VORWÄRTS/1266:
100 Jahre Oktoberrevolution - Neues Kapitel der Weltgeschichte
vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 05/06 vom
17. Februar 2017
Einführung
der vorwärts-Redaktion
Debatte: Oktoberrevolution
Die sozialistische Revolution im Jahr 1917 angeführt von Lenin hat die Welt
verändert. Darüber besteht kein Zweifel. Doch welche Bedeutung hat sie 100
Jahre später in einer im Vergleich zu damals völlig anderen Welt? Welche Lehren
und Schlüsse können heute für die Zukunft gezogen werden? Diesen und vielen
anderen Fragen wollen wir im vorwärts über das ganze Jahr 2017 auf die Spur
gehen. In dieser Reihe werden Analysen und Diskussionsbeiträge, aber auch
Interviews und persönliche Erinnerungen erscheinen. Wir freuen uns auf eine
breite und sicher auch kontroverse Debatte!
Neues
Kapitel der Weltgeschichte
von
Nick Brauns
Das russische Reich wurde im Herbst
1917 immer stärker von einer gesamtnationalen Krise erfasst. Die Wirtschaft
verfiel zusehends, der Zusammenbruch der Staatsfinanzen drohte, Hungerunruhen
erschütterten das Land. Hunderttausende SoldatInnen
begannen, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie von der Front
desertierten. BäuerInnen brannten die Gutshöfe nieder
und besetzten die Ländereien. Eine Streikwelle durchzog das Land, ArbeiterInnen sperrten die Betriebsleiter ein. In den
nichtrussischen Landesteilen des Zarenreiches - so in der Ukraine, in Belarus,
Polen, Bessarabien, im Baltikum und in Finnland - wurde die Forderung nach
Unabhängigkeit lauter.
Die Provisorische Regierung unter dem Sozialrevolutionär Alexander Kerenski konnte keine der Forderungen der Volksmassen nach
Brot, Land und Frieden einlösen. Statt dessen befahl Kerenski, das Kriegsrecht gegen die aufständischen BäuerInnen anzuwenden. Gegen LandbesetzerInnen
liess er ebenso eine Strafexpedition marschieren wie
gegen den Sowjet von Taschkent. Um der wachsenden ArbeiterInnenbewegung
entgegenzutreten, schlossen viele UnternehmerInnen
ihre Betriebe und warfen Zehntausende ArbeiterInnen
auf die Strasse.
Revolutionäre Situation
Das noch von den sozialdemokratischen Menschewiki und
den bäuerlich-sozialistischen SozialrevolutionärInnen
beherrschte Zentralexekutivkomitee der Sowjets versuchte, die wachsende
Unzufriedenheit durch die Einberufung einer »Gesamtrussischen
Demokratischen Beratung« für den 14. September aufzufangen. Auf ihr standen die
mittlerweile meist auf bolschewistische Positionen übergegangenen Räte als
Minderheit kommunalen Selbstverwaltungsorganen und Genossenschaften gegenüber.
Letztere entsprachen in ihrer Zusammensetzung längst nicht mehr der
gegenwärtigen Radikalisierung, sicherten aber den gemässigten
Sozialisten eine solide Mehrheit, mit der sie die Bildung eines »Vorparlaments«
beschlossen. Das Vorparlament unterstützte die Neubildung der Provisorischen
Regierung mit Kerenski an der Spitze unter
Einbeziehung der bürgerlichen Kadettenpartei, die zuvor noch offen mit dem
gescheiterten Putsch von General Lawr Kornilow und der Errichtung einer Militärdiktatur
sympathisiert hatte. Natürlich konnte auch diese bürgerlich-sozialdemokratische
Koalitionsregierung die Krise des Landes nicht lösen. Es bildete sich eine
klassisch revolutionäre Situation heraus, in der die Herrschenden nicht mehr
weitermachen konnten wie bisher, die Beherrschten aber nicht mehr gewillt
waren, sich der alten Herrschaft zu beugen.
