Junge Welt 27.05.2006 / Wochenendbeilage / Seite 15 (Beilage)


Revolutionärer Akt

Für die Enteignung der Kriegsverbrecher. Vor 60 Jahren begann die Kampagne zum sächsischen Volksentscheid

Nick Brauns

Ohne die Zusammenarbeit der deutschen Industrie und der Nazipartei hätten Hitler und seine Parteigenossen niemals die Macht in Deutschland ergreifen und festigen können, und das Dritte Reich hätte nie gewagt, die Welt in einen Krieg zu stürzen«, hatte der US-Hauptankläger im Nürnberger Prozeß, Telford Taylor, erklärt. Ausgehend von dieser Erkenntnis mußte die Arbeiterbewegung die tiefe Krise, in der sich der deutsche Imperialismus nach seiner Kriegsniederlage befand, zur endgültigen Beseitigung seiner ökonomischen Wurzeln nutzen.


Schon Anfang 1946 hatte die KPD in Sachsen den Vorschlag eines Volksentscheids zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher an die anderen Parteien und Gewerkschaften herangetragen. Die im April 1946 gegründete Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) stellte diese Forderung in das Zentrum ihrer Aktivitäten. Eine wichtige Voraussetzungen für die Entmachtung des Monopolkapitals legte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) mit dem Befehl Nr. 154 vom 21. Mai 1946, der das Entscheidungsrecht über beschlagnahmte Betriebe in die Hände der deutschen Selbstverwaltungsorgane legte.

Kontroversen

Innerhalb der Blockparteien CDU und Liberaldemokratische Partei Deutschlands (LDPD) kam es zu heftigen Auseinandersetzungen über die Enteignungsforderung. Eine restaurative Plattform beim Parteivorstand der LDPD unterstellte der SED, auf eine generelle Verstaatlichung der Wirtschaft zu zielen. Mit der Rückgabe von fast 2000 beschlagnahmten Unternehmen an weniger belastete Eigentümer auf Initiative der SED wurde diesen Vorwürfen schließlich der Boden entzogen.


Insbesondere die beiden Vorsitzenden der CDU in der Ostzone, Jakob Kaiser und Ernst Lemmer, sowie der sächsische Landesvorsitzende Hugo Hickmann wandten sich im zentralen Blockausschuß unter dem Vorwand der Sorge um eine einheitliche Regelung im »Reichsmaßstab« gegen die Durchführung eines Volksentscheids. Doch unter dem Druck von Parteibasis und Wählern unterzeichnete Hickmann am 25. Mai den gemeinsamen Aufruf von SED, LDPD, CDU und Freiem Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) des Landes Sachsen zum Volksentscheid. Am gleichen Tag beschloß das Präsidium der Landesverwaltung einstimmig den Gesetzentwurf zur »Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes«, der zur Abstimmung kommen sollte.


»Ein ebenso harter und schwieriger Kampf zwischen den Vertretern der verschiedenen Parteien und Organisationen, bei dem es ja auch um weltanschauliche Grundprobleme ging, spielte sich ab, als danach die notwendige Festlegung der Richtlinien über die Kennzeichnung der zum Volksentscheid anstehenden Betriebe vorgenommen wurde«, schrieb der Leiter des Wirtschaftsressorts in der Landesverwaltung, Fritz Selbmann. War die Definition »Naziverbrecher« und »aktive Nazis« noch weitgehend unumstritten, so wurde heftig um die Kategorie »Kriegsinteressierte« gerungen. Ihr gehörten unter anderem Personen und Unternehmen an, die durch Rüstungsaufträge, »Arisierungs«-Geschäfte oder die Ausbeutung von Zwangsarbeitern von Faschismus und Krieg profitiert hatten.


Unter der Losung »Die Kriegsverbrecher waren sich stets einig gegen das Volk, jetzt einigt sich das Volk gegen die Kriegsverbrecher« warben Aktivisten der SED und fortschrittlich eingestellte Mitglieder der anderen Blockparteien sowie Funktionäre des FDGB für den Volksentscheid. Innerhalb von zehn Tagen fanden in Sachsen rund 5000 Versammlungen statt, darunter 500 in Industriebetrieben. »Alle Völker blicken auf das Ergebnis des Volksentscheides in Sachsen. Aus der Stimmbeteiligung und der Zahl der Ja-Stimmen ist für alle Völker erkennbar, ob das Volk jetzt ernste Anstrengungen unternimmt, den Frieden zu sichern«, heißt es in einem Aufruf des Parteivorstandes der SED. Unterstützung kam von Tausenden Betriebsbelegschaften, von Gewerkschaften, der Handwerkskammer, werktätigen Bauern und Einzelhändlern. »Niemals dürfen uns die Kriegstreiber in unsrem demokratischen Aufbau stören. Der Volksentscheid wird ihnen den Boden entziehen«, heißt es in einer Resolution der sächsischen IG Eisen und Metall. In Hirtenbriefen und Kanzelverkündungen riefen auch die evangelische Kirche und der höchste katholische Würdenträger in Sachsen, Bischof Petrus von Meißen, die Gläubigen zur Unterstützung des Volksentscheids auf.

