Aus: junge Welt Ausgabe vom 01.06.2019
Das Haus des
Schreckens
Das Museum der
Befreiung in der Via Tasso erinnert an den Widerstand gegen die
Terrorherrschaft der Nazis in Rom
Nick Brauns
Die Via Tasso ist heute eine unscheinbare Straße mit Wohnhäusern im
gutbürgerlichen Esquilino-Viertel von Rom, wenige
Gehminuten von den Touristenströmen um die päpstliche Lateranbasilika.
Bei dem Straßennamen »Via Tasso« sei es den Römern »kalt den Rücken
heruntergelaufen«, schrieb die römische Adlige Marchesa Fulvia Ripa di Meana, die enge Verbindungen zum königstreuen Widerstand
hatte, in ihren Erinnerungen über die Zeit der neunmonatigen deutschen
Besatzung der »ewigen Stadt« im Zweiten Weltkrieg. In einem Ende der 30er Jahre
erbauten fünfgeschossigen Wohnhaus mit den Nummern 145–155 befand sich damals
die Zentrale der »Sicherheitspolizei« (Sipo) und des
SS-»Sicherheitsdienstes« (SD). Ihr Cousin, Oberst Giuseppe Montezemolo, war als
Leiter der Geheimen Militärfront und Verbindungsmann zu den Alliierten selbst
in der Via Tasso gefangen und dort schwer gefoltert worden. Seine Zelle ist
heute im Originalzustand im Historischen Museum der Befreiung Roms zu sehen.
Dieses staatliche Museum wurde 1957 auf drei Stockwerken in den Räumlichkeiten
der ehemaligen Folterzentrale der Nazis eröffnet. Es bildet heute zusammen mit
den Ardeatinischen Höhlen den wichtigsten Gedenkort
an die Schrecken der Besatzungszeit in Rom.
Offene Stadt
Nach dem Sturz des faschistischen Diktators Benito Mussolini durch einen
Palastputsch im Juli 1943 hatte die neu gebildete Regierung unter Marschall
Pietro Badoglio Rom zum Schutze der Zivilbevölkerung und der Kulturgüter zur
»offenen Stadt« erklärt. Dieser Begriff bezeichnet im Kriegsrecht einen Ort,
der nicht verteidigt wird und daher weder angegriffen noch bombardiert werden
darf. Doch unmittelbar nach dem Waffenstillstand der Regierung Badoglio mit den
Alliierten rückte die Wehrmacht in Rom ein. An der ehemaligen Stadtgrenze an der Porta San Paolo lieferten sich am 10. September 1943
Zivilisten, Partisanen und Teile der italienischen Armee einen aussichtslosen
Kampf mit den überlegenen deutschen Truppen, dem fast 600 Verteidiger zum Opfer
fielen.
Entsprechend der Regelung als offene Stadt wurde die Wehrmacht nach der
Einnahme Roms wieder abgezogen, doch es blieb die zur Polizeitruppe erklärte
SS. Die Terrorherrschaft der Nazis in Rom war eng mit den Namen des
Kommandanten der Sicherheitspolizei und des SD-Obersturmbannführers, Herbert
Kappler, und seines Untergebenen, Erich Priebke, verbunden. Der 1907 in
Stuttgart geborene Kappler gehörte seit 1931 der NSDAP und der SS an. 1939
wurde er Verbindungsbeamter zur italienischen Polizei in Rom und ab 1942
Polizeiattaché an der deutschen Botschaft. Kapplers Attachébüro
befand sich bereits in dem Gebäude in der Via Tasso. Nach dem Ausbau des Hauses
zur Zentrale der Sicherheitspolizei blieben die Fensterläden stets geschlossen.
Bewohner der gegenüberliegenden Gebäude durften ihre Häuser nur noch durch den
Hintereingang betreten. Im heutigen Museum wurden die meisten Räume im
Originalzustand belassen, mit alten Wohnzimmertapeten, vergitterten Zellentüren
und teilweise zugemauerten Fenstern. Die Zelle, in der Montezemolo gefangen
war, ist anhand ihrer gekachelten Wände noch als ehemalige Küche zu erkennen.
»Mir ist es am wichtigsten, dass das hier ja eigentlich kein Museum, sondern
der echte Ort ist, an dem die Ereignisse stattfanden. Wir haben in Italien nur
wenige solcher authentischer Erinnerungsorte«, betont Giovanna Valori die Bedeutung des Hauses. Die 78jährige pensionierte
Englischlehrerin gehört zu einem Kreis vorwiegend älterer Damen, die das Museum
betreuen und Besucher herumführen. Neben italienischen Schulklassen kommen
regelmäßig US-amerikanische Studenten, die in der Bibliothek und dem Archiv des
Museums recherchieren. Das magere staatliche Budget reicht gerade mal für eine
hauptamtlich angestellte Wärterin. Alle anderen einschließlich des Direktors
sind ehrenamtlich tätig. Hilfe erhalten sie auch von unerwarteter Seite: Der
Verband der Carabinieri im Ruhestand unterstützt das
Museum – im Gedenken an über 600 Angehörige dieser damals königstreuen
Polizeitruppe, die nach ihrer von Kappler befohlenen Deportation in Arbeits-
und Konzentrationslagern ihr Leben verloren hatten.
In einem Trakt des Museums befindet sich heute eine Ausstellung zum
Schicksal der römischen Juden. Kappler hatte 50 Kilogramm Gold als Schutzgeld
von der jüdischen Gemeinde erpresst und dafür zugesagt, den Juden der Stadt
werde kein Leid geschehen. Doch am 16. Oktober 1943 durchkämmten Ordnungs- und
Sicherheitspolizei das Ghetto am Tiber. 1.259 Juden, vor allem Frauen und
Kinder, wurden verhaftet. »Judenaktion heute nach büromäßig bestmöglichst
ausgearbeitetem Plan gestartet und abgeschlossen«, meldete Kappler per Funk an
seinen Vorgesetzten. Zwei Tage später wurden die Inhaftierten vom Bahnhof Tiburtina aus in Viehwaggons in das Vernichtungslager
Ausschwitz abtransportiert. Fast keiner der Verschleppten überlebte die Schoah.
Resistenza
Unmittelbar nach der Besatzung Roms hatten sich sechs italienische Parteien
– von den Kommunisten bis zu den Christdemokraten – zum Komitee der Nationalen
Befreiung (CLN) zusammengeschlossen, um den bewaffneten und politischen Kampf
gegen die Nazibesatzung und kollaborierende italienische Faschisten
aufzunehmen. Unabhängig vom CLN operierte die aus königstreuen Soldaten
gebildete und der Badoglio-Regierung verpflichtete Geheime Militärfront. In
einigen römischen Vororten gelang es den Kräften des Widerstandes
vorübergehend, die Kontrolle zu übernehmen. So kam es gegen die von den
Besatzern verfügte Brotrationierung im April 1944 zu Protesten durch Frauen in
Arbeitervierteln, die erst abebbten, als die SS willkürlich zehn Frauen nach
der Plünderung einer Bäckerei für Wehrmachtsangehörige erschoss.
Die Resistenza reichte von der Verbreitung
illegaler antifaschistischer Zeitungen über das Hinausschleusen
von Juden aus der Stadt mittels falscher Papiere bis hin zu bewaffneten
Angriffen auf die Besatzer. In einer Vitrine des Museums befinden sich dreizackige
Nägel, wie sie von den Partisanen auf die Straße gestreut wurden, um die Reifen
der deutschen Militärfahrzeuge zum Platzen zu bringen. Flugblätter, Plakate und
Zeitungen verdeutlichen die Breite der Widerstandsbewegung, die von
Monarchisten bis zu Linksradikalen reichte. So gab es neben der starken
Kommunistischen Partei Italiens (PCI) auch die »Bewegung der Katholischen
Kommunisten«. Und in einigen proletarischen Vororten Roms verfügte die
»Kommunistische Bewegung Italiens« über Einfluss. In ihrer Zeitung Bandiera Rossa warf diese trotzkistisch
beeinflusste Strömung dem PCI wegen dessen Bündnis mit patriotischen
bürgerlichen und adeligen Kreisen Verrat an der klassenkämpferischen Agenda
vor.
