Nikolaus Brauns
Marxistische Deutungen des Holocaust
Inhaltsverzeichnis:
- 1. Bürgerliche
und marxistische Deutungen des Holocaust.....2
- 2.
Faschismus und Holocaust.....4
- 2.1.
Dimitroffs Faschismustheorie.....4
- 3.
Imperialismus - Rassismus - Antisemitismus.....6
- 4. Die
spezifischen Funktionen des Amtisemitismus im
Nationalsozialismus.....8
- 4.1. Der Kampf gegen die Arbeiterbewegung.....8
- 4.2. Der Pogrom vom 1.April 1933.....10
- 4.3. Innermonopolistische
Auseinandersetzungen.....12
- 4.4. Kriegsvorbereitung durch Antisemitismus.....12
- 5. Der
Völkermord an den Juden im Zweiten Weltkrieg.....16
- 5.1. Feindfreier Herrschaftsraum.....16
- 5.2. Die Hintergründe der "Endlösung"
durch Massenmord.....17
- 5.3. Kritikpunkte des Raumsicherungsansatzes.....19
- 5.4. Zur ökonomischen Funktion der Konzentrations-
und
Vernichtungslager.....20
- 5.5. "Vernichtung durch Arbeit".....21
- 6.
Marxistische Kritik an den marxistisch-leninistischen
Holocaustdeutungen.....22
- 7. Résumée
und Ausblick.....25
- 8.
Anmerkungen.....28
- 9.
Bibliographie.....30
1. Bürgerliche und marxistische
Deutungen des Holocaust:
Wie sich nicht zuletzt im
"Historikerstreit" zeigte, existieren in der Wissenschaft zum Teil
diametral entgegengesetzte Standpunkte in der Deutung des Massenmordes an den
europäischen Juden durch den Nationalsozialismus.1
In der bürgerlichen
wissenschaftlichen Literatur ist insbesondere eine Linie stark hervorgehoben,
die sich bemüht, die Verantwortlichkeit des deutschen Finanzkapitals für
Faschismus und Völkermord zu leugnen. Mit dem Argument des
"Irrationalismus" der Judenvernichtung verschließt sich ein Großteil
der bürgerlichen Forschung jeglicher rationaler, auf die Ökonomie und die
Interessen bestimmter Gesellschaftsklassen zurückzuführender Deutungen. So stehen
Erklärungsmuster im Vordergrund, die nicht die Frage nach dem Klassencharakter
der faschistischen Herrschaft stellen, sondern versuchen, dieses System und
seine Verbrechen rein psychologisch und subjektivistisch zu begreifen.
Neben der Feststellung, daß es
sich beim Nationalsozialismus um reinen Irrationalismus handelt, ist besonders
die Verengung des Systems auf die Person Adolf Hitlers beliebt. Die Rolle des
"Führers" wird dazu subjektivistisch überhöht, seine Psyche allein
für die Verbrechen verantwortlich gemacht, sein Befehl ist alleinige Ursache
aller von den Nationalsozialisten begangener Grausamkeiten. So wird ein
negativer Personenkult mit der Figur Hitlers betrieben, die Verantwortung
allein auf eine Person geschoben.
Auch die alleinige individualpsychologische
Deutung, die den Faschismus aus dem Charakter der Menschen zu erklären sucht,
ist beliebt. Faschismus wird dann aus Trieben und Anlagen der Menschen erklärt,
die Judenvernichtung aus den Anlagen der Mitglieder der NSDAP gefolgert. In diese
Richtung gehen dann auch Ansätze, die den Faschismus als Massenpsychose
betrachten.2
Das -unbewußt oder bewußt-
erreichte Ziel dieser bürgerlichen Erklärungsmuster ist deutlich. Faschismus
und Holocaust werden zu Phänomenen in der deutschen Geschichte, die nur noch
historisch erscheinen, die Verantwortung gerade auch heute noch existierender
Strukturen und Klassen wird negiert, für die Verbrechen des Nationalsozialismus
lassen sich Schuldige benennen, die die wahren Hintergründe verschleiern.
Schuld sind nur noch längst verstorbene Naziführer oder unveränderliche
Charakterzüge der Menschen. Die Beschäftigung mit dem Holocaust wird so zu
einer nur noch historischen.
Genau diese Konsequenz bekämpft
die marxistische Geschichtsforschung. Insbesondere die Forschung in der
Deutschen Demokratischen Republik sah sich immer in Opposition zur bürgerlichen
Wissenschaft der Bundesrepublik. Wurde der Bundesrepublik vorgeworfen, ihre
Geschichtsforschung leugne die Schuld des Monopolkapitals für Faschismus und
Völkermord, so sah es die ostdeutsche Forschung gerade als ihre dringlichste
Aufgabe an, eben diese Zusammenhänge aufzudecken. Die marxistische Forschung
versteht sich dabei auch nicht als neutral, sondern als Front im Klassenkampf.
