Entstehen einer zunehmend
militanten Praxis bei – zum Leidwesen der parlamentarisch orientierten
TIP-Führung, die auf friedlichen Widerstand drängte und daher an Einfluss
innerhalb der Ideenklubs verlor. Insbesondere die Besuche der 6. US-Flotte in
Istanbul lösten ab 1967 regelmäßig Proteste aus, bei denen US-Matrosen mit
Eiern beworfen und ihnen die Mützen weggerissen wurden. Mit einem Marsch von
Istanbul nach Ankara protestierten Schüler und Studenten im November 1967 gegen
die Ausweitung privater Schulen. Im April 1968 fanden in Istanbul und Ankara
erste Universitätsbesetzungen statt, und es bildeten sich Studentenräte zur
Koordination der Proteste. Inspiriert wurden die Besetzer von den in türkischen
Medien breit rezipierten Ereignissen des Mai 1968 in Frankreich. Anders als in
Westeuropa mussten die Studenten in der Türkei bei der Besetzung der
Universitäten keine staatliche Repression befürchten. Denn ihre Proteste
genossen die Protektion der Justizbürokratie, die sich als Bewahrerin des
Geistes der Verfassung von 1961 verstand. Die bis ins konservative Lager hinein
als legitim empfundenen Studentenproteste konnten die Universitätsleitungen in
den meisten Fällen tatsächlich zu Reformen bewegen.
Die so deutlich
gewordene Verwundbarkeit der Regierung gegenüber einer gutorganisierten
sozialen Bewegung ermutigte 1968 auch andere gesellschaftliche Gruppierungen,
ihre Forderungen in militanter Weise zu stellen. »Durch Universitätsbesetzungen
wurden die Arbeiter ermuntert, die Fabriken zu besetzen«, berichtete Harun
Karadeniz, einer der Studentenführer, mit Blick auf die Besetzung der
Reifenfabrik Derby. Mit der ersten Aktion dieser Art in der Geschichte der
Türkei im Juli 1968 konnte die schon seit Wochen erfolglos streikende
Belegschaft ihre Tarifforderungen durchsetzen. In einer Braunkohlemine im
Nordwesten der Türkei führten Bergarbeiter einen Monat lang die Produktion
unter Arbeiterkontrolle fort, bis die Militärpolizei einschritt. Die Studenten
solidarisierten sich auch mit den im folgenden Jahr stattfindenden
Landbesetzungen armer Bauern, die eine Neuverteilung von Staatsland forderten
und gegen niedrige Ankaufpreise der Regierung für landwirtschaftliche Produkte
sowie den Kreditwucher privater Geldverleiher protestierten. Dass sich
Studenten, die einen elitären Status in der Gesellschaft genossen, an ihren
Protesten beteiligten, gab den Bauern das Gefühl, über einen größeren Schutz
vor Übergriffen der Militärpolizei zu verfügen. Auch in der kemalistischen
Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) wurden die
Zeichen der Zeit verstanden. »Diese Ordnung muss verändert werden. Sie sollte
ersetzt werden durch eine andere, unter der ehrliche Leute unter menschlichen
Bedingungen leben können«, stellte sich CHP-Generalsekretär Bülent Ecevit
hinter die Protestbewegungen der Studenten, Bauern und Arbeiter und gab seiner
Partei eine stärker sozialdemokratische Orientierung.
