Aus: junge
Welt Ausgabe vom
03.06.2015, Seite 12 / Thema
Eine Schicksalswahl
Am kommenden Wochenende wird in der Türkei abgestimmt.
An der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) könnten Erdogans Diktaturpläne scheitern
Von Nick
Brauns
Nick Brauns
erinnerte auf diesen Seiten am 24.4.2015 an den Völkermord der jungtürkischen
Regierung an den Armeniern.
Am Sonntag
sind rund 55 Millionen Wähler in der Türkei zur Stimmabgabe aufgerufen. Die
meisten Beobachter sind sich einig, dass es sich dabei um die wichtigste
Parlamentswahl in der Geschichte des Landes seit 1950 handelt. Damals wurde die
seit Republikgründung 1923 allein regierende kemalistische Republikanische
Volkspartei (CHP) abgewählt. Insbesondere für die Verteidigung demokratischer
Rechte und die Stellung der nichttürkisch-sunnitischen Bevölkerungsgruppen
stellt die kommende Wahl eine Weichenstellung da. So könnte der 7. Juni den
Niedergang der seit zwölf Jahren allein regierenden islamisch-konservativen
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) mit ihrer neoliberalen,
reaktionär-religiösen und autoritären Agenda als hegemonialer Kraft des »grünen
Kapitals« einleiten. Dass dabei ausgerechnet die als separatistisch und
terroristisch verfemte kurdische Bewegung zur Retterin der Türkischen Republik
werden könnte, erschient als Ironie der Geschichte.
Der
zunehmend selbstherrlich wie ein Sultan auftretende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan fordert den Umbau der Republik zu einem auf
ihn zugeschnittenen autoritären Präsidialregime. Um die dafür notwendige
verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu erlangen, gab er zu Beginn des
Wahlkampfs das gänzlich unrealistische Ziel aus, 400 der 550 Sitze für die
bislang mit knapp 50 Prozent der Stimmen im Parlament vertretene AKP zu
erobern. Um eine neue Verfassung per Referendum zur Abstimmung zu stellen,
würden bereits 330 Abgeordnete ausreichen. Doch diese Option ist mit Risiken
verbunden, denn laut Umfragen befürwortet derzeit weniger als ein Drittel der
Bevölkerung einen »Superpräsidenten«.
Obwohl der
Staatschef laut Verfassung zur Unparteilichkeit verpflichtet ist, wirft sich
Erdogan mit vollem Einsatz in den Wahlkampf. Offiziell firmieren seine
Kundgebungen, von denen er bis zu drei am Tag absolviert, als
Eröffnungszeremonien für Bauprojekte wie Flughäfen oder Moscheen. Sämtliche
Beschwerden der Opposition über diesen Missbrauch präsidialer Macht wurden von
der Obersten Wahlbehörde abgeschmettert. Während die staatlichen und AKP-nahen
Sender Kundgebungen des Präsidenten live übertragen und den Regierungsgegnern
nahezu keinen Raum in ihrer Berichterstattung einräumen, sehen sich
oppositionelle Medien wachsenden Einschüchterungen und Zensurmaßnahmen bis hin
zur Inhaftierung von Journalisten ausgesetzt.
Die auf
Erdogan zugeschnittene Kandidatenliste der AKP gibt dem derzeitigen
Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu keine Chance auf
den Ausbau einer eigenen Hausmacht. »Die begehrtesten Posten und alle
Schlüsselpositionen sind besetzt durch Namen, die für ihre schiere, absolute
Loyalität und ihren ›bedingungslosen Einsatz‹ (für Erdogan, N. B.) bekannt
sind«, analysierte der nach Kritik am Führungsstil Erdogans
bei der AKP-nahen Zeitung Sabah gekündigte Journalist Yavuz Baydar in der konservativen, zur Gülen-Bewegung zählenden
Zeitung Today’s Zaman vom 8. April.