Von seiten der bürgerlichen Geschichtswissenschaft
wird den marxistischen, sich also auf die historisch-materialistische Methode
stützenden Wissenschaftlern oft vorgeworfen, vor dem Phänomen der
millionenfachen Ermordung von Juden und anderen Bevölkerungsgruppen zu
versagen. Eine Wissenschaftsmethodik, die grundlegende Erkenntnisse gerade aus
der Analyse der Ökonomie bezieht, könne nicht greifen, da zum Beispiel die
unproduktive Vernichtung von
Arbeitskräften während der "Endlösung" niemals mit Kapitalinteressen
zu erklären sei. Entgegen solcher Vorwürfe haben marxistische Wissenschaftler
durchaus versucht, mit dem Instrumentarium materialistischer Geschichtstheorie
auch den Holocaust zu erklären und es liegen verschiedene Untersuchungen zu
dieser Thematik vor.3
In dieser Arbeit soll nun versucht
werden, die marxistischen Ansätze zur Erklärung des Holocaust zu erläutern,
deren Schwachstellen und Fehler aufzuzeigen und Ansatzmöglichkeiten weiterer
historisch-materialistischer Forschung zu skizzieren.
Ebensowenig wie die bürgerliche Forschung
ist die sich auf den Marxismus berufende Wissenschaft ein einheitliches und
dogmatisches Gebäude. Schwerpunkt dieser Untersuchung soll jedoch die während
der letzten Jahrzehnte dominante, am Sowjetmarxismus orientierte Richtung sein,
da hier die meisten Arbeiten zum Holocaust erstellt wurden. Diese Ausrichtung
des Marxismus soll hier nach seiner Eigenbezeichnung als Marxismus-Leninismus
bezeichnet werden. Gerade durch ihre Kritik an diesem "offiziellen"
Standpunkt sollen aber auch Marxisten anderer Ausrichtung zu Wort kommen.
2. Faschismus und Holocaust:
Allen Richtungen des Marxismus ist
gemeinsam, daß sie die Vernichtung der Juden nicht als isoliertes Phänomen
sehen, sondern die Deutungen des Holocaust aus dem Faschismus heraus
entwickeln.
Der auf Antisemitismusforschung
spezialisierte Professor Kurt Pätzold4 von der Humboldt-Universität Berlin fordert daher:
"Wer die Geschichte der
Vernichtung der europäischen Juden aufhellen will, muß sich mit dem deutschen
Faschismus - der politischen Partei, der Ideologie und dem Staat - befassen,
denn ohne daß dessen System und seine Strukturen begriffen werden, läßt sich
nicht erklären, warum sechs Millionen Juden zu Opfern wurden - und nicht sie
allein. Deshalb weitet sich - wie viele Erfahrungen beweisen - jede
tiefgreifende Erörterung der Judenvernichtung notwendig zu einer Diskussion
über Wesen und Ziele des Faschismus aus."5
2.1. Dimitroffs
Faschismustheorie:
Eine Darstellung marxistischer
Faschismustheorien in ihrer Gesamtheit würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Dennoch ist es notwendig, auf eine Theorie näher einzugehen, da sie zur
Grundlage auch der meisten marxistisch-leninistischen Deutungen des Holocaust
wurde.6
Seit dem VII. Weltkongress der
Kommunistischen Internationale vom 2.August 1935 ist die offizielle
Faschismustheorie in der Sowjetunion, später auch in den realsozialistischen
Staaten und bei vielen westlichen Marxisten, die Darstellung Georgi Dimitroffs.
Der bulgarische Kommunist Dimitroff
erläuterte in seinem Bericht "Die
Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im
Kampfe für die Einheit der Arbeiterklasse gegen Faschismus" das Wesen
des Faschismus, seinen Klassencharakter und seine Erscheinungsformen:7
"Der Faschismus an der
Macht, Genossen, ist wie ihn das 13. Plenum des EKKI richtig charakterisiert
hat, die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten,
chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.
