junge Welt vom 10.06.2005

 

Feuilleton

Lenins großes Gesetz

Vom Minimal- zum Maximalprogramm: Abermals berieten Marxisten über die Aktualität der »Übergangsforderungen«, diesmal in Leipzig

Nick Brauns

 

Übergänge zum Sozialismus waren bereits Anfang letzten Jahres auf einer Tagung von Linken unterschiedlicher Tradition in Leverkusen das Thema. In der jungen Welt wurde der Streit unter »Stalinisten«, »Trotzkisten« und »Brandleristen« fortgesetzt, das eigentliche Thema »Übergangsforderungen« blieb dabei jedoch auf der Strecke. Eine vergangenen Sonnabend im Leipziger Liebknecht-Haus veranstaltete Konferenz griff nun erneut das Thema der Übergangsstrategie auf.

Im Unterschied zur Leverkusener Tagung, die das Thema vor allem historisch abhandelte, beabsichtigten die Einlader der Leipziger Konferenz – Arbeitskreis Marxistische Theorie und Politik Berlin-Brandenburg, Marxistisches Forum Leipzig und Marxistische Initiative München – das in der frühen Kommunistischen Internationale als zentral angesehene Konzept der Übergangsforderungen für unsere Zeit zu aktualisieren und erste konkrete Schritte zur Erarbeitung eines Übergangsprogramms für Deutschland zu formulieren.

Außer den Einladern beteiligten sich Anhänger der Gruppen Arbeiterpolitik und Arbeiterstimme, der internationalen sozialistischen Linken (isl), der DKP und PDS, des Marxistischen Dialogs und des RotFuchs an der vom stellvertretenden Leipziger PDS-Vorsitzenden Siegfried Kretschmar moderierten Beratung. DKP-Theoretiker Robert Steigerwald mußte aus terminlichen Gründen absagen.

Ohne DKP-Tricks

Übergangsforderungen aufzustellen, hieße den Charakter der Epoche als Epoche des Übergangs zum Sozialismus zu verwirklichen, ordnete Philosoph Peter Feist (Berlin) die Übergangsproblematik in einen größeren weltgeschichtlichen Zusammenhang ein. Weitgehende Einigkeit herrschte darüber, daß sich die Aktualität des Sozialismus aus Lenins Verständnis des Imperialismus als Epoche des »faulenden Kapitalismus« ergebe. Wie Ingo Wagner (Leipzig) ausführte, habe sich durch die Niederlage des realen Sozialismus und die Deformationen in der kommunistischen Weltbewegung allerdings das »Zeitfenster für die Aufhebung des Kapitalismus weiter geöffnet«.

Ein Übergangsprogramm sei eine historische Brücke zwischen den objektiven Voraussetzungen der sozialistischen Revolution und dem Proletariat und seiner Führung. Es führe das Minimalprogramm um Tagesinteressen wie höhere Löhne und bezahlbare Wohnungen mit dem Maximalprogramm des Kampfes für den Sozialismus zusammen. »Als Übergangsprogramm könnte man kurz das System von Übergangsforderungen zur Mobilisierung der Massen zwecks Vorbereitung der Machteroberung definieren«, erklärte Ingo Wagner. Diese aktive Wechselwirkung zwischen den Polen »Bewußtsein der Massen« und »sozialistischem Ziel« zu entwickeln und zu vermitteln und so die innere Dynamik voranzutreiben, hatte Lenin das »große Gesetz der Revolution« genannt.

»Treibt die Forderung in ihrer Konsequenz über den Kapitalismus hinaus? Führt der Kampf darum zum Anstieg von Klassenbewußtsein?«, fragte Feist nach Kriterien für »echte Übergangsforderungen«. Einige linke Gruppen stellten viel zu weit gehende für eine spätere Kampfetappe aktuelle Forderungen auf, kritisierte er. So hatte etwa die trotzkistische Gruppe Arbeitermacht bei der Programmdebatte innerhalb der WASG die Bildung von Arbeitermilizen propagiert – eine Losung, die sich durchaus im klassischen Übergangsprogramm der IV. Internationale von 1938 findet, aber augenblicklich sehr skurril wirkt. Eine Forderung müsse den Werktätigen umsetzbar und wünschenswert erscheinen. So habe Lenin vor der Oktoberrevolution die konkrete Losung »Brot, Land, Frieden« ausgegeben, deren Realisierung in den Kampf um den Sozialismus überging. Das sozialistische Endziel müsse dabei ehrlich benannt werden, da sich die Massen nicht mit Etappenlosungen wie der von der DKP häufig geforderten »antimonopolistischen Demokratie« in den Sozialismus »hineintricksen« ließen.