Zur Radikalisierung der
Studentenbewegung trugen die Gewalt des Staates und Übergriffe faschistischer
Gruppen bei. Nach Protesten gegen den US-Flottenbesuch in Istanbul stürmte die
Polizei am 24. Juli 1968 ein Studentenwohnheim. Dabei wurde der Jurastudent Vedat
Demircioglu aus einem Fenster gestoßen. Als die 6. US-Flotte Anfang 1969 erneut
in Istanbul ankerte, fand am Sonntag, dem 16. Februar, ein Marsch von rund
10.000 Studenten und Arbeitern »gegen Imperialismus und Ausbeutung« statt. Am Beyazit-Turm, wo die Demonstration begann, war zuvor ein
Bild des getöteten Studenten Demircioglu aufgehängt worden. Die rechte Presse
machte daraus ein »Hissen der kommunistischen Fahne«, der »Verein zur
Bekämpfung des Kommunismus« und die kurz zuvor gegründete faschistische Partei
der Nationalistischen Bewegung (Milliyetci Hareket Partisi, MHP) riefen dazu
auf, die Demonstration anzugreifen. Als die ersten Tausend Menschen den Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls erreicht hatten, riegelte
die Polizei die Straßen ab, ermöglichte es aber zugleich, den mit Messern,
Ketten und Knüppeln bewaffneten Faschisten und Islamisten, die unbewaffneten
Demonstranten zu attackieren. Zwei Demonstranten wurden getötet. Für die
Studentenbewegung in der Türkei stellten Demircioglus
Tod sowie der »blutige Sonntag« vergleichbare Wendepunkte dar, wie für die
Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik die Erschießung Benno
Ohnesorgs durch einen Polizisten am 2. Juni 1967. Gewalt wurde nun als Mittel
der Selbstverteidigung sowie als politische Handlungsoption mehr und mehr
akzeptiert.
Spaltung und Fraktionierung
Die TIP-Führung ging
offen auf Distanz zu den protestierenden Studenten und warnte, es könne
aufgrund ihrer Aktivitäten »zum Faschismus kommen«. TIP-Anhänger wurden
daraufhin aus der Föderation der Ideenklubs gedrängt, die gänzlich der Dominanz
der MDD-Strömung anheimfiel. Auf ihrem 4. Kongress im Oktober 1969 öffnete sich
die Vereinigung für Nichtstudierende und benannte sich in »Föderation der
revolutionären Jugend der Türkei« (Türkiye Devrimci Genclik Dernekleri Federasyonu, Dev-Genc) um. Erklärtes Ziel der Dev-Genc,
die Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Zedong, Fidel Castro und Che Guevara als ideologische Leitfiguren benannte, war »die
Entwicklung von Theorie und Praxis im Kampf des Volkes für die
nationaldemokratische Revolution und gegen den Imperialismus und die Überreste
des Feudalismus«.
Die Wandlung zu einer
parteiähnlichen Formation verschärfte die internen ideologischen
Auseinandersetzungen, es kam zu zahlreichen Fraktionierungen. Zwischen 1968 und
1971 entstanden so mehr als ein halbes Dutzend neuer sozialistischer
Vereinigungen aus der revolutionären Jugendbewegung. Dabei fanden die großen
Themen der internationalen sozialistischen Bewegung – vom
sowjetisch-chinesischen Konflikt über die Guerillakämpfe in Lateinamerika bis
zur Niederschlagung des »Prager Frühlings« ihren Widerhall. Von den
»Proletarischen Revolutionären« Bellis spalteten sich
1970 die »Proletarischen Sozialisten« um Dogu Perincek ab, die einem kemalistisch
eingefärbten Maoismus huldigten.¹
Zur Fraktionierung kam
es ab 1968 auch innerhalb der TIP. Ohne Rücksprache mit der Parteiführung hatte
Aybar den sowjetischen Einmarsch in der
Tschechoslowakei verurteilt. Dem Sowjetkommunismus stellte Aybar
einen »demokratischen Sozialismus« gegenüber, der Elemente der bürgerlichen
Demokratie etwa ein parlamentarisches Mehrparteiensystem enthalten müsse.
Andere Vorstandsmitglieder wie die Soziologiedozentin Behice
Boran und der Ökonom Sadun Eren bezichtigten Aybar daraufhin des unwissenschaftlichen Populismus. Bei
den Parlamentswahlen im Oktober 1969 verlor die TIP 35.000 Stimmen und kam nur
noch auf 2,65 Prozent. Aufgrund einer Änderung des Wahlsystems reichte dies
gerade einmal für zwei Abgeordnetenmandate. Aybar
trat daraufhin als Vorsitzender zurück, sein Nachfolger wurde zunächst der
Kurde Mehmet Ali Aslan und auf dem 4. Parteikongress im Oktober 1970 Behice Boran. Die unter dem Einfluss Bellis
stehenden »Proletarischen Revolutionäre«, die eine Fraktion innerhalb der TIP
gebildet hatten, sahen sich in ihrer Kritik am parlamentarischen Weg zu
Sozialismus bestätigt. Die Parteiführung unter Boran reagierte mit einem
Unvereinbarkeitsbeschluss gegenüber der MDD-Ideologie, was Ende 1970 die
faktische Spaltung der Partei bedeutete. Der Verdienst der TIP war es, einige
Jahre lang die Schule für eine neue Generation junger Linker gewesen zu sein.