Militärdiktatur droht
Lenin hatte dies in seinem finnischen Exil, wohin er aufgrund eines Haftbefehls
der Kerenski-Regierung nach den Juli-Unruhen fliehen
musste, besser erkannt als viele führende Bolschewiki in Russland. »Nachdem die
Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider
Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht
in ihre Hände nehmen«, drängte er in einem Brief an das ZK »Die Bolschewiki
müssen die Macht ergreifen«, geschrieben 25. bis 27. September, zum Aufstand.
Denn nur die Bolschewiki besassen ein dem Volk
verständliches Programm, womit das Land aus der Krise geführt werden konnte.
Die wichtigsten Massnahmen dieses Übergangsprogramms,
dass an den unmittelbaren Bedürfnissen der Massen anknüpfte, in seiner Konsequenz
aber zur Beseitigung der kapitalistischen Schranken führte, hatte Lenin zuvor
in dem Artikel »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll« zusammengefasst:
»1. Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank und staatliche Kontrolle
über ihre Operationen oder Nationalisierung der Banken. 2. Nationalisierung der
Syndikate, d. h. der grössten, der monopolistischen
Verbände der Kapitalisten (Zucker-, Erdöl-, Kohlen-, Hüttensyndikat usw.). 3.
Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses. 4. Zwangssyndizierung (d.h.
Zwangsvereinigung in Verbänden) der Industriellen, Kaufleute und Unternehmer
überhaupt. 5. Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften oder
Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über sie«. Die konsequente Realisierung
dieser Massnahmen bedeutete jenen entschlossenen
Schritt zum Sozialismus, vor dem die sozialdemokratischen Parteien
zurückschreckten. Die Alternative aber war der Zusammenbruch des Landes und die
Errichtung einer Militärdiktatur im Interesse der KapitalistInnen,
GrossgrundbesitzerInnen und der mit Russland
verbündeten imperialistischen Westmächte. Die einzige Chance zur Rettung der
Revolution bestand so in der Übernahme der Macht durch die in den Räten
führenden Bolschewiki. Einen Mittelweg gab es nicht. Doch das Zentralkomitee
(ZK) der Bolschewiki zögerte und beschloss erschrocken, Lenins Brief mit der Aufstandslosung zu verbrennen. Wie schon in den Apriltagen
fand sich Lenin in Opposition zum Zentralkomitee, dem er Passivität und
Versöhnlertum vorwarf. In seiner Verzweiflung hatte er sogar seinen Austritt
aus dem ZK beantragt, um sich die Freiheit der Agitation in den unteren
Parteiorganisationen und auf dem Parteitag vorzubehalten.
Bewaffneter Aufstand unumgänglich
Gegen die ausdrückliche Weisung seiner GenossInnen
kehrte Lenin am 20. Oktober 1917 getarnt als Priester ohne Bart, aber mit
Perücke in die russische Hauptstadt zurück. Dort konnte er am 23. Oktober seine
Aufstandspläne endlich direkt vor dem Zentralkomitee
vortragen. Es sei eine gewisse Gleichgültigkeit für die Frage des Aufstandes zu
beobachten, kritisierte er. Die internationale Lage - ein Aufstand in der
deutschen Flotte als Ausdruck des Heranwachsens der sozialistischen Revolution
in ganz Europa; die Gefahr eines Friedensschlusses zwischen den kämpfenden
imperialistischen Lagern mit dem Ziel, die russische Revolution zu erdrosseln; Kerenskis Absicht, das revolutionäre Petrograd
den Deutschen auszuliefern; die Vorbereitung eines weiteren gegenrevolutionären
Putsches; landesweite BäuerInnenaufstände und die
Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die Bolschewiki - all dies setzte
den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung. Nach einer zehnstündigen
erregten Debatte stimmten im Morgengrauen des 24. Oktober zehn ZK-Mitglieder
für die von Lenin mit einem Bleistiftstummel auf einer karierten Schulheftseite
hastig niedergeschriebene Resolution, in der es heisst:
»Das Zentralkomitee stellt somit fest, dass der bewaffnete Aufstand
unumgänglich und völlig herangereift ist«. Ohne einen genauen Termin
festzulegen, einigten sich die ZK-Mitglieder darauf, den Aufstand unmittelbar
vor dem kommenden allrussischen Sowjetkongress durchzuführen und anschliessend von diesem legitimieren zu lassen.
