Stärkung der Moral
Ein Sammelband mit Analysen von Max Zirngast zur Türkei bleibt auch nach seinem Freispruch
aktuell
Von Nick Brauns
Es waren die Anschläge vom 11. September
2001 in den USA, die das Interesse des damals zwölfjährigen Österreichers Max Zirngast für Politik und Geschichte weckten. Jahre später
bei seinem Philosophiestudium in Wien rückte durch persönliche Bekanntschaften
die Türkei in den Mittelpunkt von Zirngasts
Interesse. So beschloss er 2015, ein Masterstudium an der Technischen
Universität des Mittleren Ostens in Ankara aufzunehmen. Daneben verfasste er
Artikel für eine türkische marxistische Zeitschrift, die junge Welt und
das US-amerikanische Jacobin Magazine.
Erneut war es ein 11. September, der zu
einem Wendepunkt in Zirngasts Leben werden sollte.
Unter dem Vorwurf, der Ankara-Verantwortliche einer »illegalen bewaffneten
Terrororganisation« namens Kommunistische Partei der Türkei/Funke (TKP/K) zu
sein, wurde er an diesem Tag im Jahr 2018 festgenommen. Zwar ist die Existenz
der auf den 1971 verstorbenen marxistischen Theoretiker Hikmet Kivilcimli zurückgehenden TKP/K seit Mitte der 1990er Jahre
nicht mehr belegt. Doch frei im Buchhandel erhältliche Werke Kivilcimlis, die im Schrank des Philosophiestudenten
gefunden wurden, sollten die absurde Anklage beweisen. Seminare über antike
griechische Philosophie und unentgeltliche Nachhilfestunden für Grundschüler
aus armen Familien wurden Zirngast nun als
Rekrutierungsveranstaltungen für die ominöse Partei ausgelegt. Aus seiner
Gesinnung macht Zirngast vor dem Haftrichter kein
Geheimnis: »Ich bin Sozialist, ich verteidige universelle Werte.«
Zu Weihnachten 2018 wurden Zirngast und die mit ihm verhafteten türkischen Aktivisten
freigelassen, der Österreicher durfte die Türkei jedoch nicht verlassen. Er sei
aber keine Geisel Erdogans wie etwa der
deutsch-türkische Reporter der Tageszeitung Welt, Deniz Yücel,
gewesen, meint Zirngast. Seine Verhaftung sieht er
eher als Kollateralschaden bei der Niederschlagung jeglicher linken Opposition
in der Türkei. Pünktlich zum ersten Jahrestag ihrer Festnahme am 11. September
2019 sprach ein Gericht in Ankara Zirngast und seine
Mitangeklagten frei. Dieses überraschende Ende eines kafkaesken Verfahrens ist
einerseits den gewandelten Kräfteverhältnissen in der Türkei durch das
Zusammenrücken der Opposition bei gleichzeitiger Schwächung der
Regierungspartei AKP zu verdanken. Doch auch die unmittelbar nach Zirngasts Festnahme von Freunden und Genossen in Österreich
und Deutschland begonnene Kampagne »#FreeMaxZirngast«
dürfte Wirkung gezeigt haben.
Im Rahmen dieser Kampagne erschien
kürzlich in der Edition Assemblage das Buch »Die Türkei am Scheideweg«, das
auch nach Zirngasts Freispruch allen an der
türkischen Politik Interessierten ans Herz gelegt sei. Denn neben Informationen
zu den Hintergründen seiner Festnahme und seinen Briefen aus dem Gefängnis
enthält es auch die gesammelten Texte Zirngasts über
eine Phase, die die Türkei einschneidend verändert hat. Als Eckpunkte seien
hier genannt: der Wahlerfolg der linken, vor allem unter Kurden verankerten HDP
im Juni 2015, vom Geheimdienst orchestrierte Anschläge des »Islamischen
Staates« auf Linke mit mehr als 130 Toten, der erneute Krieg gegen die
kurdische Befreiungsbewegung mit der Zerstörung ganzer Städte, der Putschversuch
vom Juli 2016, der nachfolgende Ausnahmezustand mit Massenverhaftungen, die
Errichtung einer Präsidialdiktatur, der fortschreitende Niedergang der
türkischen Wirtschaft und die immer tiefere Verwicklung der Türkei im
»syrischen Sumpf«.
Zirngasts tiefgehende Analysen der Triebkräfte und
Entwicklungspotentiale der türkischen Politik, die teilweise erstmals in junge
Welt erschienen waren, sind häufig Gemeinschaftswerke mit seinen
bereits aus Wiener Zeiten bekannten Genossen Güney Isikara
und Alp Kayserilioglu. Anstatt vereinfachend und
personalisierend vom »despotischen Erdogan-Regime« zu schreiben und dabei
orientalistische Stereotypen zu bedienen, fragen er und seine Mitautoren nach
den Klasseninteressen hinter der Politik des Staatspräsidenten. Sie behalten
die Ökonomie im Auge und suchen nach Brüchen im herrschenden Block sowie den
sich daraus ergebenden Chancen für Widerstandsdynamiken, die sie insbesondere
in den Kämpfen der Arbeiter, von Frauen und LGBTQ, Kurden und Aleviten erkennen. »Alle diese Widerstände und Kämpfe sind
ebenso viele Quellen der Hoffnung und der Stärkung der Moral«, schreiben Zirngast und Hasan Durkal in
ihrem im Mai verfassten Manifest »Unterwegs zur demokratischen Republik. Ein
politisch-gesellschaftliches Programm für die Türkei«. Ganz selbstverständlich
schreibt Zirngast in diesem Text, der den Einfluss
der Ideologie Kivilcimlis erkennen lässt, von der
Türkei als »unserem Land«. So wird »Aslan Max’imiz«
(Unser Löwe Max), wie der großgewachsene, blonde Österreicher von seinen
türkisch-kurdischen Freunden in Anlehnung an eine beliebte Schokoeis-Trickfigur
genannt wird, trotz wiedererlangter Reisefreiheit wohl weiterhin den
Klassenkämpfen zwischen Bosporus und Ararat verhaftet bleiben.
Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast
(Hg.): Die Türkei am Scheideweg und weitere Schriften
von Max Zirngast. Edition Assemblage, Münster 2019,
432 Seiten, 12,50 Euro