Wahlerfolg
der HDP verhindert Diktaturpläne des türkischen Präsidenten
von Nick
Brauns
Öcalan
schlägt Erdogan – so lässt sich kurz das Ergebnis der türkischen
Parlamentswahlen vom 7.Juni zusammenfassen. Zwar standen weder Staatspräsident
Recep Tayyip Erdogan noch der inhaftierte Vorsitzende
der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Abdullah Öcalan selbst zur Wahl. Doch beide
Politiker haben diese Abstimmung in entscheidendem Masse beeinflusst.
Erdogan
hatte aus der Wahl ein Referendum über die Umwandlung der Republik in ein auf
seine Person zugeschnittenes Präsidialregime ohne Gewaltenteilung gemacht. Um
die dafür notwendigen Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen, hätte seine
seit 13 Jahren allein regierende islamisch-konservative Partei für
Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) mindestens 330 der 550 Parlamentssitze
erobern müssen. Doch die AKP, die vor vier Jahren noch mit fast 50% der Stimmen
gewählt wurde, brach auf 41% ein. Mit nur noch 258 Abgeordneten ist sie
erstmals auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Die kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische
Volkspartei (CHP) verlor rund ein Prozent und kam auf 25%, während die faschistische
Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ihren Stimmenanteil vor allem durch
Gegner der von der AKP begonnenen Friedensgespräche mit PKK-Führer Öcalan um
3,5 Punkte auf 16,5% steigern konnte.
Die HDP
Den entscheidenden Anteil am Scheitern von Erdogans
Diktaturplänen hatte jedoch die linkskurdische Demokratische Partei der Völker
(HDP), der es aus dem Stand gelang, die noch auf die Militärdiktatur der 80er
Jahre zurückgehende 10%-Hürde bei Parlamentswahlen zu überwinden und eine
verfassungsändernde Mehrheit der AKP zu verhindern.
Die HDP ist eine Bündnisorganisation aus der Partei der Demokratischen Regionen
(DBP), die in zahlreichen Kommunen im kurdischen Osten des Landes regiert, mit
linken Kräften wie der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) und der
seit den 1920er Jahren illegalen Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) sowie
Vertretern ethnischer und religiöser Minderheiten wie den Aleviten
und den Assyrern-Aramäern. Ihre Gründung geht auf einen Vorschlag Öcalans
zurück. Damit sollte die Isolation der kurdischen Parteien, die im landesweiten
Schnitt bei Parlamentswahlen bislang nicht über 6,5% der Stimmen hinausgekommen
waren, überwunden und die Schwäche der zersplitterten türkischen Linken
überwunden werden.
Bereits bei der Parlamentswahl im vergangen Jahr vereinigte der charismatische
und wie ein Popstar gefeierte HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas, ein
42jähriger kurdischer Menschenrechtsanwalt, fast 10% der Stimmen auf sich.
Daraufhin regte Öcalan an, die HDP solle diesmal als Partei im ganzen Land
antreten und nicht, wie bei früheren Parlamentswahlen, nur in aussichtsreichen
Wahlkreisen unabhängige Direktkandidaten aufstellen.
Das Programm der HDP konzentriert sich auf Identitätskampagnen zur Anerkennung
aller ethnischen und religiösen Gruppen und zur Gleichberechtigung der Frauen.
Damit erinnert sie mehr an die frühen Grünen als an eine klassenorientierte
sozialistische Partei. Entsprechend weit gespannt ist das Abgeordnetenprofil
der HDP: es reicht von religiösen Kurden über Sozialisten bis zu Aktivisten für
die Rechte der Homosexuellen.
Viele Positionen bleiben vage: So tritt die HDP zwar für «Frieden» ein, doch
das Programm schweigt zur NATO-Mitgliedschaft der Türkei. Eine
EU-Vollmitgliedschaft wird zwar unterstützt, aber «im Rahmen unserer
Prinzipien». Regelmäßig betonte Demirtas die Rechte der Lohnabhängigen, doch
als in der Industriemetropole Bursa Mitte Mai eine Welle wilder Streiks die
dortige Autoindustrie lahmlegte, blieb es bei abstrakten
Solidaritätsbekundungen, die Partei war völlig auf den Wahlkampf konzentriert.
Arbeiter sind im Rahmen der Identitätspolitik der HDP eben nur eine weitere
Bezugsgruppe neben Kurden, Aleviten oder Frauen.
Gründe für
den Wahlerfolg
Um die HDP unter die 10%-Hürde zu drücken, setzten Erdogan und
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu im Wahlkampf auf
extreme Polarisierung. Sie malten das Bild einer Verschwörung, die angeblich
von den Oppositionsparteien über die Gülen-Bewegung, «Terroristen» und
Homosexuelle bis zur «armenischen Lobby» und dem «jüdischen Kapital» reichen
sollte, und diffamierten die HDP als Partei von «Gottlosen». Es folgten über
180 Angriffe von Unbekannten oder nationalistischen Mobs auf HDP-Parteibüros,
Fahrzeuge und Wahlkämpfer. Auf der Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakir
töteten zwei Splitterbomben drei Menschen und verletzten 400 weitere.
Zielten solche Anschläge auf die Einschüchterung der Wähler, so hatten sie den
gegenteiligen Effekt. Dies war auch der Besonnenheit der HDP zu verdanken,
deren Anhänger sich nicht zu gewalttätigen Gegenreaktionen hinreißen ließen,
die sie in den Augen liberaler Wähler in der Westtürkei diskreditiert hätten.