... Der deutsche Faschismus spielt die Rolle des Stoßtrupps der internationalen
Konterrevolution, des Hauptanstifters des imperialistischen Krieges, des
Initiators eines Kreuzzuges gegen die
Sowjetunion, das große Vaterland der Werktätigen der ganzen Welt."8
In Abgrenzung dazu existieren
wesentlich differenziertere Theorien, wie sie etwa Leo Trotzki oder August
Thalheimer vertraten, die im Faschismus nicht allein das Finanzkapital sahen,
sondern das Bündnis des Kapitals mit einer kleinbürgerlichen faschistischen
Massenbewegung, die auch nach der Machtübergabe - wenngleich sie im
wesentlichen die Ziele des Finanzkapitals umsetzt -durchaus Eigeninteressen
neben denen des Kapitals hat.9 Doch Dimitroff formuliert weiter das Dogma der
marxistisch-leninistischen Faschismusinterpretation:
"..., der Faschismus ist
keine über den Klassen stehende Macht und keine Macht des Kleinbürgertums oder
des Lumpenproletariats über das Finanzkapital. Der Faschismus ist die Macht des
Finanzkapitals selbst. Das ist die Organisierung der terroristischen Abrechnung
mit der Arbeiterklasse und dem revolutionären Teil der Bauernschaft und der
Intelligenz. Der Faschismus in der Außenpolitik ist der Chauvinismus in seiner
brutalsten Form, der einen tierischen Haß gegen die anderen Völker kultiviert.
... Der Machtantritt des Faschismus ist keine einfache Ersetzung der einen
bürgerlichen Regierung durch eine andere, sondern eine Ablösung der einen
Staatsform der Klassenherrschaft der Bourgeoisie - der bürgerlichen Demokratie
- durch eine andere Form - durch die offene terroristische Diktatur."10
Das "Finanzkapital",
dessen reaktionärste Fraktionen laut Dimitroff die Diktatur im Faschismus
ausüben, wird bei Lenin näher definiert als die Einheit von Industrie und
Bankenmonopol in der imperialistischen Phase des Kapitalismus: "Konzentration
der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der
Banken mit der Industrie - das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses
Begriffs."11
Die Dimitroff-Theorie bestreitet
vehement jegliche Verselbstständigung des faschistischen Machtapparates vom
reinen Kapitalinteresse. Alle Erscheinungen des Faschismus - auch der Holocaust
- müssen sich demnach direkt aus den Interessen des Finanzkapitals ableiten
lassen, eine Irrationalität im faschistischen Massenmord muß ebenso widerlegt
werden wie ein Primat der faschistischen Politik über die Ökonomie.
Die in den Augen des Verfassers
dieser Arbeit zum Teil gravierenden Mängel und Fehleinschätzungen der
Dimitroff-Theorie können hier nicht allgemein dargelegt werden, anhand der
Interpretation des Holocaust können jedoch einige ihrer Schwachstellen
aufgedeckt werden.
3. Imperialismus - Rassismus -
Antisemitismus:
Der Holocaust gipfelte zwar in der
millionenfachen Ermordung der europäischen Juden, gleichwohl ist es notwendig,
die Geschichte nicht von ihrem Endpunkt her zu betrachten. Nur wer im Holocaust
die alleinige Umsetzung des Führerwillens sieht, kann im Massenmord die
folgerichtige Umsetzung der Naziideologie sehen. Der Völkermord erscheint dann
als Kriegsziel an sich. Die marxistische Forschung bemüht sich dagegen, den Weg
zum Massenmord von seinem Anfang aus zu erklären. Dieser Beginn ist dann der
Antisemitismus, wie ihn die Nazibewegung vertrat, und der sich erst in viel
differenzierterer Form äußerte, bevor er im Völkermord gipfelte.
Um Auschwitz zu verstehen, ist es
zuerst notwendig, den Antisemitismus der Nazibewegung zu verstehen. Nur, wenn
erkannt wird, daß der faschistische Antisemitismus nicht nur eine
unwissenschaftliche Ideologie ist, sondern auch direktes Werkzeug des deutschen
Imperialismus in Innen- und Außenpolitik, dann läßt sich auch eine
historisch-materialistische Deutung des Völkermordes an Juden und anderen
europäischen Völkern finden.
Hier soll nun keine genaue
marxistische Interpretation der Ursachen von Antisemitismus folgen, vielmehr
ist zu untersuchen, wie aus der Sicht marxistische Wissenschaftler der
Antisemitismus von den Nationalsozialisten für ihre Politik genutzt wurde und
wieweit dies mit den Interessen des Großkapitals übereinstimmte.
Bürgerliche Historiker sehen oft
im Antisemitismus den Ausgangspunkt und das Ziel jeglicher
nationalsozialistischer Politik. So können durch eine Überbetonung eines
zunächst nur ideologischen Elementes im deutschen Faschismus die Zusammenhänge
eben dieses ideologischen Versatzstückes mit den Interessen der deutschen
Bourgeoisie, letztendlich der aus marxistischer Sicht unmittelbare Zusammenhang
von Kapitalismus und Faschismus, vernachlässigt werden. Der Antisemitismus als
Erklärungsmuster stellt keine Klassenfrage und bietet scheinbar genug
Irrationalität, um den ganzen Faschismus rein phänomenologisch zu begreifen.