Eine echte Verwurzelung in der Arbeiterklasse hatte die Organisation trotz der
Herkunft ihrer Gründer aus der Gewerkschaftsbewegung allerdings nie. So
profitierte sie auch nicht von der Bildung der klassenkämpferisch orientierten
Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (Türkiye
Devrimci İsci Sendikaları Konfederasyonu,
DISK), die sich 1967 vom staatsnahen Gewerkschaftsdachverband Türk-Is
abgespalten hatte. Dafür erfuhr die Partei, die
entgegen der kemalistischen Staatsräson die Existenz einer kurdischen Nation
anerkannte, überdurchschnittliche Unterstützung durch kurdische und alevitische Wähler. Die von TIP-Anhängern gegründeten
»Revolutionären Kulturvereinigungen des Ostens« wurden zur Keimzelle der
späteren kurdischen Nationalbewegung.
Das Jahr 1970 bildete
den Höhepunkt der Arbeiterproteste. An offiziellen Ausständen beteiligten sich
mehr als 21.000 Fabrikarbeiter, Zehntausende weitere streikten wild. Mindestens
zehn Fabriken wurden besetzt. Zudem boykottierten Lehrer, die kein Streikrecht
besaßen, den Unterricht. Eine Gesetzesinitiative der konservativen Regierung,
die auf ein faktisches Verbot der Gewerkschaftsföderation DISK hinauslief,
löste Mitte Juni einen zweitägigen Aufstand von rund 150.000 Arbeitern aus, die
weite Teile Istanbuls unter ihre Kontrolle brachten. Die Proteste wurden erst
durch die Ausrufung des Kriegsrechts beendet. Das gewerkschaftsfeindliche
Gesetz wurde nach einer Verfassungsklage schließlich für ungültig erklärt.
Reaktionäres Militär
Nur eine Minderheit in
der sozialistischen Bewegung sah in den Junitagen die Bestätigung für die
klassische marxistische Position von der Arbeiterklasse als revolutionärem
Subjekt. Die Anführer der studentischen Revolutionäre, die sich an den
Arbeiterprotesten beteiligt hatten, nahmen die Errichtung der Militärkontrolle
über Istanbul vielmehr als Beleg für die dem Maoismus entlehnte These, dass die
Städte vom Land aus befreit werden müssten. Auf dem 5. Kongress der Dev-Genc im September 1970 wurde ein Strategiewechsel hin
zum bewaffneten Volkskampf beschlossen. Es gehört zur Tragik der türkischen
Linken, dass deren studentische Avantgarde sich just in dem Moment der Bildung
von Guerillaorganisationen zuwandte, als das Proletariat erstmals als
eigenständige Kraft die politische Bühne betrat.
Als der Generalstab am
12. März 1971 per Memorandum den Rücktritt der konservativen Regierung von
Süleyman Demirel erzwang, applaudierte fast die gesamte Linke einschließlich
des Gewerkschaftsbundes DISK. Die linken Illusionen in das »revolutionäre
Potential« der Armee wurden innerhalb weniger Tage zerstört: Dev-Genc und die Lehrergewerkschaft TÖS wurden verboten,
10.000 Gewerkschafter, Studenten und sozialistische Intellektuelle
festgenommen, viele gefoltert, das Streikrecht wurde ausgehebelt. Im Juli wurde
die TIP vom Verfassungsgericht verboten, und ihre Vorstandsmitglieder wurden zu
langjährigen Haftstrafen verurteilt. »Die soziale Bewusstwerdung hatte die
Möglichkeit unserer Ökonomie überschritten«, rechtfertigte einer der
Putschgeneräle Semih Sancar später das Eingreifen des Militärs. Die Linken, die
der kemalistischen Legende von der türkischen Armee als klassenneutraler Kraft
des Volkes aufgesessen waren, hatten ignoriert, dass das Offizierskorps durch
den 1962 geschaffenen Pensionsfonds der Streitkräfte (OYAK) mit Beteiligungen
an zahlreichen Unternehmen selbst zum Teil der herrschenden Klasse geworden
war. Statt »kemalistischer Ideale« verteidigten die
Generäle kapitalistische Interessen.
