Pierre Broué: Trotzki. Eine politische Biographie.
Neuer ISP Verlag Köln 2003, 2 Bände, 1292 Seiten.
Rund 15 Jahre mussten
deutschsprachige Leser auf eine Übersetzung der voluminösen Trotzki-Biographie
von Pierre Broué warten. Anfang 2004 ist die fast 1300 seitige politische
Biographie des russischen Revolutionärs, anfänglichen Kritikers und späteren
engsten Vertrauten Lenins, Gründers der Roten Armee und unermüdlichen Kämpfers
gegen die “Verratene Revolution”, der 1940 von einem Agenten Stalins im
mexikanischen Exil für seine Prinzipienfestigkeit mit einem Eispickel
erschlagen wurde, beim engagierten Kölner isp-Verlag erschienen.
Broué war bis Ende der 1980er
Jahre selber in der französischen trotzkistischen Bewegung aktiv. Als Autor
einer auf deutsch vorliegenden Geschichte des spanischen Bürgerkriegs sowie von
bisher nicht übersetzten Biographien über Trotzkis Sohn und Genossen Leo Sedow
und den Kopf der russischen Linksopposition Christian Rakowski, weiterhin als
Herausgeber der französischen Werksausgabe von Trotzkis Exilschriften sowie der
Cahiers Léon Trotsky hat Broué als Wissenschaftler entschieden dazu
beigetragen, die mit dem Namen Trotzki verbundene kommunistische Alternative
zum gescheiterten Realsozialismus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
In den Jahren 1954 bis 1963
hatte Isaac Deutschers seine bahnbrechende Trilogie vorgelegt. “Die
Deutscher-Biographie [...] hat sicherlich dazu beigetragen, die Verschwörung
des Schweigens um Trotzki aufzubrechen”, gibt Broué im Vorwort seiner 1988 in
Frankreich erschienenen Trotzki-Biographie zu. “Doch heute stellt sie meiner
Ansicht nach eher ein Hindernis dar, wenn man Trotzki gründlich kennen lernen
möchte [...] .” Eine wesentliche Erweiterung der Quellenlage und der Horizonte
hätten eine neue Biographie erzwungen. Hier ist dem Fazit von Helmut Dahmer,
Mitherausgeber der deutschsprachigen Trotzki-Werksausgabe, zuzustimmen. “Broués
Trotzki-Biographie ist eine überaus nützliche, höchst informative Ergänzung der
`klassischen´ Biographie von Isaac Deutscher.”
Deutscher, der die Gründung der
IV.Internationale ablehnte, hatte organisatorisch Ende der 1930er Jahre mit dem
Trotzkismus gebrochen. Während Deutscher auf Selbstreformkräfte innerhalb der
KPDSU setzte und polemisch Trotzkis “Fehler” beim Kampf um eine neue
Internationale nachzuweisen suchte, gibt Broué diesem Zeitabschnitt im gesamten
zweiten Band “Der Kampf gegen Stalinismus und Faschismus” eine deutlich
stärkere Gewichtung. Dabei folgt er Trotzkis Selbsteinschätzung: “Und doch
glaube ich, dass meine gegenwärtige Arbeit, so ungenügend und fragmentarisch
sie auch sein mag, die bedeutendste Leistung meines Lebens darstellt, wichtiger
als meine Tätigkeit im Jahre 1917, wichtiger als die Arbeit in der Zeit des Bürgerkrieges
usw. ... Gegenwärtig gibt es niemanden außer mir, der die Aufgabe erfüllen
könnte, die neue Generation mit der Kenntnis der Methode der Revolution über
die Köpfe der Führer der Zweiten und Dritten Internationale hinweg
auszurüsten”. In der spannenden und erstmals in dieser Form detailliert
nachgewiesenen Untersuchung der wechselnden Fraktionen der sowjetischen und
internationalen Linksopposition liegt Broués besondere Verdienst. Da für Broué
die Vierten Internationale faktisch schon vor ihrer offiziellen Gründung
existierte, handelt er die Gründungskonferenz am 3. September 1938 im
französischen Périgny lediglich mit einem Halbsatz ab. Leider erfährt der Leser
so fast nichts über das auf dieser Konferenz beschlossene “Übergangsprogramm”.
Dieser von Trotzki in Anlehnung an die Methodik der ersten vier Weltkongresse
der Kommunistischen Internationale verfasste zentrale Text der trotzkistischen
Bewegung versuchte - ausgehend von den Tagesforderungen der Arbeiterklasse -
einen Weg zum Sozialismus aufzuzeigen.
Erschütternd ist die
Darstellung der doppelten Tragödie vom Todeskampf der deutschen Arbeiterklasse
angesichts des Faschismus und dem parallel dazu verlaufenden Todeskampf von
Trotzkis psychisch kranker Tochter Sinaida. Während Trotzki, im türkischen Exil
das tiefste Verständnis für die Treibkräfte des deutschen Faschismus und die
Fehler der KPD-Politik unter Thälmann aufbringt, begegnet er der Krankheit
seiner Tochter mit völligem Unverständnis. Auch als sich Sinaida am 5. Januar
1933 in Berlin das Leben nahm, akzeptierte ihr Vater die psychische Krankheit
nicht, sondern erklärte:. “Sina ist ein Opfer Stalin-Schleichers geworden.”
