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Deutschland 16.07.2014 Kolumnen
Traum vom eigenen Staat
Nick Brauns über die Chancen auf einen kurdischen
Nationalstaat durch den Vormarsch der Dschihadisten
in Irak
Noch nie waren sie ihrem Traum, nach einem autonomen,
kurdischen Gebiet, so nah wie jetzt. In unserer Kolumne geht Nick Brauns den
Entwicklungen auf den Grund und schaut sich dabei auch die Bedeutung der Türkei
genauer an. Nick Brauns ist Sprecher des Kurdistan-Solidaritätskomitees Berlin
und bereist regelmäßig kurdische Gebiete.
Der
kurdische Jahrhunderttraum vom eigenen Staat scheint in Erfüllung zu gehen –
zumindest in einem Teil der durch koloniale Grenzziehung auf vier Länder
aufgeteilten kurdischen Siedlungsgebiete. Während eine sunnitische Koalition
unter Führung der mörderischen Gotteskrieger des »Islamischen Staates« (IS) im
Juni weite Teile Iraks unter ihre Kontrolle brachte, rückten kurdische
Peschmerga in die von der irakischen Armee verlassenen Stellungen rund um die
Erdölstadt Kerkuk vor. Der Anschluss des als
»kurdisches Jerusalem« geltenden Kerkuk und weiterer
»umstrittener Gebiete« an die kurdische Autonomieregion in Nordirak sollte laut
irakischer Verfassung durch ein Referendum entschieden werden. Dessen
Durchführung wurde von Bagdad aber bislang verhindert.
Der
irakische Ministerpräsident Nuri-al Maliki
beschuldigt nun die Kurden, ein Bündnis mit dem IS zur Spaltung Iraks
eingegangen zu sein. Tatsächlich versicherte noch am Abend der Eroberung von
Mosul ein Kommandant der Dschihadisten im Barzani-nahen
Sender Rudaw-TV, es drohten keine Angriffe auf das
kurdische Brudervolk. Zu größeren Gefechten zwischen Barzanis Peschmerga und
dem IS ist es seitdem nicht gekommen. Zwar scheinen die Dschihadisten
aus taktischen Gründen derzeit einen Zweifrontenkrieg gegen die schiitische
Zentralregierung und die Kurden in Irak vermeiden zu wollen. Doch gleichzeitig
haben die Gotteskrieger mit den in Irak erbeuteten Panzern eine Offensive gegen
das kurdische Selbstverwaltungsgebiet im Norden Syriens begonnen. Sollte diese Rojava genannte Region unter die Kontrolle der Islamisten
geraten, sei als nächstes Kerkuk dran, warnen die
Kurden in Syrien. Daher rufen sie Masud Barzani zur Bildung einer gemeinsamen
Abwehrfront auf.
Doch der
kurdische Präsident konzentriert sich lieber auf die Vorbereitung eines
Unabhängigkeitsreferendums. Israel hat bereits die völkerrechtliche Anerkennung
eines unabhängigen Kurdistan versprochen. Zu dessen Geburtshelfer könnte
ausgerechnet die Türkei werden, die Autonomiebestrebungen ihrer eigenen Kurden
blutig unterdrückt. Aus der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP heißt
es, ein Kurdenstaat sei für Ankara heute kein Kriegsgrund mehr. Im Falle eines
Auseinanderbrechens Iraks stände den Kurden vielmehr ein eigener Staat zu.
Seit dem Jahr
2007 haben sich die Beziehungen zwischen Ankara und Erbil massiv verbessert.
Symbolisch dafür war der gemeinsame Auftritt vom türkischen Ministerpräsidenten
Recep Tayyip Erdogan mit Masud Barzani in der
kurdischen Metropole Diyarbakir im November 2013. Die Region Kurdistan-Irak ist
von der Türkei wirtschaftlich abhängig. Während es weder Industrie noch
nennenswerte Landwirtschaft gibt, sind Tausende türkische Firmen im Bauwesen
und Dienstleistungssektor aktiv. Die kurdische Regierung kontrolliert zwar jetzt
große Ölfelder, doch abtransportieren lässt sich das schwarze Gold nur über die
Pipeline zum türkischen Hafen Ceyhan. Ankara wiederum will über kurdische
Öllieferungen seine energiepolitische Abhängigkeit von Iran und Russland
überwinden.
Mit dem als
Gründungsdokument der Republik Türkei geltenden Nationalpakt (Misak-i Milli) von 1920 wird der türkische Anspruch auf die
kurdischen Siedlungsgebiete Iraks als ehemals osmanischer Provinz Mosul
festgeschrieben. Nun könnte Erdogan dieses Vermächtnis von Republikgründer
Mustafa Kemal mit Hilfe seines Vasallen Barzani einerseits und der über die
türkisch-syrische Grenze laufenden logistischen
Unterstützung des türkischen Geheimdienstes für die Gotteskrieger des IS
andererseits erfüllen. Denn ein von Bagdad unabhängiges Kurdistan wird umso
abhängiger von der Türkei sein. Seit den 90er Jahren besitzt die Türkei einige
Militärstützpunkte auf irakisch-kurdischem Territorium. Als die türkische
Luftwaffe in den letzten Jahren mehrfach Angriffe auf Camps der Arbeiterpartei
Kurdistans PKK in den Kandilbergen flog, gab es aus
Erbil keine größeren Proteste gegen diese Verletzung seines Territoriums.
Ein
türkisches Protektorat ist der von Barzani in feudaler Manier geführte
Mafiastaat, in dem soziale Proteste und kritischer Journalismus mit harter Hand
unterdrückt werden, heute bereits. Auch wenn vielleicht bald die kurdische
Fahne über Kerkuk als Hauptstadt eines unabhängigen
Kurdistan wehen sollte, wird dies noch lange kein freies Kurdistan sein.