Die Widerstandskämpfer konnten sich unter der Bevölkerung wie die Fische im
Wasser bewegen. »Die eine Hälfte der Stadt hielt die andere Hälfte verborgen«,
erklärt Museumsführerin Giovanna Valori. Kapplers
Hauptinteresse galt daher der Aufdeckung und Zerschlagung der
Untergrundnetzwerke. Mehr als 2.000 Untersuchungsgefangene, darunter 350
Frauen, wurden zum Verhör in die Via Tasso gebracht. Anschließend wurden die
Gefangenen zum zentralen Gefängnis Regina Coeli im
Stadtviertel Trastevere überstellt oder auch direkt
vor das Kriegsgericht gestellt und im Forte Bravetta
hingerichtet. Im Museum erinnern zahlreiche Bildtafeln, Fotos und Vitrinen mit
persönlichen Gegenständen an das Schicksal einzelner Angehöriger des
Widerstandes. Erhalten geblieben ist ein Brotlaib, auf dessen Rinde der zum
Tode verurteilte Partisan Ignazio Vian als letzten Gruß »Mutter sei mutig«
geschnitzt hatte. Auf einen Strumpf sind die Worte »Mut, Liebe, Küsse«
gestickt.
Eine Bildtafel erinnert an Teresa Gullace. Die
36jährige fünffache Mutter wurde von einem deutschen Soldaten erschossen, als
sie ihrem Verlobten Brot und Zigaretten ins Gefängnis bringen wollte. In
Roberto Rossellinis Film »Rom, offene Stadt« über die Zerschlagung einer
römischen Widerstandsgruppe wurde ihr von der großartigen Anna Magnani in der
Rolle der Pina ein schauspielerisches Denkmal gesetzt. Auch eine weitere
Hauptfigur dieses bereits kurz nach der Befreiung 1944 gedrehten Films, der
katholische Geistliche Don Pietro, hatte mit dem in der Via Tasso inhaftierten
und im April 1944 ermordeten Don Morosini ein reelles
Vorbild. Für Besuchergruppen wird Rossellinis Meisterwerk des Neorealismus
regelmäßig in der Via Tasso vorgeführt.
Die Wände sprechen
In den Isolationszellen, in die die Gefangenen nach den Verhören
zurückkehrten, sprechen die Wände. Denn sie sind übersät mit Nachrichten, die
Gefangene mit spitzen Gegenständen oder Fingernägeln in den Putz geritzt haben.
Grüße an die Familien finden sich hier ebenso wie patriotische Aussprüche
gefangener Militärs, Gebete oder Zitate aus Dantes »Inferno«. Mit
Strichkalendern haben Gefangene ihre Haftzeit notiert, andere haben Kreuze, das
Wort Jesus oder jüdische Symbole in die Mauern gekratzt, um sich und den
nachfolgenden Gefangenen Hoffnung zu machen. Der Schriftzug »England forever« und eine daneben geritzte britische Fahne sind
Hinweise, dass gefangene britische Agenten in der Via Tasso verhört wurden. Die
Zeichnung eines Hasen warnt vor einen Spitzel mit dem Spitznamen Coniglio (Kaninchen). »Ich glaube an Gott und Italien, an
die Wiederauferstehung der Märtyrer und Helden. Ich glaube an die Wiedergeburt
des Landes und die Freiheit des Volkes«, schrieb der zu den Partisanen
übergegangene Artillerieleutnant Arrigo Paladini an
die Wand der Isolationszelle Nummer 2. Als Verbindungsmann zu den Alliierten
war Paladini am 4. Mai 1944 in die Fänge der SS
geraten. Als die alliierten Truppen schon vor der Stadt standen, ordnete die SS
den Abtransport der Gefangenen in drei Lastwagen aus der Via Tasso nach Verona
an. 14 Gefangene aus zwei Lastwagen wurden während dieses Rückzuges
massakriert. Der dritte Lkw hatte eine Panne, so dass Paldini
und weitere Gefangene in ihre Zellen zurückgebracht wurden. Am folgenden Tag
konnten sie nach der Flucht der letzten SS-Männer von der Bevölkerung befreit
werden. Paladini, der nach dem Krieg als
Hochschullehrer für Philosophie und Geschichte arbeitete, leitete ab 1985 das
Museum in der Via Tasso, ihm folgte nach seinem Tod 1991 seine Frau Elvira Sabbatini als Direktorin nach.
