16.01.2010 / Kapital & Arbeit / Seite 9
Alles oder nichts
Sitzblockaden, Protestmärsche, Hungerstreiks: Tabakarbeiter in der Türkei kämpfen seit Monaten um den Erhalt ihrer Jobs
Von Nick Brauns, Ankara
Mustafa Türkel ist sich sicher: »Diese Regierung versteht nur Härte.« Mit der Feststellung kündigte der Vorsitzende der türkischen Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tek Gida-Is neue Kampfmaßnahmen zu Beginn des zweiten Protestmonats von Tausenden Beschäftigten des staatlichen Tabakmonopols Tekel an. Am gestrigen Freitag begannen Arbeiter des Unternehmens einen dreitägigen Sitzstreik vor der Zentrale des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is in Ankara. Anschließend wollen sie in einen dreitägigen Hungerstreik treten. Lenkt die Regierung dann immer noch nicht ein, drohen sie, den Hungerstreik unbefristet fortzusetzen. »Lieber Tod als Kapitulation«, rufen sie und bejubelten die Forderung von Sami Evren nach einem Generalstreik. Der solle nach Willen des Vorsitzenden der Dienstleisungsgewerkschaft KESK von allen Verbänden gemeinsam organisiert werden.
12000 Stellen bedroht
Nach
dem Verkauf der Tabakproduktion an den Lucky-Strike-Produzenten
British-American-Tobacco im Jahr 2006 will die islamisch-konservative
AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan 2010 alle noch in
staatlicher Hand befindlichen Tekel-Lager- und Produktionsstätten schließen.
Damit droht rund 12000 Arbeitern der Verlust ihres Jobs oder die Überführung in
eine elfmonatige Kurzarbeit mit über einem Drittel Lohneinbußen und dem Verlust
aller erworbenen sozialen Rechte.
Rund 1300 Arbeiter kampierten seit Mitte Dezember in einem Stadtpark und später
bei Gastfamilien. Sie versammeln sich tagsüber zu Kundgebungen vor der
Türk-Is-Zentrale. Die Solidarität der Bevölkerung ist groß. Anhänger der
linksalternativen Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP) und der sozialistischen
Volkshäuser organisieren das tägliche Frühstück für die Streikenden. Hausfrauen
bringen Tee und frisches Börek, eine Familie schlachtete sogar ein Lamm. Längst
sind die Proteste zu einem Fanal für alle unter der neoliberalen
Regierungspolitik leidenden Teile der Bevölkerung geworden. Feuerwehrleute,
Eisenbahner und andere Staatsangestellte haben Solidaritätsstreiks
durchgeführt.
Zu Beginn der Proteste Mitte Dezember hatten Spezialeinheiten der Polizei die
Tekel-Arbeiter mit Pfefferspray und Wasserwerfern attackiert. Es gab Verletzte,
einem Betroffenen droht bleibende Lähmung. Auch in der vergangenen Woche nahm
die Polizei Dutzende Menschen vorübergehend fest – nachdem über 8000
Tekel-Beschäftigte in einer landesweiten Urabstimmung nahezu einstimmig für die
Fortsetzung ihrer Kampfaktionen votiert hatten.
Für den heutigen Sonnabend hatte der Dachverband Türk-Is eine landesweite
»Demonstration für Brot, Frieden, Freiheit, Demokratie und Recht« in der
Innenstadt von Ankara geplant. Auch die linksgerichteten Gewerkschaftsverbände
DISK und KESK riefen dazu auf. Doch aus »allgemeinen Sicherheitserwägungen«
verbot der Gouverneur von Ankara diese Kundgebung und erzwang eine Verschiebung
auf Sonntag – wenn viele der aus entfernten Landesteilen angereisten
Gewerkschafter bereits wieder auf dem Heimweg sein werden. Der Massenaufmarsch
würde den Straßenverkehr zum Erliegen bringen und den Umsatz der Geschäfte
sinken lassen, führt Gouverneur Kemal Önal seine »Sicherheitsbedenken« gegenüber
einer Gruppe ausländischer Gewerkschafter aus, die ihm eine Protestresolution
überreicht hatten. Im Übrigen sei die ganze, seit einem Monat stattfindende,
Kundgebung vor der Gewerkschaftszentrale illegal.