Die »Streikbrecker«
Gegen die Aufstandslosung votierten Grigori J. Sinowjew und Lew B. Kamenew. Eine
solche Aktion sei verfrüht. Vielmehr gehe es darum, im Rahmen einer
Doppelherrschaft aus konstituierender Versammlung, in der die Bolschewiki eine
starke Oppositionskraft bilden würden, und Sowjets, in denen die Bolschewiki in
der Mehrheit waren, die Macht zu erobern. Unter offener Missachtung der
Parteidisziplin verrieten Sinowjew und Kamenew den noch nicht veröffentlichten Aufstandsbeschluss
in einer nichtbolschewistischen Zeitung. Lenin empörte sich über dieses »Streikbrechertum« seiner langjährigen Weggefährten: »Ich
sage offen, dass ich beide nicht mehr als Genossen betrachte und mit aller
Kraft sowohl im ZK als auch auf dem Parteitag für den Ausschluss der beiden aus
der Partei kämpfen werde«. Rückendeckung bekamen die »Streikbrecher« dagegen
vom Chefredakteur der »Rabotschi Put«,
Josef Stalin, der die »Schärfe« des Leninschen
Briefes rügte und seine »wesentliche« Gesinnungsgenossenschaft mit Sinowjew und Kamenew bekundete.
»Die Eroberung der Verwaltungsorgane«
Am 25. Oktober beschloss das Exekutivkomitee des Petrograder
Sowjets die Errichtung eines Revolutionären Militärkomitees (RMK) aus VerteterInnen der Sowjets, des Zentralkomitees der
baltischen Flotte, des Finnischen Gebietskomitees, der Betriebskomitees und der
Militärorganisation beim ZK der Bolschewiki. Offiziell diente dieses von Leo
Trotzki geleitete Komitee - dem sich die Petrograder
Garnison ebenso bereitwillig unterstellte wie die seit der Niederschlagung des Kornilow-Putsches bestehende rotgardistische
Arbeitermiliz - als revolutionärer Stab zur Verteidigung der Stadt gegen eine
drohende deutsche Offensive, gegen Pogrome und zur Aufrechterhaltung der
revolutionären Disziplin unter SoldatInnen und ArbeiterInnen. Doch praktisch war das RMK das legale Organ
zur Umsetzung des Aufstandsplans.
Zu einer gewaltigen Heerschau der revolutionären Kräfte wurde der »Tag des Petrograder Sowjets« am 4. November. In Betrieben und
Truppenteilen, Konzerthallen, Kinos und im Zirkus fanden Massenkundgebungen
statt. Die Stadt wurde überflutet von revolutionären ArbeiterInnen,
BäuerInnen und SoldatInnen.
Eine gegenrevolutionäre Verschwörung stand unmittelbar bevor. Der Stab der Petrogarder Garnison, der das RMK nicht anerkannte, liess Offiziersschüler in die Stadt einrücken. Am frühen
Morgen des 6. November wurde die Druckerei des bolschewistischen Zentralorgans Rabotschi Put von den
Offiziersschülern geschlossen und das Telefonamt besetzt. Das RMK schickte eine
Abteilung MatrosInnen zu diesem Amt und stellte zwei
kleine Geschütze auf. So begann die Eroberung der Verwaltungsorgane durch die
Bolschewiki.
»Die provisorische Regierung ist
gestürzt«
Ohne Blutvergiessen öffneten RotgardistInnen
die Druckerei der »Rabotschi Put«
wieder. Um 14 Uhr erschien die Zeitung mit dem Aufruf zum Sturz der
Provisorischen Regierung: »Alle Macht den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und
Bauern! Friede, Land, Brot!« Entweder die Macht
verbleibe in den Händen der Bourgeoisie und GutsbesitzerInnen, hiess es - das bedeute Fortsetzung des Krieges, Hunger und
Tod -, oder die revolutionären ArbeiterInnen, BäuerInnen und SoldatInnen
übernehmen die Macht. Das sei die Zerschmetterung
der Gutsbesitzertyrannei und die Niederlage der KapitalistInnen.