Eben diese Sichtweise wird von marxistischen Historikern argumentativ zu
widerlegen versucht.
Kurt Pätzold sieht jedoch auch Gemeinsamkeiten mit der
bürgerlichen Forschung:
"Die Historiker, die den
in Auschwitz endenden Weg zurückverfolgen, stimmen - seien sie historische
Materialisten oder Idealisten - in einem Punkt überein: die zu verfolgende Spur
verlief und blieb in der deutschen Geschichte. Das gilt jedenfalls für den
Hauptstrang und ebenso auch für die meisten Nebenstränge der zu untersuchenden
Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Dieser zweifelsfreie Befund schließt
Verbindungen, die über die deutsche Geschichte hinausweisen, nicht aus. Wie die
deutschen Faschisten alles Reaktionäre aufnahmen, was sie vorfanden und für
ihre Zwecke als brauchbar ansahen, so auch antijudaistische und antisemitische
Ideen und Einflüsse, die zu verschiedenen Zeiten jenseits der Grenzen
entstanden und wirksam waren."12
So besteht für die marxistische
Forschung kein Zweifel, daß der deutsche Antisemitismus in seiner zuerst bloß
ideologischen Form hausgemacht ist und die Nazis sich hier jahrhundertelang
gewachsener Ressentiments bedienen konnten. Das sich dieser deutsche
Antisemitismus in so ungeheurer Brutalität und in Völkermord nie gekannten
Ausmaßes äußern konnte, war dann darauf zurückzuführen, daß den Hauptvertretern
dieser Ideologie auch die politische Macht dazu gegeben wurde.
Der Trotzkist Claus Radt erklärt
zurecht:
"Der Antisemitismus ist
die extremste Form des Rassismus. Es muß also die gesellschaftliche Wurzel des Rassismus aufgezeigt werden, um dann
in einem zweiten Schritt auf die besondere Form des Rassismus in der Gestalt
des Antisemitismus zu sprechen zu kommen und dessen Funktion in der
nazistischen Form kapitalistischer Herrschaft und Interessen aufzuzeigen."13
Während also die bürgerliche
Forschung dahin tendiert, den Antisemitismus als ideengeschichtliches Phänomen,
eventuell noch religiös motiviert, zu erklären, leitet die marxistische
Forschung dessen Existenz zuerst aus dem Rassismus allgemein und den wiederum
aus den Interessen der imperialistischen Staaten ab.
"Der Rassenwahn ist die
ideologische Form per se der Rechtfertigung imperialistischen
Großmachtstrebens, d.h. der Unterdrückung und Kolonialisierung anderer Länder
zum "Wohl" der herrschenden Klassen des Mutterlandes. ... Der Rassismus
wurde so zur theoretischen Rechtfertigung und zum Freibrief für sämtliche
Greueltaten, aus denen die Geschichte
der Kolonialherrschaft besteht."14
Und der Revolutionär Leo Trotzki
analysierte:
"Um die Nation über die
Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen
Ablauf betrachtete man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse
werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen
konstruiert. Das niedrige "ökonomische Denken" ablehnend, steigt der
Nationalsozialismus ein Stockwerk tiefer, gegen den wirtschaftlichen
Materialismus beruft er sich auf den zoologischen."15
Inwieweit der Antisemitismus als
Extremform des Rassismus diese Rolle als Rechtfertigung faschistischer
Überfälle auf andere Völker spielt, sei später noch ausführlich dargestellt.
4. Die spezifischen Funktionen
des Antisemitismus im Nationalsozialismus:
Wenn sich auch in der marxistischen Sicht der Antisemitismus aus
Imperialismus und Rassismus herleitet, so hat er jedoch auch eine eigene
Qualität, die sich nicht nur in seiner Funktion als Rechtfertigungsideologie
imperialer Expansion zeigt, sondern besonders auch in seiner
"innenpolitischen" Rolle. Hier gilt es die genauen Teillaspekte in
einem Geflecht aus Ideologie, Politik und Ökonomie herauszuarbeiten. Nur dann
wird die besondere Qualität des antisemitischen Rassismus deutlich und es wird
klar, warum das deutsche Monopolkapital auf die Nazibewegung setzte, nicht nur
trotz ihres extremen Antisemitismus, sondern auch gerade deswegen. Die
einzelnen Funktionen haben dabei ganz unterschiedliche Wertungen, zum Teil sind
sie auch nur Nebenprodukte des Antisemitismus, die in ihrer Bedeutung nicht
überschätzt werden dürfen.