Einen knappen Monat später folgte der Selbstmord der deutschen Arbeiterbewegung
in der kampflosen Kapitulation vor dem Hitler-Faschismus.
Deutschers Trotzki-Biographie
war große mitreißende Geschichtsschreibung. Dabei blieb — wie Broué nachweist -
häufig die Detailgenauigkeit auf der Strecke. Broués Trotzki ist dagegen in der
nüchternen Sprache des Chronisten verfasst. Im Mittelpunkt steht der Politiker,
nicht der Theoretiker. So findet sich keine wirkliche Darstellung der Theorie
der Permanenten Revolution, die quasi das Herz des Trotzkismus bildet.
Eingegangen wird auf Trotzkis nach der russischen Revolution 1905 verfasste
Schrift “Ergebnisse und Perspektiven”, in er im Unterschied zu den Menschewiki
aber auch zu Lenin von der Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in
Russland ohne vorangegangene bürgerliche Revolution ausging. Doch dieser
Übergang in Permanenz von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution unter
Führung der Arbeiterklasse ist nur ein Element von Trotzkis Theorie. In seiner
von Broué vernachlässigten Schrift “Die permanente Revolution” betonte Trotzki
1930 eine internationale Dimension, die er Stalins Konzept vom “Sozialismus in
einem Land” entgegensetzt. “Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist
im nationalen Rahmen undenkbar. .... die sozialistische Revolution beginnt auf
nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der
Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neueren
breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren
Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem
ganzen Planeten.” Broués Biographie, die bei ihrem ersten Erscheinen an
reformorientierte Schichten der sowjetischen Bürokratie während der Perestroika
adressiert war, unterschlägt diese internationale Dimension. Hier schließt sich
der Kreis zu den Illusionen Deutschers in die Reformfähigkeit des
Sowjetkommunismus.
Deutscher musste sich von
Kritikern wie George Lichtheim “eine diskret verschleierte Apologie für Stalin”
vorwerfen lassen. Dieses Missverständnis war möglich, da seine Analyse der
Sowjetgesellschaft an der Oberfläche der Stalinschen Politik orientiert blieb,
die tatsächlich durch die Industrialisierung und Kollektivierung — bei
Millionen vermeidbarer Opfer! —Erfolge verzeichnete. Bei Broué ist dagegen ein
tieferes auf der marxistisch-dialektischen Methode basierendes Verständnis für
die materiellen Ursachen der bürokratischen Degenerierung des sowjetischen
Arbeiterstaates zu spüren. Gegenüber machttaktisch argumentierenden Autoren
zeigt er, dass sich die von Stalin verkörperte neue bürokratische Kaste auf den
tiefen Verwerfungen der isolierten und rückständigen sowjetischen Ökonomie
erheben konnte. Ein von wohlwollenden nichtmarxistischen Autoren Trotzki
nahegelegter Militärputsch der Roten Armee gegen Stalin hätte diese
Bürokratisierung nicht verhindert, sondern im Gegenteil noch verstärkt.
Entschieden weist Broué auch das in der bürgerlichen Geschichtsschreibung
gängige psychologisch begründete Schema eines Machtkampfes Trotzkis gegen
Stalin zurück.
Es ist den Lektoren des
isp-Verlags zu danken, dass sie bei der Überprüfung der Index- und
Quellenangaben überprüft über 1000 Fehler aus der französischen Originalausgabe
ausgebessert haben. So wurde im Original an einer Stelle noch 1937 als
Gründungsdatum der IV. Internationale genannt. Bei soviel Fleißarbeit des Lektorats
sind kleine Fehler in der deutschen Ausgabe verzeihlich. So heißt es in der
Übersetzung, dass sich Trotzki in seinen Wiener Jahren mit den Führern der
Austromarxisten “im zentralen Café in der Herrengasse” traf. Gemeint ist
natürlich das weltberühmte Café Central, in dem bis heute an den berühmten Gast
erinnert wird.
Ein rund 70 seitiges
Namensregister und eine 20 Seiten lange Chronik mit Daten aus Trotzkis Leben
machen das Buch zum Nachschlagewerk für jeden mit der Geschichte der
Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung Befassten. Leider fehlt
wie schon im französischen Original ein Sachregister.
Die vielen Exzerpte aus den
Schriften Trotzkis machen vor allem Lust, den Revolutionär, der in seiner
sprachlichen Elleganz von allen großen Marxisten Marx am nächsten kam, im
Original zu lesen. Ein Großteil von Trotzkis Werken steht heute dank der als
Einzelschriften beim Essener Arbeiterpresseverlag erschienenen Bücher und der
vom isp-Verlag fortgeführten historisch-kritischen Werksausgabe in deutscher
Sprache zur Verfügung.
Dr. Nikolaus Brauns, München
(Erscheint im Jahrbuch zur Geschichte der Arbeiterbewegung JBzG 2004 / III)