Aus der Dev-Genc waren zwei Guerillaorganisationen hervorgegangen,
die im Frühjahr 1971 den bewaffneten Kampf für die MDD aufnahmen. Die Aktionen
der Volksbefreiungspartei-Front der Türkei (Türkiye Halk Kurtulus Partisi-Cephesi,
THKP-C) und der Volksbefreiungsarmee der Türkei (Türkiye
Halk Kurtulus Ordusu, THKO)
beschränkten sich auf Banküberfälle und Entführungen, um die Revolutionskasse
aufzufüllen, sowie einige Anschläge auf US-amerikanische und britische
Einrichtungen. Ein THKP-C-Kommando tötete den entführten israelischen
Generalkonsul Ephraim Elrom in Istanbul. Die
THKO-Militanten Deniz Gezmis, Yusuf Aslan und Hüseyin
Inan, die bereits kurz nach dem Putsch in Gefangenschaft geraten waren, wurden
zum Tode verurteilt. Um sie freizupressen, entführte ein gemeinsames Kommando
von THKO und THKP-C unter Führung von Mahir Cayan
drei Techniker einer NATO-Radarstation. Die Guerillagruppe mit ihren Geiseln
wurde am 30. März 1972 im Dorf Kizildere in der
Provinz Tokat von der Armee umzingelt und kämpfte bis
zum letzten Schuss. Nur Ertugrul Kürkcü überlebte die
Bombardierung ihres Quartiers.² Am 6. Mai 1972 wurden die Todesurteile gegen Gezmis, Aslan und Inan im Zentralgefängnis von Ankara
vollstreckt. Vor seinem Tod am Galgen rief Gezmiş
die legendären Worte: »Es lebe die vollkommen unabhängige Türkei! Es lebe der
Marxismus-Leninismus! Es lebe der Unabhängigkeitskampf des türkischen und
kurdischen Volkes! Nieder mit dem Imperialismus! Es leben die Arbeiter und
Bauern!« Ibrahim Kaypakkaya,
der Gründer der maoistischen Kommunistischen Partei der
Türkei/Marxistisch-Leninistisch (Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist, TKP/ML), die ebenfalls den bewaffneten
Kampf aufgenommen hatte, wurde am 18. Mai 1973 im Alter von nur 24 Jahren im
Gefängnis von Diyarbakir ermordet. Politisch hatte sich der Guerillakampf als
Sackgasse erwiesen. Die Studentenbewegung hatte sich durch die Hinwendung zu
elitär-avantgardistischen und klandestinen
bewaffneten Konzepten von den Massenkämpfen isoliert. Am Ende waren ihre besten
und mutigsten Kader tot. Doch im Mythos der 68er-Bewegung wird die kurze Phase
des Guerillakampfes bis heute zu einem Höhepunkt des Klassenkampfes verklärt.
Strategie der Spannung
Der Samen, den die
68er-Generation gelegt hatte, ging in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auf.
Die heute als 78er-Generation bekannte Linke in der Türkei wurde zu einer
Massenbewegung mit Millionen Anhängern. Doch die in eine Vielzahl verfeindeter
Organisationen gespaltene Bewegung erwies sich als unfähig, der von der
Armeeführung und den faschistischen Grauen Wölfen mit Massakern und Anschlägen
vorangetrieben Strategie der Spannung eine gemeinsame Abwehrstrategie
entgegenzusetzen. Mit dem erneuten Militärputsch vom 12. September 1980 wurde
die sozialistische Linke weitgehend zerschlagen oder ins Exil getrieben. Doch
in den Bergen Kurdistans entzündete die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistane, PKK), deren Wurzeln ebenfalls in der Dev-Genc liegen, mit der Aufnahme ihres Guerillakampfes
1984 erneut die Flamme der Revolution.
Anmerkungen:
1 Heute ist Perincek Vorsitzender der ultranationalistischen
Vaterlandspartei, die der Erdogan-Regierung »antiimperialistische«
Rückendeckung gibt.
2 Kürkcü
wurde 2011 erstmals in Parlament gewählt und ist heute ein führender Politiker
der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP).