Aus: junge Welt vom 13.03.2021, Seite 15 / Geschichte

 

Propaganda der Tat

Vor 140 Jahren wurde Zar Alexander II. bei einem Attentat der Gruppe »Volkswille« getötet

 

Von Nick Brauns

 

Am 13. März 1881 nahm der russische Zar Alexander II. trotz Warnungen vor einem drohenden Attentat, die sein Innenminister ausgesprochen hatte, an einer Truppenparade in St. Petersburg teil. Auf dem Rückweg zum Winterpalast explodierte am Katharinenkanal eine Bombe unter der geschlossenen Kutsche des Monarchen. Der Zar blieb selbst unverletzt und stieg aus, um nach seinen verwundeten Begleitern zu schauen. In dem Moment, als er sich dem sofort von der Leibwache ergriffenen Bombenwerfer zuwandte, schleuderte ein an der Ufermauer stehender junger Mann dem Zaren einen zweiten Sprengsatz direkt vor die Füße, der beide tötete.

Von seiner früheren Popularität, die der Zar einmal als Reformer im Militär-, Justiz- und Bildungswesen genossen hatte, war zum Zeitpunkt seiner Ermordung nichts mehr zu spüren. Aufgrund der von ihm verfügten Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 wurde Alexander II. zwar als »Befreierzar« tituliert, da aber der Großgrundbesitz nicht angetastet worden war, lebten die bäuerlichen Massen weiter in bitterer Armut. Die sogenannten Volkstümler, revolutionäre Intellektuelle, die zur Aufklärung aufs Land gezogen waren, wurden von Polizei und Justiz scharf verfolgt.

Die Attentäter vom 13. März gehörten der Gruppe »Narodnaja Wolja« an – der Name lässt sich mit »Volkswille« oder »Volksfreiheit« übersetzen. Diese Vereinigung hatte sich von der Volkstümlerpartei »Land und Freiheit« abgespalten, da sie eine Fortsetzung der bisherigen Agitation unter den Bauern als fruchtlos ansah. Statt dessen sollte das Volk durch eine Propaganda der Tat – gezielte Attentate auf Repräsentanten des Staates – aufgerüttelt werden. Während »Land und Freiheit« noch einen bäuerlichen Sozialismus auf Basis der Dorfgemeinschaften propagierte, beschränkte sich das Programm des »Volkswillens« auf eine Verschwörung zum politischen Umsturz, die Abschaffung des Zarismus und die Einberufung einer vom Volk gewählten konstituierenden Versammlung. Im Sommer 1879 beschloss das aus einigen Dutzend straff organisierter Berufsrevolutionäre bestehende Exekutivkomitee der Partei des »Volkswillens«, von nun an »alle Kräfte auf die Person des Zaren zu konzentrieren«.

Dem Attentat vom 13. März waren mehrere gescheiterte Anschläge einschließlich einer Bombe im Speisesaal des Winterpalastes vorangegangen. »Der Alp, der jahrzehntelang auf dem jungen Russland gelastet hatte, war beseitigt. Dieser Moment, das Blut des Zaren, rächte die Greuel der Gefängnisse und die Verbannung, die Grausamkeiten und Gewalttaten, die an Hunderten und Tausenden unserer Gesinnungsgenossen verübt worden waren«, schilderte Vera Figner vom Exekutivkomitee ihre Empfindungen nach Eintreffen der Nachricht vom Tod des Zaren. Doch der Tag seines größten Triumphs leitete zugleich das Ende des »Volkswillens« ein. Die Revolutionäre hatten gehofft, durch die Tötung des Zaren das Signal zum Volksaufstand zu geben und den Zarismus an sich zu stürzen. Doch am Abend des 13. März folgte bereits Alexander III. seinem Vater auf den Thron. »Der Fürstenmord ist in Russland ziemlich populär«, warnte das Exekutivkomitee zehn Tage nach dem Attentat Alexander III. in einem offenen Brief. Sollte der Zar aber freie Wahlen zu einer Volksvertretung ermöglichen, dann versprach das Exekutivkomitee, dem bewaffneten Kampf abzuschwören. Der Zar ließ sich davon nicht beeindrucken. Er griff statt dessen zu einem eisernen Regime der Unterdrückung und widerrief einige Zugeständnisse seines Vorgängers.

Mit Hilfe von Spitzeln gelang es der Polizei, fast alle Führer des »Volkswillens« festzunehmen. Fünf Hauptbeteiligte wurden bereits zwei Tage nach dem Attentat am Galgen hingerichtet. Unter ihnen war Andrej Iwanowitsch Scheljabow. Der Sohn eines Leibeigenen galt als strategischer Kopf der Organisation. Die asketische Revolutionärin Sofja Perowskaja, die mit ihrer adeligen Herkunft gebrochen hatte, war die erste Frau in Russland, die wegen eines politischen Verbrechens hingerichtet wurde. Weitere Führungsmitglieder wurden in der Festung Schlüsselburg inhaftiert oder mussten in die Verbannung gehen. Zum Kampf gegen die Revolutionäre ließ der Zar einen später unter dem Namen Ochrana bekannten Geheimdienst gründen. Angesichts der offensichtlichen Wirkungslosigkeit des »Terrors« – wie der bewaffnete Kampf damals auch von seinen Anhängern ohne den heute damit verbundenen negativen Beiklang bezeichnet wurde – verfielen viele Revolutionäre in Russland in den 1880er Jahren in Apathie und Pessimismus oder sie übernahmen die pazifistischen Lehren des Schriftstellers Lew Tolstoi.

Lediglich eine Gruppe von St. Petersburger Studenten, die sich in der Tradition des »Volkswillens« sah, plante, auch Zar Alexander III. zu töten – auf den Tag genau sieben Jahre nach dem Attentat auf dessen Vater. Das Unternehmen wurde von der Polizei vereitelt. Einer der Verschwörer, der Sohn eines Bezirksschuldirektors aus Simbirsk namens Alexander Uljanow, nutze den Gerichtssaal als Tribüne zur Verteidigung seiner Anschauungen. »Terror ist die einzige Form der Verteidigung, die einer Minderheit bleibt, deren Stärke einzig in ihrer geistigen Kraft und dem Bewusstsein ihrer gerechten Sache gegenüber dem Bewusstsein der physischen Gewalt der Menschen liegt

Alle fünf Verschwörer wurden gehängt. Die Nachricht vom Tod Alexanders erschütterte dessen 17jährigen Bruder tief. Doch sollte Wladimir Uljanow, der bereits als Gymnasiast ein überzeugter Revolutionär war, seinem Bruder Alexander nicht auf dem Irrweg des individuellen Terrors folgen. Denn unter dem Einfluss marxistischer Literatur erkannte der junge Uljanow, dass nicht der Heroismus einzelner, sondern die kollektive Aktion der Arbeiterklasse die Macht zum Sturz des Zarismus und zum Aufbau des Sozialismus besitzen würde. Uljanow, der später unter seinem Pseudonym Lenin bekannt werden sollte, widmete sich fortan der Aufgabe, zur Bewusstseinswerdung dieser Ende des 19. Jahrhunderts auch in Russland in der Entstehung begriffenen Klasse durch die Organisierung ihrer besten Kräfte in einer revolutionären Partei beizutragen.

Quelle: Der letzte Akt

»Die Bedeutung des 1. März (nach dem julianischen Kalender) war ungeheuer. Um dies zu verstehen, ist es notwendig, sich die Zustände jener Epoche zu vergegenwärtigen. Nach jahrhundertelanger Reaktion hatte Alexander II. die Bauern-, Selbstverwaltungs- und Gerichtsreform durchgeführt und dadurch der Entwicklung Russlands einen gewaltigen Stoß nach vorwärts gegeben; er lenkte sie in die Bahnen des allgemein-menschlichen Fortschritts. Aber schon die erste und größte dieser Reformen – die Bauernbefreiung – blieb in ökonomischer Beziehung weit hinter den Forderungen der besten Vertreter der damaligen russischen Gesellschaft zurück, und 15 Jahre später, als an Stelle einer elenden Lobhudelei eine ernste Kritik eingesetzt hatte, wurde sie von der Publizistik offen als ein unter dem Druck des interessierten Standes – der Gutsbesitzer – durchgeführter Kompromiss bezeichnet, der in keiner Weise dem gesteckten Ziele der ›Besserung der wirtschaftlichen Existenz des Bauernstandes‹ entsprach. Die anderen Reformen wurden unter dem Einfluss der Gegner der Reformen und der jetzt vom Zaren selbst an den Tag gelegten reaktionären Gesinnung verstümmelt und durch allerlei Ergänzungen, Ausnahmen und Auslegungen jeglichen Wertes beraubt. So kam es, dass die besten Elemente der Gesellschaft und die Regierung verschiedene Wege einschlugen und dass erste jeglichen Einfluss auf die Regierung und Staatsverwaltung einbüßten. (…) Der 1. März war insofern lehrreich, als er der letzte Akt im zwanzigjährigen Kampf zwischen Gesellschaft und Regierung war. 20 Jahre Repressalien, Grausamkeiten und Maßregelungen, die gegen eine Minderheit gerichtet waren, aber auf allen lasteten – und das Resultat: Der Zar wurde getötet. Die ganze Gesellschaft erwartete diesen Tod mit der größten Gewissheit: die einen in höchster Angst, die anderen mit Ungeduld. (…) Die Bomben des Vollzugskomitees, die ganz Russland erschütterten, warfen vor dem Land die Frage auf: Wo ist der Ausweg aus dieser abnormen Lage? Wo liegen die Ursachen

Aus: Vera Figner: Nacht über Russland, Malik-Verlag, Berlin 1928, S. 168–169