»Unter den übrigen Namen finden sich die von Erdo?ans Schwiegersohn, seinen Beratern, Anwälten und
einigen Journalisten, die als ›seiner Majestät Stenographen‹ bekannt sind.«
Die etablierten Oppositionsparteien
Die lange
dem nationalistischen Dogma von »einer Nation, einer Sprache und einer Fahne«
verschworene CHP, die mit 23 Prozent derzeit die stärkste Oppositionsfraktion
stellt, hat ihre Kandidatenliste unter ihrem kurdisch-alevitischstämmigen
Parteivorsitzenden Kemal Kiliçdaroglu für Angehörige
ethnisch-religiöser Minderheiten geöffnet und eine sozialdemokratische Linie
eingeschlagen. In ihrem Wahlkampf stehen soziale Themen wie eine deutliche
Anhebung des Mindestlohns, die Abschaffung der Steuern für Dieseltreibstoff für
Bauern und die Einführung einer Familienversicherung im Vordergrund. Gefragt,
wie dies zu finanzieren sei, verwies Kiliçdaroglu auf
staatliche Milliardenzahlungen für die zwei Millionen infolge einer
fehlgeleiteten Außenpolitik in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge.
Sollte die CHP an die Regierung kommen, »wird sie unsere syrischen Brüder
zurückschicken«, kündigte Kiliçdaroglu vor einer
Versammlung von Unternehmern Ende April in Mersin an. »Wir werden ihnen sagen:
›Sorry, aber geht zurück in eure Heimat‹.«
Die bislang
mit 13 Prozent der Stimmen im Parlament vertretene faschistische Partei der
Nationalistischen Bewegung (MHP) – auch bekannt als die Grauen Wölfe –
beschuldigt die AKP aufgrund der Gespräche von Regierungsvertretern mit dem
inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan des Vaterlandsverrats. Sollte sie
an die Regierung kommen, werde sie den Dialog unverzüglich beenden, mit dem
Ziel, »nicht mit dem Terror zu verhandeln, sondern ihn zu bekämpfen«. Neben
chauvinistischer Rhetorik setzt die MHP auf ähnliche soziale Forderungen wie
die CHP. Keine Chance, über die Zehnprozenthürde zu kommen, hat ein Wahlbündnis
aus der ebenfalls zum Lager der Grauen Wölfe gehörenden, militant
faschistischen Großen Einheitspartei (BBP) und der radikalislamischen
Glückseligkeitspartei (Saadet). Doch könnte diese Allianz einige Prozentpunkte
durch Stimmen unzufriedener bisheriger AKP-Wähler insbesondere aus dem Umfeld
der lange mit der AKP verbündeten Fethullah-Gülen-Bewegung
gewinnen, deren Mitglieder seit kurzem als »Staatsfeinde« verfolgten werden.
Das linke Bündnis HDP …
Während die
etablierten Oppositionsparteien CHP und MHP mit ihren eher farblosen
Vorsitzenden im Wahlkampf vor allem ihre eigenen, sich überschneidenden Milieus
ansprechen, wirbelt die erstmals zu einer Parlamentswahl antretende linke
Demokratische Partei der Völker (HDP) die politische Szene der Türkei gründlich
durcheinander. Die Gründung dieser Dachorganisation aus der kurdischen Partei
der Demokratischen Regionen (DBP) und linken Parteien wie der Sozialistischen
Partei der Unterdrückten (ESP), die im Wahlkampf auch von der Partei der Arbeit
(EMEP) unterstützt wird, ging ursprünglich auf eine Initiative Abdullah Öcalans
zurück. Durch die Allianz mit sozialistischen und liberalen Kräften in der
Westtürkei sollte die Isolation der kurdischen Bewegung durchbrochen und
zugleich eine Perspektive für die schwache türkische Linke geschaffen werden.
