Aus: junge Welt Ausgabe
vom 23.05.2020, Seite 15 / Geschichte
Revolution von oben
Vor 60 Jahren beendete ein Militärputsch
in der Türkei die zehnjährige Regierungszeit der Demokratischen Partei
Von Nick Brauns
In der Nacht zum 27. Mai 1960 übernahm
in einem unblutigen Staatsstreich ein aus 38 Offizieren bestehendes Komitee der
Nationalen Einheit die Macht in der Türkei. Innerhalb weniger Stunden wurden
rund 200 Mitglieder der Armeeführung, der Regierung, Parlamentarier sowie
Staatspräsident Celal Bayar verhaftet. Premierminister Adnan Menderes selbst
wurde in den Morgenstunden in einer filmreifen Aktion gefasst, als ein
zweimotoriges »C-47«-Militärflugzeug vor seinem schwarzen Cadillac auf der
Straße von Eskisehir nach Kütahya
in der anatolischen Hochebene landete.
Mit seiner Gefangennahme endete die
zehnjährige Ära der konservativen Demokratischen Partei (DP). Diese hatte als
Sammelbecken all jener Bevölkerungsgruppen, die mit der Gängelung durch den
kemalistischen Bevormundungsstaat unzufrieden waren, 1950 bei den ersten als
frei geltenden Wahlen mit einem Erdrutschsieg die Herrschaft der kemalistischen
Republikanischen Volkspartei (CHP) beendet. Von ihrem damaligen liberalen
Reformprogramm war ein Jahrzehnt später nichts mehr zu erkennen. Während das
Land aufgrund eines ehrgeizigen Infrastrukturprogramms immer tiefer in Schulden
versank, förderte Gutsbesitzer Menderes einseitig die Großgrundbesitzer. Diese
brachten im Gegenzug die Stimmen der von ihnen abhängig gehaltenen Bauern ein.
Während sich die DP für islamische Sekten öffnete und tausend neue Moscheen
bauen ließ, wurden die Rechte der Opposition eingeschränkt und kritische
Journalisten inhaftiert.
Im April 1960 setzte die DP im Parlament
einen nur aus ihren Abgeordneten bestehenden Untersuchungsausschuss gegen
»subversive und illegale Tätigkeiten« der Opposition ein, der Versammlungen
verbieten und Zeitungen zensieren durfte. Nun gingen in Ankara, Istanbul und
Izmir Studenten mit den Rufen »Freiheit« und »Tod allen Diktatoren« auf die
Straße. Es gab Tote bei Polizeiübergriffen, das Kriegsrecht wurde ausgerufen,
Panzer rückten in die Städte ein. Den Protesten schlossen sich nun Kadetten der
Militärschulen an. Denn auch in der Truppe gärte es.
Die sich als Hüter des kemalistischen Erbes verstehenden Offiziere hatten nicht
nur an gesellschaftlichem Ansehen gegenüber einer Schicht neureicher
Unternehmer eingebüßt, auch ihr Lebensstandard war aufgrund der grassierenden
Inflation abgesunken.
Präventive
Maßnahme
Die Putschisten beschlossen zu handeln,
ehe die Proteste in eine revolutionäre Stimmung umschlagen konnten und die
Streitkräfte gespalten würden. Sie bekannten sich umgehend zu den
Verpflichtungen der Türkei im Rahmen der NATO. In Washington, wo die Junta am
30. Mai anerkannt wurde, nahm man den Sturz von Menderes mit Wohlwollen zur
Kenntnis. Denn der Premier hatte kurz davor verkündet, zur »Verbesserung der
türkisch-sowjetischen Beziehungen« im Juli nach Moskau fliegen zu wollen. Dies
kam mitten im Kalten Krieg einer Todsünde gleich, wenn auch die wahre Intention
des überzeugten Antikommunisten Menderes darin bestanden hatte, durch den Flirt
mit der UdSSR weitere Finanzhilfen von den USA zu erpressen.
Der greise Oppositionsführer Ismet Inönü
begrüßte den Staatsstreich als »legitime Revolution«. Neuer Regierungschef
wurde General Cemal Gürsel. Die mehrheitlich unteren und mittleren Dienstgraden
entstammenden Putschoffiziere hatten den von Menderes wegen seines Eintretens
für die Rechte der Opposition als Luftwaffenchef abgelösten 65jährigen General
erst kurz zuvor in ihre Pläne eingeweiht. Er habe nicht den Wunsch, ein
Diktator zu werden, versicherte General Gürsel. Tatsächlich hob die Junta das
Kriegsrecht auf und befreite die unter Menderes verhafteten Journalisten und
Oppositionellen aus den Gefängnissen. Eine von Oberst Alparslan Türkes, dem späteren Führer der faschistischen Grauen
Wölfe, geführte Gruppe von 14 Offizieren, die eine längere Militärdiktatur
befürworteten, wurde zudem im November 1960 aus dem Komitee ausgeschlossen.