Die Bombe in der Via Rasella
Der PCI hatte »Patriotische Aktionsgruppen« (GAP) ins Leben gerufen, die in
unabhängigen Kleingruppen als Stadtguerilla neben Sabotageaktionen gegen die
Infrastruktur auch direkte Angriffe auf die Besatzungstruppen und ihre
faschistischen Kollaborateure durchführten. So griffen die GAP im Dezember 1943
das deutsche Kommando im Hotel Flora in der Via Veneto an und am 10. März 1944
töteten sie mit selbstgebauten Handgranaten mehrere Faschisten während einer
Parade. Am 23. März 1944 – dem Jahrestag der Gründung der faschistischen
Schwarzhemden – gelang den römischen GAP in der Via Rasella
ihre erfolgreichste und für den Widerstand zugleich folgenschwerste Aktion. Der
als Straßenkehrer verkleidete GAP-Militante Rosario Bentivegna
zündete beim Vorbeimarsch eines Bataillons des aus Südtirol stammenden
SS-Polizeiregiments »Bozen« eine in seinem Müllwagen verborgene Bombe aus zwölf
Kilogramm Sprengstoff mit Eisenschrott. Weitere Partisanen warfen anschließend
Handgranaten. 33 Polizisten und zwei unbeteiligte Zivilisten starben in Folge
des Anschlags, 45 Polizisten wurden schwer verwundet. Die GAP-Kämpfer konnten sich
ohne Verluste zurückziehen. Partisanen gaben später an, sie hätten gehofft, mit
dem Anschlag und der Empörung über die absehbare deutsche Vergeltung die
römische Bevölkerung zum Volksaufstand zu bewegen. In der Tat forderte Kappler
von der deutschen Armeeführung drakonische Rache. Mit dem Befehlshaber der 14.
Armee, General von Mackensen, vereinbarte er, für jeden getöteten SS-Mann zehn
Italiener erschießen zu lassen. Willkürlich wurden 335 Gefangene ausgewählt,
fünf mehr als angefordert. Unter den Geiseln befanden sich fünf Generäle und
elf hohe Offiziere einschließlich Oberst Montezemolo. Anhänger der Bandiera-Rossa-Strömung waren unter
kommunistischen Gefangenen überproportional stark vertreten. Schließlich wurden
noch 75 zur Deportation bestimmte Juden auf die Todesliste genommen, um die
geforderte Quote zu erfüllen. Am 24. März erschossen SS-Kommandos die Geiseln
in den Ardeatinischen Höhlen, einem Steinbruch am
Stadtrand. Kapplers Gehilfe Priebke tötete eigenhändig ein Dutzend Gefangene.
Die grauenvolle Rache hätte in keiner Weise verhindert werden können.
In einer am späten Abend von der Presseagentur Stefani verbreiteten
Meldung des deutschen Kommandos hieß es, um »die Tätigkeiten dieser Banditen zu
unterbinden«, sei befohlen worden, »für jeden getöteten Deutschen, zehn badoglianische Kommunisten« zu erschießen. Die Nachricht
endete mit dem Satz »Der Befehl wurde bereits ausgeführt«. Zugleich wurde
angekündigt, was bei derartigen Widerstandsakten in Zukunft drohen würde. Um
die Spuren ihres Verbrechens zu verwischen, hatte die SS die Tuffsteinhöhlen
gesprengt. Doch der Ort des Massakers drang an die Öffentlichkeit, und
monatelang hielten Angehörige Wache vor den Höhlen. Die Leichen konnten erst
nach der Befreiung geborgen und beerdigt werden. In der Via Tasso erinnert ein
ganzer Raum an dieses wohl bekannteste deutsche Kriegsverbrechen in Italien.
Innerhalb der Resistenza löste die massive Vergeltung
der Nazis eine Debatte darüber aus, wie bewaffnete Aktionen gegen die Besatzer
mit dem Schutz der Zivilbevölkerung in Einklang gebracht werden können. In der
Praxis lähmte und schwächte das SS-Massaker den Widerstand in Rom so sehr, dass
sich die Stadt anders als die norditalienischen Städte nicht selbst befreien
konnte.
Als sich die alliierten Truppen am 3. Juni 1944 bereits vor den Toren Roms
befanden, verließen die SS-Schergen überstürzt ihre Zentrale in der Via Tasso.
Am folgenden Tag stürmte die Bevölkerung das Gebäude und befreite die letzten
Gefangenen aus ihren Zellen. Als Gegenstück zur ausgestellten weißen Fahne, mit
der Montezemolo am 10. September 1943 die deutschen Linien überschritt, um mit
Generalfeldmarschall Albert Kesselring den Status Roms als offene Stadt zu
verhandeln, erscheint so im letzten Raum des Museums die am Tag der Befreiung Roms,
am 4. Juni 1944, auf dem Kapitol gehisste grün-weiß-rote Trikolore.