4.1. Kampf gegen die
Arbeiterbewegung:
August Bebel, der Arbeiterführer
der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg, brandmarkte den
Antisemitismus als den "Sozialismus der dummen Kerls". Hiermit
definierte er zugleich die Funktion des Antisemitismus als Sündenbock für das
Versagen des Kapitalismus und als Gegenideologie zum "Wissenschaftlichen
Sozialismus" der marxistischen Arbeiterbewegung.
Claus Radt führt aus:
"Der rabiate
Antisemitismus wurde als Ersatz für den Klassenkampf von unten gepredigt, um
sozialradikale und antikapitalistische Gefühle und Emotionen auf eine dem
kapitalistischen System genehme Bahn zu lenken."16
"Der Antisemitismus hatte
also für alle reaktionären Bewegungen, insbesondere bei sozialen Kämpfen, bei
Niederlagen oder Katastrophen einen unschätzbaren Wert, um von den eigentlichen
Ursachen ablenken zu können."17
Der westdeutsche
Faschismusforscher Reinhard Opitz18 sieht im Feindbild "Jude" den gemeinsamen
Nenner, auf den alle inneren und äußern Feindbilder und Opfer des deutschen
Imperialismus gebracht werden konnten. Unter dem Feindbild des
"Juden" ließen sich die natürlich nur zu einem Teil jüdischen
Arbeiterführer ebenso zusammenfassen, wie kritische liberale Intellektuelle und
demokratische Gegner der Nationalsozialisten.19
Und Professor Pätzold weist darauf
hin, daß das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 zuerst den wissenschaftlich- und
kulturell tätigen Juden Verfolgung androhte. Hieraus leitet er ab:
"Allein diese Detail wirft
ein Licht auf die politische Funktionalität der nationalsozialistischen
Judenfeindschaft, ging es im Kern dieser Forderung doch nicht darum, daß die
Angehörigen der jüdischen Intelligenz "undeutsch" dachten und
schrieben, sondern um die Tatsache, daß sie als Demokraten, Republikaner,
Liberale, auch als Sozialisten und Kommunisten in Wort und Schrift, mit den
Mitteln der Wissenschaft und Kunst gegen jedwede, insbesondere aber gegen die
faschistische Reaktion wirkten."20
So bietet sich die NSDAP dem
Kapital geradezu als Stoßtrupp gegen die revolutionäre wie auch die
reformistische Arbeiterbewegung an, verbindet ihr Programm doch am deutlichsten
eine entschieden antimarxistische Haltung mit dem mobilisierend wirkenden
Antisemitismus, mit dem sich die Angriffe auf die Arbeiterbewegung umsetzen
ließ. Die antisemitische Propaganda mußte, so Opitz, auch zur Verschleierung
der Angriffe der Faschisten nach der Machtübergabe 1933 gegen die
Organisationen der organisierten Arbeiterbewegung herhalten. So besteht für ihn
die Funktion antijüdischen Terrors der ersten Monate 1933 darin, "den
Widerspruch zwischen der antisemitischen Feindbildpropaganda der Sammlungs- und
Aufstiegsphase der NSDAP und ihrem im Augenblick der erlangten politischen
Handlungsvollmacht zuallererst vollzogenen Schlag gerade gegen die
Organisationen und die Rechte der Arbeiter und die politische Freiheit des
deutschen Volkes abzudecken und nicht allzu eklatant vor aller Augen aufreißen
zu lassen."21
Zugleich sei der Terror auch eine
psychologische Vorbereitung der Bevölkerung, damit sie die folgenden
antijüdischen Maßnahmen und Gesetze widerstandslos hinnimmt.
Eine Verdunklungsfunktion sieht
auch Pätzold. So täuschte das Regime
mit antijüdischem Vorgehen der Anhängerschaft die versprochene
"nationalsozialistische Revolution" vor. Dazu war die Trennung
zwischen dem als "schaffend" bezeichneten "arischen"
Kapitalisten und dem "raffenden jüdischen Kapital" notwendig.
Antisemitismus und antijüdische Maßnahmen dienten dem NS-Regime bis in den
Krieg hinein dazu, "revolutionär" zu erscheinen. Statt der
versprochenen und von großen Teilen gerade der "alten Kämpfer" weiter
eingeforderten "nationalsozialistischen Revolution" mit
antikapitalistischer Stoßrichtung folgte die "Arisierung" der
Wirtschaft. Statt generell gegen das Großkapital vorzugehen, wurden dessen
jüdische Exponenten enteignet und vertrieben und ihr Besitz diente zur
Bereicherung deutscher Konzerne, in die er einverleibt wurde.22
Leo Trotzki erkannte dies bereits 1933:
"Praktisch beschränkt sich
der Nationalsozialismus in der Wirtschaft auf - trotz aller Brutalität -
ohnmächtige Ausbrüche von Antisemitismus. Vom heutigen Wirtschaftssystem
sondern die Nazis das raffende oder Bankkapital als den bösen Geist ab; gerade
in der Sphäre nimmt ja die jüdische Bourgeoisie einen bedeutenden Platz ein.
Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der
Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im
langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat. Der Pogrom
wird zum Beweis rassischer
Überlegenheit."23
4.2. Der Pogrom vom 1.April
1933:
Insbesondere der Pogrom vom
1.April 1933 hat für die Machtsicherung des Faschismus in Deutschland so
entscheidende Bedeutung. Hier zeigt sich auch deutlich die Verdunklungsfunktion
des Antisemitismus, die über den konterrevolutionären Charakter des Regimes
hinwegtäuschen sollte. Für den 1.April hatten die Nazimachthaber einen
organisierten Boykott jüdischer Geschäfte angeordnet, da die Juden die
angeblichen Urheber antideutscher und antifaschistischer Propaganda im Ausland
seien. Die Boykottaktionen verliefen pogromartig durch Drohung und Terror der SA
gegen jüdische Deutsche und Kunden von Geschäften jüdischer Eigentümer.
Das Vorgehen der
Nationalsozialisten gegen jüdische Deutsche in dieser Frühphase der
faschistischen Macht mag auf den ersten Blick diejenigen Faschismusdeutungen
stärken, die eine weitgehende Unabhängigkeit des Naziregimes von
Kapitalinteressen vertreten. Im Sinne des Kapitals war ja schließlich zu diesem
Zeitpunkt die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung das vordringliche
Ziel. Das Verständnis der Aufgabe dieser antijüdischen Aktionen hängt jedoch
mit dem komplizierten Prozeß nationalsozialistischer Machtsicherung in den
ersten Monaten nach der Machtübergabe zusammen. Die Hauptstoßrichtung der
Faschisten war sicherlich der Schlag gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung
in der Reihenfolge ihrer angenommenen Gefährlichkeit. Die Kommunistische Partei
wurde durch die Reichstagsbrandprovokation vom 27. Februar 1933 angegriffen,
die Zerschlagung der Gewerkschaften erfolgte am 2.Mai. Dazwischen lag nun der
antijüdische Pogrom vom 1.April.
Bei Professor Pätzold finden sich
Erklärungsversuche für diese scheinbare Verselbständigung der Nazipartei von
reinem Kapitalinteresse:
"Die heute an die
Historiker gestellte Frage, wie sich die Reihenfolge des faschistischen
Vorgehens nach dem 30.Januar erklärt, muß mit der Sicht auf Klassenwesen und
Massenbasis des Faschismus beantwortet werden. Richtet sich die Aufmerksamkeit
ausschließlich auf das imperialistische Klassenwesen dieser Diktatur, dann
erscheint der Zeitpunkt des Pogroms (nicht die Tatsache seines Stattfindens)
schwer begreiflich. Und umgekehrt: wird allein die kleinbürgerliche Massenbasis
des Faschismus ins Auge gefaßt, so stellt sich die antisemitische Aktion als
ein politisches Zugeständnis an die aufgehetzten, beutegierigen faschistischen
Kleinbürger in Uniform dar. In Wirklichkeit aber verbanden die faschistischen
Führer ihre politische Grundlinie, die Antisemitismus und Judenverfolgung
programmatisch einschloß, mit
taktischen Finessen gegenüber der eigenen Gefolgschaft, wie das ihren
Absichten nützlich schien."24
War der Antisemitismus vor 1933
Mittel zur Formierung der faschistischen Massenbewegung, so diente der
antijüdische Pogrom nun zum Herrschaftsmittel der NSDAP an der Macht. So schien
es den faschistischen Machthabern schon kurz nach der Machtübergabe und noch
vor dem Generalangriff auf die Massenorganisationen der Arbeiterklasse geboten,
sich ihrer Massenbasis zu versichern. Durch die Boykott-und Pogromaktionen des
1.April konnte der ungeduldigen Anhängerschaft vorgetäuscht werden, jetzt werde
die "nationalsozialistische Revolution" unmittelbar weitergetrieben
und eine Verbesserung der sozialen Lage schnell erreicht. Dazu war es
notwendig, die faschistische Basis nicht gleich auf einen in erster Linie politischen
Gegner zu lenken, wie es schon die KPD war, sondern auf einen zuerst als
ökonomisch betrachteten Konkurrenten. Der faschistische Kleinbürger hatte so
das Gefühl, mit eigener Hand gegen seine scheinbaren oder tatsächlichen
Konkurrenten vorzugehen und vermeinte so beim neuen Regime den Willen zu
sofortiger Erfüllung seiner Wahlkampfparolen zu erkennen. Bevor also den
arbeitenden Massen ihre Gewerkschaften genommen wurden, mußte der Faschismus
seinen kleinbürgerlichen Anhang ruhig stellen und enger an sich binden. Die
Aufgabe des Pogroms vom 1.April bestand
also in der doppelten Aufgabe der Versicherung der kleinbürgerlichen Basis und
der Vorbereitung des Schlages gegen die Gewerkschaften im folgenden Monat, der
nur unter der aktiven und passiven Unterstützung der faschistischen Massenbasis
durchzuführen war. Wie auch später hatte der Faschismus an der Macht den
Widerspruch zu überwinden, mit scheinrevolutionären Parolen die Macht
übernommen zu haben, um dann die institutionalisierte politische und insbesondere
auch soziale Konterrevolution gegen die
objektiven Interessen des Großteils seiner Massenbasis zu betreiben. Daß der
Faschismus an der Macht wesentlich das Programm der Monopolbourgeoisie
vertritt, darin sind sich alle marxistischen Deutungen einig.