Eine Analyse der Wählerwanderungen zeigt, dass weniger die taktischen Stimmen
traditioneller CHP-Wähler, die Erdogan stoppen wollten, den Ausschlag für den
Sprung der HDP über die 10%-Hürde gaben, sondern die Stimmen
religiös-konservativer Kurden im Osten des Landes ebenso wie in den türkischen
Großstädten. Dieses Wählerspektrum lässt sich nicht länger von der frommen
Rhetorik der AKP und ihren haltlosen Versprechungen in der kurdischen Frage
täuschen. Dazu beigetragen hat auch die Erfahrung des erfolgreichen Widerstands
der syrisch-kurdischen Stadt Kobanê gegen die von der
AKP unterstützten Jihadisten des «Islamischen
Staates».
Sympathien kann die HDP, die im Wahlkampf sowohl von der deutschen Linkspartei
als auch von den Grünen unterstützt wurde, derzeit selbst in Kreisen verbuchen,
die sonst linker Ansichten unverdächtig erscheinen. So
hatte die liberale britische Wirtschaftszeitung The Economist vor Erdogan als
einem «türkischen Putin» gewarnt und unter der Überschrift «Warum Türken
kurdisch wählen sollten» zur Unterstützung der HDP aufgerufen, um das Abgleiten
der Türkei in eine Autokratie zu verhindern. Spätestens seit den Gezi-Park-Protesten vor zwei Jahren ist Erdogans
Ansehen in den Augen westlicher Regierungen und Kapitalgruppen durch seine
zunehmende Unberechenbarkeit rapide gesunken.
Eine
instabile Situation
Solange die Wirtschaft florierte, ging es auch mit der AKP als Bündnispartei
des «grünen Kapitals» stetig aufwärts. Doch das im Parteinamen enthaltene
Versprechen eines fortwährenden Aufschwungs verfängt angesichts der
eingebrochenen Konjunktur und steigender Arbeitslosigkeit nicht mehr. Eine
Folge sind Brüche im herrschenden Block. Diese haben sich bereits in den
letzten eineinhalb Jahren mit dem Zerwürfnis zwischen Erdogan und seinem
langjährigen Verbündeten, dem Imam Fethullah Gülen,
abgezeichnet.
Die Gülen-Bewegung wird inzwischen als «staatsfeindliche Vereinigung» gejagt,
ihr nahestehende Polizisten, Staatsanwälte und Journalisten inhaftiert, ihre
Asya-Bank wurde kurzerhand enteignet. Mit dem vorläufigen Scheitern von Erdogans Plänen dürften die Konflikte innerhalb der AKP
jetzt noch stärker aufbrechen und Erdogan-Kritiker wie der frühere
Staatspräsident Abdullah Gül und Vizepräsident Bülent Arinc
Auftrieb bekommen; auch eine Spaltung der AKP ist nicht ausgeschlossen.
Ein Verlust der Regierung würde für viele AKP-Politiker nicht nur den Verzicht
auf lukrative Pfründe, sondern auch die Gefahr einer Anklage wegen Korruption
bedeuten, da ihnen dann die Kontrolle über die Justiz entzogen wäre. Das
Festhalten an der Macht ist für Erdogan und seine Getreuen deshalb ein existenzielle Frage. Sollte es innerhalb von 45 Tagen
nicht zur Regierungsbildung kommen, müssen nach drei Monaten Neuwahlen
angesetzt werden.
Doch selbst wenn sich die AKP mit der MHP oder der CHP auf die Bildung einer –
dann instabilen – Koalition einigen oder eine Minderheitenregierung bilden
würde, wären vorgezogene Neuwahlen wahrscheinlich. Der Leiter des
US-Think-Tanks Stratfor, George Friedman, warnte, die
Türkei könne in eine «gefährliche Periode politischer Instabilität» ähnlich den
70er Jahren abgleiten. Er verwies dabei auf die Anschläge im Wahlkampf und ein
von ihm befürchtetes Wiederaufflammen der Gewalt in den kurdischen
Landesteilen, sollte der Friedensprozess durch die Regierung abgebrochen
werden. Die Jahre vor dem Militärputsch vom 12.September 1980 waren von
wirtschaftlichem Niedergang, einer Folge handlungsunfähiger
Koalitionsregierungen und Straßenkämpfen mit tausenden Toten zwischen
neofaschistischen und linken Gruppen geprägt.
Als Vorboten einer solchen Entwicklung erscheinen die blutigen
Auseinandersetzungen in der kurdischen Metropole Diyarbakir zwei Tage nach der
Wahl. Nachdem der Vorsitzende einer islamischen Wohlfahrtsorganisation von
Unbekannten erschossen wurde, eröffneten Militante der radikalislamischen
Partei Hüda-Par, die der PKK die Verantwortung an dem
Mord zuschob, das Feuer auf umliegende Geschäfte und Teestuben. Mehrere
HDP-Anhänger wurden dabei getötet. HDP-Chef Demirtas beklagte das Schweigen der
noch amtierenden Regierung zu diesen Provokationen und warnte vor Kräften, die
einen Bürgerkrieg losbrechen wollten.
Die Gefahr ist real. Schon während der Solidaritätsdemonstrationen mit Kobanê im Oktober letzen Jahres waren bei mehrtägigen
blutigen Auseinandersetzungen mit den unter Polizeischutz agierenden
islamistischen Milizen über 40 Menschen getötet worden. Erdogan könnte darauf
setzen, mit einer Strategie der Spannung das Land ins Chaos zu treiben, um sich
dann bei vorgezogenen Neuwahlen als starker Mann und Garant der Ordnung zu
präsentieren.
Aus: SoZ – Sozialistische Zeitung
7/2015