Nationalismus verbannt
Zu Beginn ihrer Proteste skandierten die Tekel-Arbeiter noch die nationalistische Parole »Unser Kampf für Brot –unsere Liebe Türkei«. Inzwischen sind solche Slogans weitgehend der Losung »Für die Brüderlichkeit der Völker« gewichen. Gemeint sind die Völker der Türkei. Die Hälfte der Tekel-Belegschaft stammt aus den kurdischen Landesteilen. Auf einem Transparent am Gewerkschaftshaus stehen die Namen dortiger Betriebsstandorte wie Diyarbakir und Mus neben westtürkischen wie Izmir und Istanbul. Viele der immer wieder Halay tanzenden Arbeiter tragen selbstbewußt ihre Pusus – traditionelle schwarz-weiß gemusterte kurdische Tücher, wie sie auch die Guerilla in den Bergen hat. In der Westtürkei war es in der letzten Zeit mehrfach zu Lynchversuchen an Arbeitern gekommen, die sich so demonstrativ zu ihrer kurdischen Herkunft bekannt hatten. Der Erste Vorsitzende der Gewerkschaft Tek Gida-Is gehörte früher einer nationalistisch orientierten Bewegung an, sein Stellvertreter stammt aus Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, und spricht mit deutlichem kurdischem Akzent. Er betont, daß die Tekel-Arbeiter auch Vertreter der linken kurdischen Partei für Frieden und Demokratie im Parlament besucht hätten. »Unser gemeinsamer türkisch-kurdischer Kampf überwindet den Chauvinismus«, sagt ein für die Arbeit in den kurdischen Landesteilen zuständiger Gewerkschaftssekretär. Und ein Arbeiter vom Schwarzen Meer, der der Minderheit der Lasen angehört, erklärt: »Unser gemeinsamer Kampf ist die wahre demokratische Öffnung der Türkei«. Damit spielt er auf die von der Regierung im vergangenen Jahr vollmundig versprochene »demokratische Öffnung« an, auf die bislang keine Taten folgten. Eine immer wieder skandierte Parole der Tekel-Beschäftigten lautet: »Keiner oder alle. Alles oder nichts. Einer kann sich da nicht retten. Gewehre oder Ketten. Keiner oder alle. Alles oder nichts.« Bertolt Brecht würde sich freuen.
Junge Welt 18.01.2010 / Ausland / Seite 7
Fäuste und Zitronen
Solidaritätsdemonstration mit türkischen Tabakarbeitern. Generalstreik gefordert
Von Nick Brauns
Rund
80000 aus der gesamten Türkei angereiste Menschen haben am Sonntag in Ankara
zur Unterstützung der seit über einem Monat streikenden Arbeiter des
staatlichen Tabakmonopols Tekel demonstriert. »Generalstreik –
Generalwiderstand!« war die dominierende Losung der Großdemonstration für
»Arbeit, Frieden, Demokratie, Rechte und Freiheit«, zu der der staatsnahe
Gewerkschaftsdachverband Türk-Is aufgerufen hatten, dem auch die Gewerkschaft
der Tabakarbeiter Tek-Gida-Is angehört. Wenn bis Ende Januar keine Lösung
gefunden ist, droht den 12000 in den Tekel-Lagerhäusern Beschäftigten die
Entlassung oder ihre Versetzung in einen befristeten Kurzarbeitsstatus mit
drastischen Lohneinbußen.
Während die Vorsitzenden der linksgerichteten Gewerkschaftsdachverbände KESK
und DISK, die ebenfalls zu der Demonstration mobilisiert hatten, ihre
Bereitschaft zu einem gemeinsam organisierten Generalstreik anboten, sträubt
sich der Türk-Is-Vorsitzende Mustafa Kumlu, ein Mitbegründer der
islamisch-konservativen AKP-Regierungspartei und Vertrauter des
Staatspräsidenten Abdullah Gül, vor einem solchen Schritt. Die Tekel-Arbeiter
würden wie geplant ab Montag in einen Hungerstreik treten, kündigte er an, ohne
in seiner Rede auf die Forderung nach Ausweitung des Streiks auf andere
Branchen einzugehen. Wütend besetzten daraufhin Tekel-Beschäftigte aus den
kurdischen Städten Diyarbakir und Batman die Bühne. »Ihr müßt euch entscheiden:
entweder mit den Tekel-Arbeitern oder mit Kumlu«, forderten sie die
Gewerkschaften auf.
