Aus: junge Welt Ausgabe vom 21.11.2020,
Seite 10 / Feuilleton
Die Erstarrung aufbrechen
Inspiration für die Linke: Peter Schaber hat einen Leitfaden zur politischen
Philosophie von Abdullah Öcalan geschrieben
Von Nick Brauns
Abdullah Öcalan ist einer der einflussreichsten
politischen Gefangenen weltweit. In das politische Tagesgeschehen kann der
71jährige Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zwar aufgrund seiner 22
Jahre andauernden Isolationshaft auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali nur selten eingreifen. Doch »seine Theorie
vermochte, was vielen anderen linken Entwürfen der Gegenwart versagt blieb: Sie
wurde eine materielle Kraft in einer wirklich revolutionären
Auseinandersetzung. Sie ist zur ideellen Grundlage einer geschichtsmächtigen
Bewegung geworden«, schreibt Peter Schaber in seiner Untersuchung »Die
Überwindung der kapitalistischen Moderne. Eine Einführung in die politische
Philosophie Öcalans«. Erschienen ist der knapp 160 Seiten umfassende Text im
Unrast-Verlag, der auch zentrale
Schriften des Parteigründers verlegt hat. Der Leitfaden füllt
eine Lücke. Wer sich bislang mit Öcalans Gedanken vertraut machen wollte,
musste sich entweder durch dessen dicke, aufgrund ihres eigentümlichen
Sprachstils nicht immer leicht zugängliche Werke arbeiten oder auf kurze
Zitatensammlungen zurückgreifen.
Schaber, Redakteur des Blogs Lower
Class Magazine
, kennt die
kurdische Freiheitsbewegung, in deren Strukturen er sich 2017 im Irak und in
Syrien engagierte, aus der Innenperspektive. Er sei aber nie »Apoist«, also voll und ganz Anhänger der Lehre von »Apo« Öcalan geworden, unterstreicht Schaber. Um einen
systematischen Einstieg in dessen Theorie zu liefern, habe er sich bemüht, sie
so nah am Gedanken des Urhebers wie möglich darzustellen, »ohne es zu kritisieren
oder zu bewerten«. Dies ist in schlüssiger Weise gelungen. Wünschenswert wären
aber Hinweise zu den Quellen von Öcalans Überlegungen gewesen.
Dessen
Texte sind – vergleichbar mit den Gefängnisschriften Antonio Gramscis – die Selbstverständigung eines politischen
Gefangenen, der zugleich versucht, den Genossen außerhalb des Knastes eine
Orientierung zu geben. Die Manuskripte konnten nur in Form von
»Verteidigungsschriften« zu laufenden Verfahren die Gefängnisinsel verlassen.
Ein intellektueller Austausch Öcalans mit Personen außerhalb des Gefängnisses
ist nicht möglich.
Ausgangspunkt
seiner Überlegungen zu einer Renaissance sozialistischen Denkens ist die
Niederlage sozialistischer und antikolonialistischer Bewegungen des 20.
Jahrhunderts gegen Liberalismus und Kapitalismus. Öcalan hat zwar einen
universalistischen Anspruch, doch er macht keinen Hehl daraus, dass er seine
Gedanken aus der Analyse der gesellschaftlichen Realität des Mittleren Ostens
und Kurdistans entwickelt. Dabei geht er tief in die jahrtausendealte
Menschheitsgeschichte zurück. So ist der »fruchtbare Halbmond zwischen Euphrat
und Tigris« für ihn der Ursprung zweier Zivilisationsformen: Hier entspringt eine
aus der »kommunal-matrialen« Gesellschaft der
neolithischen Dorfrevolution geborene demokratische Traditionslinie. Diese
sieht Öcalan in unterschiedlichen Formen weiterleben – von heterodoxen
Religionsgemeinschaften bis zur modernen Arbeiterbewegung und zum kurdischen
Freiheitskampf. Das Zweistromland ist aber auch der Ursprung des
Priesterstaates der Sumerer als Inbegriff einer etatistischen,
patricharchalen, auf Urbanisierung gegründeten
Klassengesellschaft, die heute in der kapitalistische
Moderne fortbestehe.
Öcalan
betont den seiner Ansicht nach häufig vernachlässigten subjektiven Faktor: Wenn
es nicht gelinge, bereits im Aufbauprozess einer demokratischen Gesellschaft
von unten die von der Klassengesellschaft und dem Patriarchat geprägten
Einstellungen, Sozialisierungsformen, Wertmaßstäbe und Prinzipien ihrer
Protagonisten zu ändern, könne es keinen Sozialismus geben. Statt nach
leninistischer Methode den bürgerlichen Staat zu zerschlagen oder diesen wie die
Sozialdemokraten zu übernehmen, setzt Öcalan daher auf eine längere Phase der
Koexistenz der »kommunalen Demokratie der Freiheitskräfte« mit staatlichen
Institutionen, die schrittweise überflüssig gemacht werden sollten. Um
Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes zu erkennen, bietet sich ein Rekurs
auf die praktischen Erfahrungen der kurdischen Bewegung an. So endete der im
Sommer 2015 unternommene Versuch Dutzender kurdischer Städte in der Türkei,
sich für »autonom« von Ankara zu erklären, mit der physischen Zerstörung der
Hochburgen der Rätebewegung durch die türkische Armee. Dass sich die an Öcalans
Ideen orientierte nordsyrische Selbstverwaltungsregion Rojava
dagegen bereits acht Jahre behaupten kann, ist auch auf die kriegsbedingte
Schwächung der Regierung in Damaskus zurückzuführen. Allerdings haben die
syrischen Kurden andere Möglichkeiten als die in der Türkei, um die von Öcalan
geforderte Selbstverteidigung ihrer Institutionen auch mit militärischen
Mitteln zu realisieren.
Zuzustimmen
ist Schabers Fazit: Wenn Öcalans Schriften »auch keine Blaupause anbieten, so
doch eine unschätzbar wertvolle Inspiration – auch da, wo man sie vielleicht
nicht teilt und sich durch sie provoziert fühlt. In jedem Fall brechen sie die
Erstarrung zwischen nostalgischer Rückschau auf geschlagene Schlachten des 20.
Jahrhunderts und postmoderner Orientierungslosigkeit des 21. Jahrhunderts auf«.
Peter
Schaber: Die Überwindung der kapitalistischen Moderne. Eine Einführung in die
politische Philosophie Abdullah Öcalans. Unrast-Verlag, Münster 2020, 160
Seiten, 12,80 Euro