Mit dem Anspruch, allen unterdrückten Gruppen eine Stimme zu geben, umfasst die
Kandidatenliste der HDP von religiösen Kurden wie AKP-Mitbegründer Dengir Mir Firat, über die Jesidin
und frühere PDS-Europaabgeordnete Feleknas Uca, über sozialdemokratische Politiker wie den früheren
Bürgermeister der Stadt Gaziantep, Celal Dogan, über Frauen-, Umwelt- und
Homosexuellenaktivisten bis hin zu Kadern der weiterhin illegalen Türkischen
Kommunistischen Partei (TKP) ein breites Spektrum politischer Kräfte.
Im
Wahlmanifest der HDP heißt es entsprechend: »Wir sind die Frauen, wir sind die
Jugend, wir sind der Regenbogen, wir sind die Kinder, wir sind die Verteidiger
der Demokratie, wir repräsentieren alle Identitäten, wir sind die Verteidiger
einer freien Welt, wir sind die Beschützer der Natur, wir sind die Erbauer
einer lebenssichernden Wirtschaft, wir sind Arbeiter, wir sind Werktätige, wir
sind die Garanten sozialer Rechte.« Die kurdische Frage soll durch
»demokratische Autonomie« mit regionalen Selbstverwaltungsrechten gelöst und
die Türkei zur »gemeinsamen Heimat« gemacht werden. Gefordert wird eine
friedliche Außenpolitik, doch zur NATO-Mitgliedschaft der Türkei schweigt das
Manifest. Zudem tritt die HDP für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU
ein – der Zusatz »im Rahmen unserer Prinzipien« kann dabei als Zugeständnis an
sozialistische EU-Kritiker in den eigenen Reihen verstanden werden.
… wirkt bis in die AKP hinein
Weiterhin
gilt in der Türkei die auf die Militärdiktatur – die
Armee putschte am 12. September 1980 – zurückgehende Zehnprozenthürde bei
Parlamentswahlen. Da kurdische Parteien im Landesschnitt bislang nur um die 6,5
Prozent erreichen konnten, traten diese in den letzten Legislaturperioden mit unabhängigen
Direktkandidaten an. Auf diese Weise gelang es 2011, 36 Abgeordnete
einschließlich mehrerer türkischer Sozialisten aus den kurdischen Provinzen
sowie türkischen Städten mit starkem kurdischen Bevölkerungsanteil wie Istanbul
und Mersin in die Große Nationalversammlung zu entsenden, wo sie heute eine
HDP-Fraktion bilden. Doch bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen August
konnte der smarte, weit über die Anhängerschaft seiner Partei hinaus wie ein
Popstar gefeierte Kovorsitzende der HDP, der
42jährige kurdische Rechtsanwalt Selahattin Demirtas, fast zehn Prozent der
Stimmen auf sich vereinen. Dadurch ermutigt, beschloss die HDP diesmal den
riskanten Schritt, als Partei anzutreten. Sie setzt dabei insbesondere auf
enttäuschte bisherige kurdische AKP-Wähler als auch auf die traditionell links
stehenden Aleviten, die bislang mangels Alternativen
der CHP ihre Stimmen gaben. In geduldiger Überzeugungsarbeit gelang es, ganze
kurdische Stammesverbände, die zuvor geschlossen die Regierungspartei unterstützt
hatten, zur Stimmabgabe für die HDP zu bewegen. In Siirt
traten Ende Mai 255 AKP-Mitglieder einschließlich mehrerer Stadträte
geschlossen zu dieser Partei über.