Die BäuerInnen würden das Land erhalten, die ArbeiterInnen die Kontrolle über die Industrie, die Hungernden Brot, ein sofortiger gerechter Frieden werde
verkündet, versprachen die Bolschewiki.
Zum Schutz des Petrograder Sowjets im Smolny liess das RMK zum
Schrecken der SozialdemokratInnen eine
Maschinengewehrabteilung aufziehen. »Es ist sonnenklar, dass jetzt eine
Verzögerung des Aufstands schon wahrhaftig den Tod bedeutet«, warnte Lenin an
diesem Abend. »Man muss um jeden Preis heute abend, heute nacht die
Regierung verhaften«.
In dieser Nacht besetzten revolutionäre Truppenteile, Kronstädter
MatrosInnen und RotgardistInnen
nach dem zuvor von Trotzki ausgearbeiteten Plan fast lautlos die
Regierungsgebäude, Post- und Telegraphenämter, Bahnhöfe, das Elektrizitätswerk
und die Zentralbank. Nirgendwo stiessen sie auf
wirklichen Widerstand, häufig wurden sie von revolutionären ArbeiterInnen
schon erwartet. BeobachterInnen vermerkten erstaunt,
dass selbst die Strassenbahnen während der Revolution
weiterfuhren. RotgardistInnen verhinderten, dass die
Brücken über die Newa aufgezogen wurden, um die
Innenstadt von den Arbeiterbezirken abzuriegeln. Am Morgen des 7. November
befand sich Petrograd mit Ausnahme des Winterpalais,
in dem sich die Provisorische Regierung verschanzt hatte, unter der Kontrolle
der Revolutionäre.
»Die Provisorische Regierung ist gestürzt«, erklärte Lenin um 10 Uhr vormittags
in einem Aufruf des RMK »an die Bürger Russlands«. »Die Sache, für die das Volk
gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die
Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer am Grund und Boden, die
Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung - sie
ist gesichert«. Zu diesem Zeitpunkt flüchtete Kerenski
in einem Wagen der US-Botschaft zu den Truppen der Nordfront.
»Der Sturm auf den Winterpalast«
Erstmals nach den Juli-Unruhen trat Lenin am Nachmittag auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets wieder an die Öffentlichkeit. »Die
unterdrückten Massen werden selbst die Staatsmacht schaffen. Der alte
Staatsapparat wird von Grund aus zerschlagen und ein neuer Verwaltungsapparat
in Gestalt der Sowjetorganisationen geschaffen werden«, kündigte er an. »In
Russland müssen wir jetzt den Aufbau des proletarischen sozialistischen Staates
in Angriff nehmen«. Als Verbündete benannte Lenin die Arbeiterbewegung in den
anderen kriegführenden Staaten und seine Rede schloss mit dem Ruf: »Es lebe die
sozialistische Weltrevolution.«
Gegen 18 Uhr hatten die RevolutionärInnen den
Winterpalast umzingelt. Der Sturm auf das von Offiziersschülern und einem
Frauenbataillon verteidigte Gebäude begann gegen 21 Uhr mit dem berühmten
Signalschuss des in der Newa vor Anker gegangenen
Kreuzers »Aurora«. Die eingedrungenen SoldatenInnen und MatrosInnen
stiessen nur auf geringen Widerstand. »Im nächsten
Raum trafen wir auf eine ganze Gruppe von Menschen, die die Provisorische
Regierung darstellten. Sie sassen
am Tisch, ein gräulich bleicher, zitternder Fleck«, schilderte der mit einem
Künstlerhut und Zwicker gekleidete Sekretär des RMK, Wladimir Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko.