Hohe Beteiligung

14228 Personen waren als Kriegsverbrecher, ehemalige Angehörige der SS oder Nazifunktionäre von der Abstimmung ausgeschlossen. In einer Reihe von Fällen konnten Ausgeschlossene erfolgreich Einspruch beim Wahlausschuß einlegen. So wurden in der Stadt Pirna von ursprünglich 126 von der Wahl Ausgeschlossenen 30 wieder zugelassen.


Am Volksentscheid am 30. Juni beteiligten sich 3459658 Wähler, das waren 93,71 Prozent der sächsischen Wahlberechtigten. Davon stimmten 77,62 Prozent für die Überführung der betroffenen Betriebe in Volkseigentum. 15,56 Prozent votierten mit Nein und 5,8 Prozent enthielten sich.


Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses trat das Gesetz über die Übergabe der Betriebe von Nazi- und Kriegsverbrechern in Volkseigentum in Kraft: »Das ganze Vermögen der Nazipartei und ihrer Gliederungen und die Betriebe und Unternehmen der Kriegsverbrecher, Führer und aktiven Verfechter der Nazipartei und des Nazistaates wie auch die Betriebe und Unternehmen, die aktiv den Kriegsverbrechern gedient haben und die der Landesverwaltung Sachsen übergeben wurden, werden als enteignet erklärt und in das Eigentum des Volkes überführt.«


Von den bis Ende Juli 1946 beschlagnahmten 4761 Unternehmen wurden 1861 enteignet, die anderen gingen an ihre Besitzer zurück. 1002 wurden in landeseigene Verwaltung übernommen, 379 für den Verkauf an Umsiedler oder schwergeschädigte Opfer des Faschismus bereitgestellt. Der Rest ging in kommunales Eigentum oder an Konsumgenossenschaften über. 600 Betriebe blieben unter Sequester (treuhänderischer Verwaltung).


Nach dieser klaren demokratischen Willensbekundung erfolgten im zweiten Halbjahr 1946 weitere Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone durch Gesetze und Verordnungen. Die Mehrzahl der größeren Betriebe wurde in Landeseigentum überführt oder als Reparation der Sowjetunion übereignet, darunter Werke solcher Kriegsverbrecherkonzerne wie IG Farben, Mannesmann, Siemens, Flick, Krupp, AEG, Salzdetfurth, Wintershall, Henkel, Vereinigte Stahlwerke, Thyssen und Borsig.


Der Volksentscheid in Sachsen war ein revolutionärer Akt, um die Möglichkeiten der kapitalistischen Kräfte zur Sabotage und Restauration einzudämmen. Ein vergleichbares Vorgehen in den Westzonen unterbanden die westalliierten Besatzer. Als sich am 1. Dezember 1946 mehr als 70 Prozent der Wähler in Hessen für die Überführung der Schlüsselindustrie in Gemeineigentum aussprachen, verbot US-Generalgouverneur Lucius D. Clay derartige »Experimente«.

 

 

Quellentext: Position der SED zum Volksentscheid

Mit diesem Volksentscheid zur Überführung der bisher für den Krieg arbeitenden Betriebe der Kriegsverbrecher und Kriegsschuldigen in die Hände der Selbstverwaltung soll es [das deutsche Volk] seine Bereitschaft zeigen, die Schande der auf Deutschland lastenden Kriegsverbrechen und seiner Mitschuld an diesen zu beseitigen. ... Es wäre falsch, hieraus die völlig abwegige Schlußfolgerung zu ziehen, die Enteignung dieser Betriebe wäre eine sozialistische Maßnahme und man müsse eigentlich allen großen Unternehmern alles enteignen. Die so sprechen, übersehen die gewaltige Bedeutung des Volksentscheides gegen die Naziverbrecher und Kriegsschuldigen, der die Sicherung des Friedens und des demokratischen Aufbaues zum Ziele hat. Der Volksentscheid soll allein die Brechung ihrer ökonomischen Macht herbeiführen, denn diese ist eine akute Gefahr für den Frieden. Darum kann man auch in der Überführung der Betriebe der Nazikriegsverbrecher und Kriegsinteressenten in das Eigentum des Volkes nicht den Beginn des Sozialismus sehen. Die Übereignung dieser Betriebe an das Volk und ihre Übergabe in die Hände der Selbstverwaltung ist kein Sozialismus, denn sie wird in einem besetzten Land von einem demokratischen Selbstverwaltungsorgan (Landesverwaltung) auf Grund einer demokratischen Entscheidung des Volkes durchgeführt, nicht aber von einem Arbeiterstaat. Niemand kann behaupten, daß hier in der von der Roten Armee besetzten Ostzone die Arbeiterklasse die politische Macht uneingeschränkt ausüben würde. Die hier bestehenden Selbstverwaltungsorgane arbeiten im Rahmen der SMA. Sie sind Organe, die sich wohl auf die werktätigen Schichten des Volkes stützen. Sie sind aber keine selbständige Macht, die nur von der Arbeiterklasse getragen wird.


aus: »Referentenmaterial über den Volksentscheid II. Hg. vom SED-Bezirksverband Zwickau-Vogtland, Nur für Funktionäre der SED« [1946], in: Hermann Weber (Hg.): DDR, Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, München 1986