Bezeichnenderweise war die
Haupterziehungsaufgabe der faschistischen Boykottaktionen für die noch nicht in
den NS-Massenorganisationen organisierte Bevölkerung darauf gerichtet, passive
Duldung gegenüber dem Naziregime zu erzeugen. Pätzold führt aus: "Die
Erziehung der Bevölkerung zum faschistischen Rassismus begann nicht mit der
Forderung, etwas zu tun, sondern etwas zu unterlassen, nicht in einer
bestimmten Richtung aktiv, sondern in einer bezeichnenden Weise passiv zu
werden. ... Der 1.April 1933 steht mithin in der Geschichte des deutschen
Volkes als Beginn eines Abstiegs in moralische Niederungen, den viele Menschen
aus dem Bürgertum und dem Kleinbürgertum antraten, die sich nicht als
Faschisten bekannten und den Exzeß innerlich ablehnten. Überzeugungen und
Gefühle, die sich nicht betätigen, besitzen aber nicht nur keine historische
Relevanz, sie sind auch stets in der Gefahr, verlorenzugehen."25
So begann der Weg nach Auschwitz
nicht nur mit dem Terror braununiformierter Minderheiten, sondern mit dessen passiver
Duldung durch eine Mehrheit.
4.3. Innermonopolistische
Auseinandersetzungen:
Wieweit der Antisemitismus auch
bei innermonopolistischen Auseinandersetzungen der Großbourgeoisie eine Rolle
spielt, führt Opitz aus. So sieht er
die physischen Angriffe der SA am 1.April 1933, dem Tag des reichsweit
geforderten Boykottes jüdischer Geschäfte, auf die Geschäftsräume des "Reichsverbandes
der Deutschen Industrie" vor dem Hintergrund von innermonopolistischen
Machtkämpfen zwischen dem Thyssen / Göring-Flügel der NSDAP und dem
Krupp-Flügel um die Neugliederung der deutschen Industrie. Die Forderung der SA
nach Rücktritt aller jüdischen Präsidiumsmitglieder traf, da der Thyssen-Clique keine Juden angehörten, nur den konkurrierenden
Chemie-und Elektroflügel des Monopolkapitals. Auch dieser Flügel bediente sich
jedoch antisemitischer Forderungen und Stimmungen. Diese Hintergründe sind für
Opitz ein entscheidendes Indiz dafür, daß es sich bei dem SA-Überfall eben
nicht um eine Verselbständigung des NS-Regimes handelte, sondern diese Aktion
im Einklang mit entscheidenden Fraktionen des Kapitals ablief. 26
4.4. Kriegsvorbereitung durch
Antisemitismus:
Sowohl die unmittelbare
Bereicherung durch die "Arisierung" wie auch die
innermonopolistischen Kämpfe mit antisemitischem Instrumentarium sind eher
zweitrangige Funktionen des nationalsozialistischen Antisemitismus.
So bekräftige auch Pätzold:
"Doch nicht der
ökonomische Gewinn, den die Judenverfolgung eintrug, sondern das
imperialistisch determinierte Macht- und Expansionsinteresse bildete, aufs
Ganze gesehen, das entscheidende Antriebsmoment im faschistischen
Antisemitismus."27
Für die marxistische
Geschichtsschreibung ist so der Antisemitismus ein Mittel des Finanzkapitals,
die geplante imperialistische Raubpolitik ideologisch zu rechtfertigen und
zugleich das eigene Volk, das diese Politik umsetzen soll, psychologisch darauf
vorzubereiten.