Um auch in
der Westtürkei zu punkten, musste Demirtas Befürchtungen des dortigen liberalen
und säkularen Milieus zerstreuen, es gebe Geheimabsprachen mit Erdogan, dessen
Pläne im Gegenzug für kurdische Autonomierechte zu unterstützen. »Herr Erdogan,
mit uns wird es keine Superpräsidentschaft geben«, versicherte der HDP-Kovorsitzende Mitte März. Diese Klarstellung war eine
Voraussetzung, damit auch die sonst traditionell der CHP nahestehenden alevitischen Gemeinden in Europa ihre Unterstützung für die
HDP bekundeten. Da die 2,8 Millionen im Ausland lebenden türkischen
Staatsbürger in den Konsulaten wählen können, ist dies ein nicht unerhebliches
Potential. Eine aufgrund der Einschätzungen von HDP-Wahlbeobachtern in den
Auslandsvertretungen vorgenommene Zwischenauswertung ergab, dass die HDP bei
der bereits seit 8. Mai laufenden Stimmabgabe in Deutschland mit rund 30
Prozent an zweiter Stelle hinter der AKP liegt.
Nicht alle
links von der CHP stehenden Gruppierungen unterstützen die HDP. In der
Vereinigten Juni-Bewegung (BHH) – der Name bezieht sich auf die Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013 – haben sich
Organisationen wie die zur Europäischen Linken gehörende Freiheits- und
Solidaritätspartei (ÖDP) und die beiden Fraktionen der im vergangenen Jahr
gespaltenen legalen Kommunistischen Partei, aber auch einzelne Vertreter vom
linken Flügel der CHP zusammengeschlossen. Während die Kommunistische Partei
(KP) eigene Kandidaten aufgestellt hat, empfiehlt die ÖDP eine Stimmabgabe
zugunsten nicht näher bezeichneter »fortschrittlicher Kandidaten«.
Militärische Provokationen
Für die AKP
ist die HDP der Hauptgegner im Wahlkampf. Gelingt es, diese unter der
Zehnprozenthürde zu halten, dann würden nahezu alle rund 50 Mandate in den
kurdischen Landesteilen an die Regierungspartei fallen. Selbst bei deutlichen
Stimmverlusten hätte die AKP dann die nötige Mehrheit für die von Erdo?an gewünschten
Verfassungsänderungen zumindest per Referendum. Hatte dieser bislang den
Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zur Chefsache erklärt,
so überraschte er Ende April auf Kundgebungen in den kurdischen Städten Batman
und Diyarbakir im Südosten der Türkei mit der Feststellung, in der Türkei gäbe
es gar keine kurdische Frage mehr.
Hinter
dieser Kehrtwendung steht die Einsicht, dass der bisherige, durch keinerlei
substantielle Zugeständnisse der Regierung unterfütterte Friedensprozess zwar
die Autorität der PKK unter den Kurden gestärkt hat, doch gleichzeitig
türkisch-nationalistische Kreise von der AKP abrücken ließ. Nun lassen Erdogan
und Davutoglu nichts unversucht, um die HDP, deren
Vermittlerdienste zur PKK-Führung sie zuvor gerne genutzt hatten, als »von
einer Terrororganisation geführte Partei« darzustellen. Darauf spekulierend,
dass liberale Wähler in der Westtürkei bei einem Wiederaufflammen der Gewalt in
Kurdistan von einer Unterstützung der HDP abrücken würden, schreckt die
Regierung nicht vor einem Bruch der seit mehr als zwei Jahren bestehenden
Waffenruhe zurück. Militäroperationen einschließlich Artilleriebeschuss
mutmaßlicher Guerillagebiete haben in den kurdischen Landesteilen drastisch
zugenommen. Nur der Umsicht der örtlichen HDP in der Provinz Agri war es zu verdanken, dass ein vom dortigen Gouverneur
befohlener Angriff auf Guerillastellungen am Tendürek-Berg
am 11. April nicht zu einer größeren Eskalation führte. HDP-Mitglieder begaben
sich als »lebende Schutzschilde« zwischen die Fronten und bargen mehrere
verwundete Soldaten. »Sie haben 15 Soldaten im Kampfgebiet in Agri zurückgelassen, acht davon verwundet. Die Soldaten
sollten dort sterben, damit die Stimmen der AKP bei der Wahl ansteigen«,
beschuldigte Demirtas die Regierung, die Soldaten geopfert zu haben.