Neben Gewerkschaftern beteiligten sich auch Studenten, Mitglieder
sozialistischer Organisationen und die kemalistischen Oppositionspartei CHP an
der Demonstration. Viele Teilnehmer hielten Zitronen in der Faust. Nach
Polizeiangriffen auf Tekel-Arbeiter Mitte Dezember ist die Zitrone, deren Säure
gegen Tränengas helfen soll, zu einem Symbol gegen Polizeigewalt geworden.
In Kizilay harrten Tausende Arbeiter, darunter zahlreiche Frauen, seit
Donnerstag Abend rund um die Türk-Is-Zentrale in einem Sitzstreik aus. Das
Geschäftsviertel von Ankara hat sich dadurch in ein großes Arbeitercamp verwandelt.
Plastikplanen wurden über die Straßen gespannt, um die Streikenden vor dem
Regen zu schützen.
Mitglieder der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) hatten den Tekel-Streik
von Anfang an nicht nur propagandistisch mit einer mittlerweile täglich
erscheinenden Streikzeitung unterstützt, sondern vor allem durch praktische
Solidaritätsaktionen. So gingen Kommunisten von Haus zu Haus, um Decken für die
Streikenden zu sammeln. Zusammen mit anderen linken Organisationen organisiert
die TKP die Lebensmittelversorgung der Streikenden. Für viele bislang vom
antikommunistischen Klima in der Türkei geprägte Arbeiter ist dies eine völlig
neue Erfahrung. »Ich breche hier mit 22 Jahren meines politischen Lebens«,
sagte ein Tekel-Arbeiter vom Schwarzen Meer, der bislang den faschistischen
Grauen Wölfen angehörte. »Nennt mich nie wieder einen Nationalisten. Ich bin
von jetzt an Kommunist.«
30.01.2010 / Ausland / Seite 6
Durchbruch im Kampf der Tabakarbeiter?
Türkei: Erdogan trifft sich mit Gewerkschaftschef und kündigt Lösung des Konflikts an
Von Nick Brauns
Im
seit 45 Tagen andauernden Kampf von 12000 Angestellten des staatlichen
türkischen Tabakmonopols Tekel gegen ihre Entlassung oder Überführung in
befristete Kurzarbeit scheint sich eine Lösung abzuzeichnen. Am Donnerstag
abend hatte sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der
bislang jede Verhandlung mit den Tekel-Arbeitern strikt zurückgewiesen hatte,
mit dem Vorsitzenden des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is, Mustafa Kumlu,
getroffen. Nach dem zweistündigen Treffen beauftragte Erdogan Finanzminister
Mehmet Simsek und Staatsminister Hayati Yazici, bis Montag eine Lösung
auszuarbeiten. »Wir denken nicht, daß es sich nur um ein Manöver der Regierung
handelt, um Zeit zu gewinnen. Wir rechnen damit, daß die Regierung den Tekel-Angestellten
jetzt ihre Übernahme als Arbeiter in andere Staatsbetrieben anbieten wird«,
erklärte eine Sprecherin der Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tek Gida-Is am
Freitag gegenüber junge Welt.
Zur plötzlichen Kompromißbereitschaft der Regierung hatte offenbar eine Drohung
der sechs großen Gewerkschaftsdachverbände geführt, am kommenden Dienstag eine
»Generalaktion« in Form türkeiweiter branchenübergreifender Warnstreiks
durchzuführen. Tausende Tekel-Arbeiter kündigten an, trotz der Kälte weiter in
ihrem Camp rund um die Türk-Is-Zentrale in der Fußgängerzone von Ankara
ausharren, bis eine zufriedenstellende Lösung da ist.