»Im Namen des Revolutionären Militärkomitees erkläre ich Sie für verhaftet!« Die Minister wurden in die Kerker der Peter-Pauls-Festung
gebracht.
Beim Sturm des Winterpalastes waren fünf revolutionäre Matrosen und ein Soldat
getötet worden, auf Seite der Verteidiger gab es keine Toten. Dass diese sechs
Gefallenen die einzigen Toten der Oktoberrevolution in Petrograd
blieben, zeigt, wie morsch das alte bürgerliche System und wie gering die
Unterstützung für die Provisorische Regierung bereits war.
Russland wird Räterepublik
Während noch Schüsse vom Winterpalast ertönten, eröffnete Kamenew
um 22.45 Uhr nachts im Smolny, einer ehemaligen
Klosterschule für adelige Mädchen, den Zweiten Gesamtrussischen
Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Von den 649 Delegierten
gehörten jetzt 390 zu den Bolschewiki, 160 zu den SozialrevolutionärInnen
und 72 zu den Menschewiki. Angesichts dieser
Mehrheitsverhältnisse verliessen die rechten SozialrevolutionärInnen und Menschewiki
unter Protest gegen die Erstürmung des Winterpalastes den Kongress. Im Namen
der bolschewistischen Fraktion verlas Anatoli Lunatscharski
den von Lenin verfassten Aufruf »An die Arbeiter, Soldaten und Bauern!«. Darin wurde die Übernahme der ganzen Macht durch die
Räte verkündet, und diese wurden beauftragt, eine revolutionäre Ordnung zu
gewährleisten. Um fünf Uhr morgens bestätigte der Kongress dieses Dokument bei
zwei Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen. Damit wurde Russland zur
Räterepublik.
Die folgende Sitzung des Sowjetkongresses in der Nacht zum 9. November
dominierte Lenin. Nach minutenlangem Applaus verlas er eine »Proklamation an
alle kriegführenden Völker und Regierungen«, in der der imperialistische Krieg
zum grössten Verbrechen an der Menschheit erklärt und
ein sofortiger Frieden ohne Annexionen und Kontributionen angeboten wurde. Die
Sowjetregierung werde die Geheimdiplomatie abschaffen und alle Verhandlungen
offen vor dem Volk führen. Geheimverträge der Provisorischen Regierung, die den
Zweck hatten, den russischen GutsbesitzernInnen und KapitalistInnen Privilegien zu verschaffen und die Annexion
der GrossrussInnen auf Kosten anderer Völker
aufrechtzuerhalten, würden bedingungslos und sofort gekündigt. Abschliessend folgte ein Aufruf an die »klassenbewussten
Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der
Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands,
Frankreichs und Deutschlands«, »die Sache des Friedens und zugleich damit die
Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder
Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen«. Einstimmig wurde
diese erste Deklaration der Sowjetmacht, die den Ausstieg Russlands aus dem
gegenseitigen Völkermorden bedeutete, angenommen und mit dem Absingen der
Internationale gefeiert.
Revolutionäre Realpolitik
Um zwei Uhr wurde das nächste Versprechen der Revolution eingelöst. »Das
Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede
Entschädigung aufgehoben«, verkündete das »Dekret über Grund und Boden«. Die
Verwaltung der entschädigungslos enteigneten Ländereien wurde den Landkomitees
und Bauernräten anvertraut. Als Richtlinie für die zukünftige Bodenverteilung
sollten die vom sozialrevolutionär dominierten Rat der Bauerndeputierten
festgelegten Anweisungen dienen, das Land denen zur Nutzung zu überlassen, die
es selbst bearbeiten wollten. Weiterverkauf oder die Beschäftigung von
LohnarbeiterInnen auf diesem Land sollte verboten werden. Das »Dekret über
Grund und Boden« ist ein Meisterstück von Lenins »revolutionärer Realpolitik«
(Georg Lukács). Um die Millionenmasse der Bauern, die auch innerhalb der Armee absolut
dominierten, für die Revolution zu gewinnen oder sich wenigstens ihre
wohlwollende Neutralität zu erkaufen und ein politisches Bündnis mit der neu
entstandenen Partei der Linken SozialrevolutionärInnen
zu schliessen, übernahm Lenin kurzerhand deren
Programm in der Landfrage. »Als demokratische Regierung können wir einen
Beschluss der Volksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht
einverstanden wären«, begründete Lenin diese vorübergehende Abkehr vom
marxistischen Programm der Kollektivierung der Landwirtschaft zugunsten von
Kleinfarmen. »Das Leben ist der beste Lehrmeister, es wird zeigen, wer recht
hat; mögen die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem einen Ende herangehen
und wir von dem anderen. [...] Das Wesentliche ist, dass die Bauernschaft die
feste Überzeugung gewinnt, dass es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt,
dass es den Bauern selbst überlassen wird, alle Fragen zu entscheiden, selbst
ihr Leben zu gestalten«.