Der
Menschenrechtsverein IHD zählte bis Mitte Mai bereits 126 gewaltsame Übergriffe
auf die HDP innerhalb von zwei Monaten. Schüsse wurden auf die HDP-Zentrale in
Ankara abgegeben, Brandanschläge gegen Wahlbüros verübt und Wahlkämpfer unter
den Augen der Polizei von nationalistischen Mobs verprügelt. In der Provinz ??rnak eröffneten vergangenen Donnerstag Anhänger
radikalislamischen Hüda Par das Feuer auf einen
HDP-Fahrzeugkonvoi. Bei nachfolgenden Auseinandersetzungen mit Dorfbewohnern
kamen zwei Islamisten um. Bei zeitgleichen Bombenanschlägen auf Parteibüros in
Adana und Mersin wurden am 18. Mai mehrere Parteifunktionäre verwundet. Die
HDP-Kovorsitzende Figen Yüksekdas
beschuldigte die Regierungspartei, zu solchen Angriffen zu ermutigen. Die
Attacken »zielen darauf, HDP-Mitglieder zu entsprechenden Gegenreaktionen zu
provozieren, so dass die HDP als eine gewalttätige Partei erscheint und Stimmen
verliert«, sieht der Jurist Orhan Kemal Cengiz in der Tageszeitung Today’s Zaman vom 19. Mai eine Strategie
hinter den Übergriffen.
Bei
eingebrochenem Wirtschaftswachstum und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf
den höchsten Stand seit vier Jahren setzt die von Korruptionsvorwürfen
gebeutelte AKP auf das Ausspielen der religiösen Karte. »Wir werden gerade
Zeuge eines äußerst extremen Gebrauchs und Missbrauchs der Religion durch die
Regierungspartei und den Präsidenten«, klagte die Kolumnistin Nuray Mert am 18.
Mai in der Tageszeitung Hürriyet Daily News. Selbst die
radikalislamischen Parteien der Vergangenheit hätten es nicht gewagt, die
Religion so zur Diffamierung politischer Gegner als »unislamisch« zu
missbrauchen, wie es nun die AKP mache. Die CHP werde als »Feindin des Islams«
seit Gründung der Republik dargestellt und die HDP beschuldigt, den Kurden ihre
religiöse Identität rauben zu wollen. So hielt Erdogan während einer Rede in
der ostanatolischen Stadt Siirt einen Koran hoch. Ein
AKP-Abgeordneter warnte, dass jeder, der für die HDP stimmt, sein Seelenheil
gefährde, da die HDP die Kurden nach »Kafiristan« –
dem »Land der Ungläubigen« – führen wolle. Und regierungsnahe Zeitungen
skandalisierten, dass Demirtas während einer Europareise Schweineschinken gegessen
habe.
Schon bei
früheren Wahlen in der Türkei war es in den kurdischen Landesteilen zu massiven
Fälschungen gekommen. Nachdem die zuerst zurückliegende AKP nach Stromausfällen
während der Stimmauszählung die Bürgermeisterwahl in der Hauptstadt Ankara im
Frühjahr knapp gewann, beschuldigte die Opposition die Regierung auch dort der
Wahlmanipulation. Der Energieminister machte anschließend Katzen, die in
Transformatorstationen eingedrungen seien, für die Blackouts am Wahlabend
verantwortlich. Für den 7. Juni haben die Oppositionsparteien Zehntausende
ihrer Mitglieder als Beobachter mobilisiert, um jede einzelne Wahlurne zu
bewachen und die Stimmauszählung zu dokumentieren.
Mögliche Konstellationen
Meinungsumfragen
gehen von Zugewinnen für MHP und CHP aus und sehen die HDP um die zehn Prozent.
