Junge Welt 28.06.2004 Titel

 

Zehntausende gegen Bush und NATO  

Großdemonstration prangerte Kriegspolitik der USA und des Nordatlantikpakts an  

 

»Istanbul ist heute das Zentrum des Antiimperialismus«, verkündete Sami Evren, der Vorsitzende der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes der Türkei (KESK) am Sonntag unter dem Applaus von Zehntausenden Demonstranten. Bis zu 50 000 Menschen waren in Istanbul dem Aufruf der »Allianz gegen die NATO und Bush« zur Teilnahme an der Manifestation gefolgt. Da die Polizei angekündigt hatte, alle Proteste in der Innenstadt, wo ab dem heutigen Montag der NATO-Gipfel stattfindet, sofort gewaltsam zu beenden, mußte die Demonstration im Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt stattfinden.

Ohne Zwischenfälle zogen die großen Blöcke von Gewerkschaftern, der Türkischen Kommunistischen Partei, der Freiheits- und Solidaritätspartei (ÖDP), verschiedener maoistischer Parteien und eine lautstarke Gruppe des Bündnisses »Anarchistanbul« durch die Stadt. Ein Gewerkschaftsredner appellierte auf der Schlußkundgebung an die Entführer von drei türkischen Arbeitern im Irak, diese freizulassen und betonte zugleich, die Istanbuler Demonstration sei der Beweis, daß das türkische Volk die Besatzung des Zweistromlandes ablehne. »Wir stehen auf der Seite der Menschen in Irak und Palästina«, erklärte auch Emin Soganci, der Vorsitzende der Architekten- und Ingenieursgewerkschaft TMMOB.

Bereits am Samstag war es in vielen türkischen Städten zu Protesten gekommen. In der kurdischen Metropole Díyarbakir gingen Mitglieder der Gewerkschaft KESK auf die Straße. Nach Steinwürfen aus dem Block der Sozialistischen Plattform der Unterdrückten griff die Polizei in Ankara eine Demonstration von rund 5 000 NATO-Gegnern mit Knüppeln und Tränengas an.

Noch unmittelbar vor dem NATO-Gipfel haben sich die 26 Mitgliedstaaten der Allianz »im Grundsatz« auf eine Unterstützung der irakischen »Übergangsregierung« verständigt. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer teilte am Wochenende mit, der Militärpakt werde einem Gesuch des designierten irakischen Ministerpräsidenten Ijad Allawi nachkommen und bei der Ausbildung von Polizei und Streitkräften helfen. Die Einzelheiten sollen von den Staats- und Regierungschefs geklärt werden, die bereits am Sonntag abend in Istanbul eintreffen sollten. Allawi hatte die NATO vergangene Woche darum gebeten, bei der Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte zu helfen, zudem soll die NATO technische Hilfe leisten. Die NATO hatte zuvor eine entsprechende »Bitte« Bagdads zur Voraussetzung für ein Eingreifen gemacht und die »Übergangsregierung« faktisch zu diesem Schritt gedrängt.

In der Frage, ob die NATO in Irak präsent sein wird oder nicht, zeichneten sich am Sonntag allerdings unterschiedliche Positionen ab. Der US-amerikanische NATO-Botschafter Nicholas Burns sprach sich bei einer Konferenz des German Marshall Funds in Istanbul für eine NATO-Kommandozentrale in Bagdad aus. Die deutsche Bundesregierung bekräftigte dagegen ihre Skepsis gegenüber einem verstärkten Engagement der Allianz. In Regierungskreisen hieß es am Sonntag allerdings einschränkend, Deutschland werde die NATO nicht an einem Engagement hindern.

Unterdessen hat sich US-Präsident George W. Bush während seines Besuchs in der Türkei erneut für eine Aufnahme des Landes in die Europäische Union ausgesprochen. Die türkische Regierung sollte ein Datum für die endgültige Mitgliedschaft in der EU erhalten, sagte Bush am Sonntag in Ankara. Schon am Samstag beim EU-USA-Gipfel in Irland hatte Bush erklärt, die Türkei müsse in die EU aufgenommen werden, wenn sie die entsprechenden Bedingungen erfülle. Auf dem Gipfeltreffen hatten EU und USA ihr »Engagement beim Wiederaufbau« des Irak bekräftigt und Unterstützung beim Schuldenabbau versprochen. In einer gemeinsamen Stellungnahme bekannten sich die Unterzeichner zur Mission der multinationalen Truppen in Irak.

 

Nick Brauns, Istanbul