»Übergang zu den laufenden Geschäften«
Schliesslich konstituierte sich auf dem
Sowjetkongress die Arbeiter- und Bauernregierung, deren Minister sich zur
Abgrenzung von bürgerlichen Kabinetten Rat der Volkskommissare nannten. Da die
Linken SozialrevolutionärInnen nicht bereit waren,
dieser Regierung beizutreten, solange die anderen sozialistischen Parteien
abseits standen, gehörten dem Rat der Volkskommissare nur Bolschewiki an. Lenin
wurde dessen Vorsitzender und damit russischer Regierungschef. Trotzki war für
die Aussenpolitik zuständig, Stalin für Nationalitätenfragen. Militär- und Marineangelegenheiten
wurden einem dreiköpfigen Komitee von Alexandrowitsch
Antonow-Owsejenko, Nikolai W. Krylenko
und Pawel J. Dybenko übertragen. Volkskommissar für
Volksaufklärung wurde Anatoli W. Lunatscharski. Abschliessend erfolgte die Neuwahl des 101köpfigen
Zentralexekutivkomitees der Räte, in das neben 62 Bolschewiki auch 29 linke SozialrevolutionärInnen gewählt wurden.
Eine Episode am Rande beschreibt Trotzki: »Die Macht ist erobert, mindestens in
Petrograd. Lenin hat noch keine Zeit gehabt, seinen
Kragen zu wechseln. Auf dem müden Gesicht wachen Lenins Augen. Sie blicken auf
mich freundschaftlich milde, mit eckiger Verlegenheit innere Nähe ausdrückend.
'Wissen Sie', sagte er zögernd, 'gleich nach den Verfolgungen und der
Illegalität zur Macht (...)', er suchte nach einem Ausdruck, geht plötzlich in
die deutsche Sprache über: 'es schwindelt'. Er macht eine kreisende
Handbewegung um den Kopf. Wir blicken einander an und lächeln kaum. Das Ganze
dauert kaum eine bis zwei Minuten. Dann - einfacher Übergang zu den laufenden
Geschäften«
Zum
Autor
Nick Brauns promovierte in München über die Rote Hilfe
Deutschlands. Er veröffentlichte eine Reihe von Büchern und Artikeln zur
Geschichte der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland sowie zur Geschichte und
Politik der Türkei und des Nahen Ostens. Er ist seit 1997 regelmässiger
freier Autor der Tageszeitung "junge Welt", deren bayerisches
Regionalbüro er im Jahr 2006 für ein Jahr geleitet hatte. Brauns lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2007 ist er dort als
wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen Sprecherin der
Linksfraktion Ulla Jelpke im Deutschen Bundestag tätig. Er gehört selbst keiner
Partei an. Er ist Vorsitzender des nach einem unter dem Nationalsozialismus
ermordeten Rechtsanwalt der Roten Hilfe Deutschlands benannten Hans
Litten-Archiv e.V. (Verein zur Errichtung und Förderung eines Archivs der
Solidaritätsorganisationen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und der sozialen
Bewegungen) in Göttingen.
*
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 05/06/2017 - 73. Jahrgang - 17. Februar 2017, S. 10-11
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