Der AKP wird hingegen ein Niedergang auf nur noch knapp über 40 Prozent der
Stimmen vorausgesagt. Sollte die für Erdogans
Präsidialregime notwendige Mehrheit nicht zustande kommen, würden die Konflikte
zwischen seinen Getreuen und innerparteilichen Kritikern offen aufbrechen.
Bülent Arinc z. B., einer der vier
Vizeministerpräsidenten, hatte bereits die Einmischung des Staatschefs in die
Regierungsgeschäfte getadelt. Auch eine Spaltung der AKP und die Gründung einer
neuen – von der Gülen-Bewegung unterstützten – Mitte-Rechts-Partei wäre dann
denkbar. Nicht auszuschließen ist, dass die AKP bei einem Einzug der HDP sogar
die für eine Fortsetzung ihrer Alleinregierung notwendige Mehrheit von 276
Sitzen verliert. Da nach der HDP auch die CHP ein Zusammengehen mit der AKP
ausgeschlossen hat, stände nur die MHP als Partner bereit. Im Falle einer
rechten Koalitionsregierung wären zwar Erdo?ans Pläne für sein Präsidialregime gestoppt, da auch
die MHP diese ablehnt. Doch die als Drohung gegenüber kurdischen Wählern
gemeinte Aussage von Vizeministerpräsident Yalçin
Akdogan, »wenn die AKP-Regierung die Macht verliert, weil die HDP über die
Hürde kommt, wird es keinen Friedensprozess mehr geben«, würde sich dann
bewahrheiten.
Sollte die
HDP aber keine zehn Prozent der Stimmen erhalten, bliebe nicht nur die Masse
der kurdischen Bevölkerung ohne Repräsentanz im Parlament. Auch das Bündnis mit
Linken und Liberalen in der Westtürkei wäre dann belastet, weil sich der
Schwerpunkt des kurdischen Kampfs wieder auf die Kommunen im Osten des Landes
verlagern würde. Zudem wäre dann mit einer Stärkung von
separatistisch-nationalistischen Strömungen unter den Kurden zu rechnen.
Eine
wichtige Bewährungsprobe als Partei mit antikapitalistischem Selbstverständnis
hat die HDP bereits im Wahlkampf nicht bestanden. Anfang Mai brach in der
Autoindustrie der westtürkischen Stadt Bursa eine Welle wilder Streiks für
höhere Löhne aus. Die in Massen aus ihrer staatsnahen Gewerkschaft Türk Metall
austretenden Streikenden organisierten sich in neuen Verbänden und erkämpften
mit wochenlanger Produktionsstillegung bei Renault, Fiat und Ford finanzielle
Zugeständnissen und die Zusicherung von Sanktionsverzicht. Zwar erklärte
Demirtas den Autoarbeitern die Solidarität der HDP. Doch aufgrund ihrer
ausschließlichen Konzentration auf den Wahlkampf verpasste es die Partei,
diesen seit Jahren wichtigsten und effektivsten Streik in der Türkei auch
praktisch zu unterstützten. Hier zeigte sich, dass für viele HDP-Politiker die Arbeiterbewegung
eben nur eine weitere Bezugsgruppe neben Kurden, Aleviten
oder Frauen und nicht das zentrales Subjekt politischer Veränderung darstellt.
Sollten die
marxistischen Kräfte innerhalb der Partei nicht eine stärkere
Klassenorientierung durchsetzen, kann die HDP, zu deren Wahl sowohl die
deutsche Linkspartei als auch Die Grünen aufrufen, sich als durchaus
konvertibel mit internationalen Kapitalinteressen erweisen. So warnt die in
London erscheinende liberale Wochenzeitschrift The Economist vom 30. Mai
unter der Überschrift »Warum Türken kurdisch wählen sollten« vor einem
türkischen »Putin-Problem« bezüglich Erdogan. Um das Abgleiten des Landes in
eine als Standortnachteil für das internationale Kapital verstandene Autokratie
zu stoppen, ruft das Blatt zur Stimmabgabe für die HDP auf.