Ein Professorengremium arbeitete im
Auftrag des Komitees eine Verfassung aus. 1961 per Referendum mit einer
Zustimmung von 65 Prozent angenommen, gilt sie als bis heute fortschrittlichste
in der Geschichte der Türkei. Sie garantierte Versammlungs-, Meinungs- und
Glaubensfreiheit sowie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Streik. Mit der
neuen Verfassung verbanden die zivile und militärische kemalistische Bürokratie
sowie die hinter ihr stehenden Kapitalverbände die Intention, fortan ihre
Pfründe und Privilegien durch die Ausweitung ihrer Herrschaftsbasis auf eine
erweiterte städtische Unterstützerbasis einschließlich der Arbeiterklasse zu sichern.
Gegen konservative Mehrheiten, die
aufgrund der sozioökonomischen Struktur des noch weitgehend agrarischen Landes
auch für die Zukunft zu erwarten waren, sollten gesellschaftliche Gegengewichte
wie die Gewerkschaften gestärkt und Instanzen wie das neu eingeführte
Verfassungsgericht und eine zweite Kammer im Parlament als Kontrollinstanzen
dienen. Sich selbst sicherte die Armee mit der Bildung des Nationalen
Sicherheitsrates (MGK) die Möglichkeit dauerhafter Einflussnahme auf die
Politik zu. Schließlich wurde ein Verhältniswahlrecht anstelle des bisherigen
Mehrheitswahlrechts eingeführt.
Die DP wurde per Gerichtsbeschluss
verboten und Menderes sowie der frühere Außen- und der ehemalige Finanzminister
nach einem entwürdigenden Schauprozess im September 1961 auf der Gefängnisinsel
Imrali im Marmarameer hingerichtet. Einen Monat
danach fanden Parlamentswahlen statt, aus denen die CHP nur mit einer knappen
Mehrheit von 36,7 Prozent vor der Gerechtigkeitspartei als DP-Nachfolgerin mit
34,7 Prozent hervorging. Auf Druck des Militärs bildeten die verfeindeten Lager
eine Regierung der großen Koalition.
Aufschwung
der Linken
Die von den Militärs mit ihrem
Eingreifen erhoffte politische Stabilisierung kam in der nun folgenden Ära der
Koalitionsregierungen nicht zustande. Dagegen erwies sich die
»27.-Mai-Revolution«, wie der Staatsstreich in der kemalistisch
geprägten Geschichtsschreibung bezeichnet wird, als Startschuss für einen zwei
Jahrzehnte anhaltenden Aufschwung der Arbeiterbewegung und der sozialistischen
Linken.
Ursächlich dafür war allerdings nicht
die im Auftrag der Putschisten erarbeitete Verfassung, wie etwa die Führer der
1961 gegründeten und vier Jahre später ins Parlament
eingezogenen sozialistischen Arbeiterpartei der Türkei (TIP) meinten. Vielmehr spiegelte
diese Verfassung Veränderungen in der Klassenstruktur des Landes wider. Der
sozioökonomische Wandel mit dem Vordringen kapitalistischer Beziehungen auf dem
Lande, daraus resultierender Landflucht und der Herausbildung einer
Industriearbeiterklasse ging wiederum auf die wirtschaftsliberale Politik des
gestürzten Menderes zurück.
Gestützt auf
die Bauern und den islamischen Klerus: Die Ära Menderes
Im November 1945 hatte der türkische Staatspräsident Ismet Inönü
das Ende des bisherigen Einparteisystems verkündet. Dies war eine Reaktion auf
die engere Bindung an die USA im Kalten Krieg einerseits und auf wachsende
Kritik an der seit Republikgründung 1923 regierenden kemalistischen
Republikanischen Volkspartei (CHP) andererseits. So herrschte unter der Bauernschaft
Unzufriedenheit aufgrund starker steuerlicher Belastung und sinkenden
Lebensstandards während die zu politischem Selbstbewusstsein gelangte
Handelsbourgeoisie danach trachtete, sich aus dem Zwangskorsett staatlich
kontrollierter Wirtschaft zu befreien.
1946 gründeten CHP-Mitglieder wie der »politisierende
Großgrundbesitzer« (Spiegel) Adnan Menderes und der
»Bankier-Staatsmann« (Time) Celal
Bayar die Demokratische Partei (DP). Vier Jahre später siegte die DP bei den
Parlamentswahlen mit 54,4 Prozent der Stimmen. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts
bedeutete dies 408 Mandate gegenüber 69 für die CHP. Unter dem Slogan »Genug!
Das Volk hat das Wort!« hatte sich die DP im Wahlkampf
zum Fürsprecher aller Unzufriedenen – von gläubigen Muslimen bis zur Arbeiterbewegung
– gemacht. Premierminister Menderes schlug einen wirtschaftsliberalen Kurs ein,
führte die Türkei in den Koreakrieg und in die NATO. Statt des versprochenen
Streikrechts folgten Massenverhaftungen von Kommunisten.
In der ersten Hälfte des Jahrzehnts konnte die DP-Regierung, die
mit Marshallplan-Geldern die Modernisierung des ländlichen Raums vorantrieb,
noch wirtschaftliche Wachstumsraten oberhalb von sieben Prozent verzeichnen.
Gestützt auf die Bauern und den islamischen Klerus steigerte die Partei 1954
ihren Stimmenanteil auf 57,5 Prozent. Doch in der zweiten Hälfte der 50er Jahre
brach die wirtschaftliche Entwicklung ein. Je mehr der Rückhalt der DP schwand,
umso rüder ging die Regierung gegen Kritiker und Oppositionelle vor.
Nick Brauns