Junge Welt 10.07.2004 Wochenendbeilage

 

Marxismus durchgesetzt  

Vor 115 Jahren tagte in Paris der Gründungskongreß der Zweiten Internationale  

 

Am 14. Juli 1889 – auf den Tag genau 100 Jahre nachdem der Sturm auf die Bastille das Signal zur Großen Französischen Revolution gab – trafen sich in Paris Delegierte aus 20 Ländern zum Internationalen Sozialistenkongreß. Es war die Geburtsstunde eines neuen Zusammenschlusses von Arbeiterorganisationen, der als Zweite Internationale in die Geschichte einging.


1876 hatte sich die von Karl Marx und Friedrich Engels geleitete Internationale Arbeiter-Assoziation für aufgelöst erklärt. War diese Erste Internationale noch wesentlich ein Zusammenschluß kleiner Propagandazirkel mit dem Ziel, den Marxismus in der Arbeiterbewegung zu verankern, so bildeten sich in den folgenden Jahren in einer Reihe von Ländern sozialistische Parteien und gewerkschaftliche Organisationen. An der Spitze dieser Bewegung stand die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, deren Masseneinfluß trotz des Bismarckschen Sozialistengesetzes beständig wuchs. Bedeutende Streikbewegungen in Österreich, Frankreich, Rußland, die Arbeiterkämpfe von Chicago 1886, der englische Docker- und der deutsche Bergarbeiterstreik von 1889 zeigten einen weltweiten Aufschwung der Klassenkämpfe und die Notwendigkeit einer engeren internationalen Zusammenarbeit. Daher vereinbarten Vertreter europäischer sozialistischer Parteien am 28. Februar 1889 in Den Haag die Einberufung eines internationalen Arbeiterkongresses für Juli in Paris.


Friedrich Engels erklärte die Organisation dieses Kongresses schließlich zur Chefsache. Andere dringende Arbeiten, wie die Edition des dritten Bandes von Marx’ »Kapital« mußten dafür zurückgestellt werden. »Die Schreibereien und Laufereien wegen des verdammten Kongresses lassen mir keine Zeit zu etwas anderem. Es ist eine Schererei vom Teufel, nichts als Mißverständnisse, Krakeel und Verdrießlichkeit von allen Seiten, und dabei kommt bei der ganzen Sache schließlich nichts heraus«, schimpfte der »General«. Insbesondere die Possibilisten, eine in Frankreich starke, rein auf den ökonomischen Kampf orientierte Strömung der Arbeiterbewegung, machten Engels zu schaffen. Deren Ziel sei »Verkauf des Prinzips an die Bourgeoisie gegen Konzessionen im Detail und namentlich gegen gut bezahlte Posten für die Führer (Stadtrat, Arbeiterbörse) ...«. Doch der possibilistische Versuch, den Sozialistenkongreß zu kapern, um ihn ins gemäßigte Fahrwasser zu lenken, scheiterte. Französische Possibilisten und englische Trade-Unionisten veranstalteten nun parallel dazu ihren eigenen bedeutungslosen Kongreß.


Auf der Teilnehmerliste des Sozialistenkongresses fanden sich die Namen von rund 400 Delegierten, die rund 300 verschiedene Arbeiterorganisationen vertraten. Außer europäischen Sozialisten waren auch Vertreter aus Rußland, den USA und Argentinien sowie eines sozialistisch-anarchistischen Zirkels aus Ägypten anwesend. Die Delegierten repräsentierten fast eine Million organisierter Arbeiter, die für sozialistische Kandidaten gestimmt hatten. In Deutschland waren in mehr als 125 Versammlungen von Gewerkschaften und anderen Organisationen 81 Delegierte gewählt worden, darunter Eduard Bernstein, Clara Zetkin, Carl Legien und Georg von Vollmar. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion entsandte August Bebel und Wilhelm Liebknecht als Leiter der deutschen Delegation nach Paris. Friedrich Engels selbst blieb dem Kongreß fern, um sich wieder der Arbeit am »Kapital« zu widmen. »Es gibt zwei Dinge, die ich grundsätzlich nicht besuche: Kongresse und Ausstellungen«, scherzte Engels, der kein guter Redner war. Unter den russischen Delegierten befanden sich der »Vater des russischen Marxismus« Georgi Plechanow und Lenins spätere Mitstreiterin Vera Sassulitsch. Die Mehrzahl der Kongreßteilnehmer betrachtete sich als Marxisten. Doch eine Reihe von ihnen neigte auch dem Reformismus oder Anarchismus zu.