Dieter Elken (Strausberg) umriß einen Katalog möglicher Übergangs- und Aktionslosungen für Deutschland. Dabei verband er schon im Übergangsprogramm der IV. Internationale von 1938 enthaltende Forderungen wie eine an die Inflation angepaßte gleitenden Lohnskala sowie Vollbeschäftigung durch radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich mit aktuellen Losungen wie einem nationalen Aufbauplan zur Überwindung der ungleichen Lebensverhältnisse in Ost und West und einer damit verbundenen Investitionskontrolle durch die Werktätigen.

Manuel Kellner (Köln), Redakteur der Sozialistischen Zeitung, zeigte auf, daß ein Übergangsprogramm entgegen der in DKP-Kreisen oft anzutreffenden Meinung keine trotzkistische Spezialität sei, sondern in der Tradition des 3. und 4. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale von 1921/22 stehe. Damals mußte Lenin gegenüber Ultralinken betonen, daß Übergangsforderungen in den Programmen der kommunistischen Parteien »nicht opportunistisch« seien. In den Mittelpunkt seines Vortrages stellte Kellner die Forderung nach »Arbeiterkontrolle der Produktion«. Im Unterschied zur Mitbestimmung, die Arbeiter mitverantwortlich für das kapitalistische Funktionieren eines Betriebes mache, setze die Arbeiterkontrolle eine Logik von Solidarität und Menschlichkeit gegen Profitlogik.

Beispielloser Tiefstand

Der AK Marxistische Theorie und Politik hat auf seiner Homepage den schwer erhältlichen zentralen Beitrag August Thalheimers zum Thema Übergangslosungen in der Programmdebatte der Kommunistischen Internationale veröffentlicht (www.ak-marxismus.de). Ausgerechnet die in der Tradition von Thalheimers KPO stehende Arbeiterpolitik bestreitet heute die Aktualität eines Übergangsprogramms. Herbert Münchow (Leipzig) konstatierte einen beispiellosen Tiefstand der Arbeiterbewegung und des Bewußtseins der lohnabhängigen Klasse. Solange es nicht zu wirklicher betrieblicher und gewerkschaftlicher Gegenwehr käme, könnten Übergangslosungen objektiv nicht am Bewußtsein der Massen anknüpfen und Kommunisten lediglich in den Gewerkschaften um Einfluß kämpfen. »Aber selbst wenn sich die Arbeiterklasse weiterhin auf dem Rückzug befinden würde, wäre ein Übergangsprogramm als propagandistische Vorbereitungsarbeit notwendig. Denn es repräsentiert den Prozeß des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus«, wies Ingo Wagner diese Einschätzung zurück. Damit eine Losung in der Arbeiterklasse verankert wird, müsse zuerst ein langer propagandistischer Kampf darum geführt werden, verwies auch Elken auf das Beispiel der 35-Stunden-Woche. Jahrelang seien Marxisten, die dies in Flugblättern vor den Betrieben gefordert haben, als Utopisten verlacht worden, bis gewerkschaftliche Massenkämpfe darum geführt wurden.

Von allen Teilnehmern wurde der solidarische Geist der Diskussion betont, die als weiterer Schritt zur Bindung der marxistischen Kräfte in Deutschland gesehen wurde. Die Tagung sei durch die Konkretisierung der Thematik ein Fortschritt gegenüber den Treffen in Leverkusen gewesen, meinte etwa Eckehard Lieberam (Leipzig). Eine Fortsetzung wurde als wünschenswert angesehen. Die Referate der Tagung werden demnächst als Broschüre veröffentlicht.

 

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Ausdruck erstellt am 21.06.2005 um 14:57:23 Uhr

 

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