Junge Welt 20.06.2013
/ Ausland / Seite 6
Das Dilemma der Opposition
Die Demonstranten in der Türkei haben die soziale
Frage ausgeblendet. Erdogan verkündet seinen Sieg über die wochenlangen Massenproteste
Von Nick
Brauns
Auf einer
Versammlung seiner islamisch-konservativen AK-Partei verkündete der türkische
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstag
seinen »Sieg« über die wochenlangen Massenproteste gegen seine Herrschaft. Nach
der Drohung der Regierung, notfalls die Armee einzusetzen, kam es nur noch
vereinzelt zu Straßenschlachten. Statt dessen hat die
Protestbewegung eine neue Ausdrucksform gefunden. Zuerst war es nur ein
einzelner Performancekünstler, der am Montag abend stundenlang bewegungslos auf dem zuvor mit
Polizeigewalt geräumten Istanbuler Taksim-Platz stand
und das großformatige Bild von Mustafa Kemal Atatürk an der Wand des
Atatürk-Kulturzentrums anstarrte. Nachdem der Künstler von der Polizei festgenommen
wurde, standen am Dienstag bereits Hunderte schweigende Menschen auf dem Platz.
Diese hilflos wirkende Geste mit ihrer Fixierung auf das Porträt des
Republikgründers erscheint symbolisch für die Grenzen des gegenwärtigen
Widerstands.
Frühere Eliten wehren sich
Den
Protesten angeschlossen haben sich vor allem die liberalen und laizistischen
Mittelschichten der westtürkischen Großstädte. Diese »weißen Türken«, die bis
vor zehn Jahren die Elite des Landes gestellt hatten, wehren sich gegen das Diktat
eines religionskonformen Lebensstils durch die AKP. Doch die Kemalisten sowie
ein Teil der in ihrem Schlepptau hängenden Linken und Aleviten
führen den Kampf gegen die AKP bislang vor allem als Kulturkampf unter
Ausblendung der sozialen Frage. Dagegen weiß die vor zwei Jahren mit 50 Prozent
der Stimmen gewählte AKP weiterhin die große Masse der strenggläubigen Muslime
im ländlichen Anatolien hinter sich. Solange es der Opposition nicht gelingt,
entlang der Klassenlinien eine Bresche in diesen Block der »schwarzen Türken«
zu schlagen, kann sie nicht zur hegemonialen Kraft werden.
Machtverschiebung
Dagegen
deutet sich eine auch auf Druck des westlichen Auslands stattfindende
Machtverschiebung innerhalb des herrschenden Blocks an. Schon die Reaktionen
aus EU und USA auf Erdogans Niederwerfung der
Proteste waren außergewöhnlich scharf. Mit der Übertragung der sonst nur aus
den kurdischen Landesteilen bekannten Methoden der Aufstandsbekämpfung
auf die westtürkischen Metropolen erscheint die
Stabilität des Landes und damit die Sicherheit der westlichen Kapitalanlagen
bedroht. Gefährdet ist möglicherweise zudem die von den USA dem AKP-Staat
zugedachte Mission, als Rollenmodell einer »islamischen Demokratie« im Nahen
Osten zu dienen. Staatspräsident Abdullah Gül und Vizeministerpräsident Bülent Arinc präsentierten sich in den vergangenen Wochen mit
ihren Aufrufen zur Besonnenheit als gemäßigte Alternative zu Erdogan. Gül und Arinc gehören zur einflußreichen
Bewegung des im selbstgewählten US-Exil lebenden Imam Fethullah
Gülen, dessen Lehre Neo-Osmanismus und religiösen
Konservativismus mit einer pro-amerikanischen und neoliberalen Agenda
verbindet. Für USA und EU dürften die Gülenisten an
der Staatsspitze die besseren Sachwalter ihrer Interessen sein, als der mit
seiner selbstherrlichen Art die Stabilität seines Landes aufs Spiel setzende
»Sultan Erdogan«.
Doch das durch Auslandskredite gestützte türkische Wirtschaftswunder steht auf
tönernen Füßen. Ein Einbruch der Wirtschaft würde das Ende der Dominanz der vom
Versprechen permanenten Aufschwungs getragenen AKP bedeuten. Dann könnte sich
der Kulturkampf unter Einbeziehung der armen türkischen Muslime aber auch der
gegenwärtig mit dem Versprechen eines Friedensprozesses ruhiggestellten Kurden
zum Klassenkampf wandeln. Das erfordert jedoch den Bruch einer sich als soziale
und demokratische Alternative verstehenden Opposition mit dem Kemalismus,
seinem engstirnigen Nationalismus sowie seiner Arroganz gegenüber jeglicher
Religiosität.