In großen Lettern prangten die Hauptlosungen des Kongresses im Saal: »Proletarier aller Länder, vereinigen wir uns!« und »Politische und wirtschaftliche Enteignung der Kapitalistenklasse. Vergesellschaftung der Produktionsmittel«. Der französische Sozialist Paul Lafargue eröffnete den Kongreß. »In diesem Saale sind die Apostel eines neuen Gedankens versammelt«, rief der Schwiegersohn von Karl Marx. »Ihr seid Brüder und habt nur einen Feind: das Privatkapital – sei es preußisch, englisch, französisch oder chinesisch.« Wilhelm Liebknecht und der französische Kommunarde Edouard Vaillant werden zu Vorsitzenden des Kongresses gewählt. Um größtmögliche Demokratie zu ermöglichen, wurde auf Bebels Initiative hin beschlossen, alle Kongreßsitzungen öffentlich zu veranstalten.

Der Kongreß setzte sich für eine internationale Arbeiterschutzgesetzgebung zur Regelung der Arbeitszeiten sowie der Frauen- und Kinderarbeit ein. Clara Zetkin sprach über die Lage der Arbeiterinnen unter dem Kapitalismus. Marx’ jüngste Tochter Eleanor übersetzte diese erste Rede der 32jährigen Zetkin vor großem Publikum.


Im Mittelpunkt aller Forderungen stand der Achtstunden-Arbeitstag. Der Kongreß beschloß, gleichzeitig in allen Ländern und Städten für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation für den Achtstundentag zu organisieren. Da der Amerikanische Arbeiterbund zum Gedenken an die Opfer des Massakers auf dem Haymarket von Chicago für den 1. Mai 1890 eine solche Kundgebung geplant hatte, übernahmen die Delegierten dieses Datum. Seitdem wird der 1. Mai weltweit als Kampftag der Arbeiterklasse für sozialen Fortschritt, Frieden und Sozialismus begangen.


Die Erhaltung des Friedens wurde »als die erste und unerläßliche Bedingung jeder Arbeiteremanzipation« bezeichnet. Da stehende Heere im Dienste der herrschenden oder besitzenden Klassen jeder demokratischen oder republikanischen Regierungsform feindlich gegenüberstehen und als Werkzeug reaktionärer Putsche und sozialer Unterdrückung fungieren, forderte der Kongreß deren Ersetzung durch die »bewaffnete Nation« in Form der allgemeinen Volksbewaffnung aller kriegstüchtigen Bürger. »Jeder hat sein Gewehr und seine Ausrüstung im Hause, wie in der Schweiz, um die öffentlichen Freiheiten und die nationale Sicherheit zu verteidigen«, hieß es in der Resolution. Den Delegierten war dabei bewußt, daß auch ein Milizsystem die Grundlagen des Krieges nicht endgültig beseitigen kann und »der Krieg, das traurige Produkt der gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse, erst verschwinden wird, wenn die kapitalistische Produktionsweise der Emanzipation der Arbeit und dem internationalen Triumph des Sozialismus Platz gemacht hat«.


Am Abend des 20. Juli 1889 wurde der Kongreß mit dem Gesang der Arbeiterhymne beendet. Am folgenden Morgen legten die Delegierten einen großen Kranz zum Gedenken an die Toten der Pariser Kommune von 1871 auf dem Friedhof Père Lachaise nieder.


Die Bezeichnung Zweite Internationale ist von Historikern geschaffen worden. Ein formeller Beschluß zu ihrer Gründung wurde nicht getroffen. Die Internationale, die unter Bezeichnungen wie Internationaler Arbeiterkongreß oder Sozialistenkongreß tagte, blieb lange eine lose Vereinigung von Parteien. Die Zusammenarbeit erfolgte über die Presse und persönliche Kontakte führender Sozialisten. Bis zu seinem Tod 1895 lief ein Großteil der internationalen Aktivitäten bei Friedrich Engels zusammen. Erst 1900 wurde mit dem Internationalen Sozialistischen Büro und seinem ständigen Sekretariat eine bindende Organisationsform geschaffen.


Der Pariser Sozialistenkongreß stand für die Durchsetzung des Marxismus innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung gegenüber anarchistischen und rechtsopportunistischen Auffassungen. Die 1889 geschaffene Internationale habe sich »in allen wesentlichen Punkten von Anfang an und fast kampflos auf den Boden des Marxismus gestellt«, rühmte Lenin später. »Die II. Internationale hat ein historisches Verdienst, weist eine Errungenschaft für immer auf, die der klassenbewußte Arbeiter niemals preisgeben wird: die Schaffung von Massenorganisationen der Arbeiter, von genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus wie aller Einrichtungen der bürgerlichen Demokratie überhaupt.«

 

Nick Brauns