So erläutert Opitz:
"Der Faschismus als
solcher war eine Veranstaltung zur terroristischen Erziehung des gesamten
deutschen Volkes zu einer im Inneren des Reiches gegenüber seinen
"Führern" devoten Gefolgschaftskompanie des Welteroberungswillens des
Monopolkapitals und, sowie es den Fuß über die Grenzen gesetzt hat, zu einer den anderen Völkern
gegenüber sich als grausame Herrenmenschen verhaltende Truppe, ..."28
Und Pätzold zeigt auf:
"Die Judenverfolgung zur
Kriegsursache zu erklären, heißt die geschichtlichen Zusammenhänge geradezu auf
den Kopf zu stellen. Im Zentrum der faschistischen Politik stand als das
nächste strategische Ziel unverückbar, das Deutsche Reich materiell und geistig
zum frühestmöglichen Termin in Kriegsbereitschaft zu versetzen. Dieser
Strategie dienten Antisemitismus und Judenverfolgung."29
War also die Hauptfunktion des
faschistischen Antisemitismus vor der Machtübergabe und in den unmittelbar
folgenden Wochen des Jahres 1933 der Kampf gegen die Arbeiterbewegung und die
Verschleierung des monopolkapitalistischen Charakters des faschistischen
deutschen Staates, so wandelte sich die Aufgabe schnell zum
"Erziehungsauftrag", um das
deutsche Volk kriegstauglich einzustimmen.
Die kriegsvorbereitende Funktion
des Antisemitismus wurde zur strategischen Zielsetzung neben den nur taktisch
zu sehenden Funktionen wie Bereicherung und Ablenkung innermonopolistischer
Konkurrenz. Hier begann der Antisemitismus dann die schon angesprochenen
Aufgabe jedes Rassismus in der kolonialistischen und imperialistischen Epoche
zu erfüllen, nämlich ein Volk mit einem wie auch immer gearteten
Sendungsbewußtsein auszustatten und ihm seine eigene Überlegenheit einzuimpfen,
um es dazu zu bringen, in einem anderen Volk einen unbedingt zu vernichtenden
Feind zu erblicken, der von so anderer Art zu sein scheint, daß er nicht mehr
menschlich zu behandeln sei.
Entgegen einem herkömmlichen
Rassismus ließ sich mit dem Feindbild vom "Weltjudentum" das gesamte
Eroberungsprogramm des faschistischen deutschen Imperialismus propagandistisch
herleiten.
Pätzold schreibt:
"Waren die "jüdischen
Plutokraten" auch im faschistischen Staat schließlich liquidiert, so
existierten sie doch in London, Paris und anderswo fort und leiteten angeblich
von da aus den Kampf gegen das "neue Deutschland". Die antijüdische
Aufstachelung gegen "den Juden" als den angeblichen inneren Feind
ging bruchlos in die in die Legende vom "Weltfeind Judentum" über.
Die Aufrufe, die dem deutschen Volk Anfang September 1939 begründeten, warum es
nun Krieg zu führen hätte, zeugen davon, wie die faschistische Führung die
Volksmassen von einer "blutsmäßigen" Erkenntnis zur folgenden, d.h.
von einer antisemitischen Lüge zur nächsten, noch ungeheuerlicheren
drängte."30
So beinhaltete der Antisemitismus
der Nazis von Anfang an eine imperiale Dimension, der Krieg gegen die deutschen
Juden konnte nur der Auftakt zum angeblichen Kampf gegen das
"Weltjudentum" sein und somit der Auftakt zum Weltkrieg. Trat der
propagierte Feind angeblich doch mit dem Janusgesicht des
"Kreml-Bolschewismus und des "Wall-Street-Kapitalismus" auf.
Diese besondere Qualität des deutschen faschistischen Antisemitismus kann gar
nicht genug betont werden.
In der Deutung von Opitz sind die
beiden Hauptfunktionen der SA-Terroraktionen im November 1938, zur sogenannten
"Reichskristallnacht", auch die psychologische Vorbereitung des
Weltkrieges gegen einen durchgängig zu beschwörenden Feind, sowie die
Einstimmung der Bevölkerung auf die unmittelbar bevorstehende Welle antijüdischen
Vorgehens bis hin zum Massenmord.
"Der Antisemitismus (diente) also in der handfesten Form einer
Propaganda des praktischen Terrors zur Zwangserziehung der Inlandsbevölkerung
zu Nietzsches Herren- und Sklavenmoral - der nichtjüdischen Deutschen zur
mitleidsfreien Moral der blonden Bestie, der deutschen Juden wenn nicht zur "Moral", so doch
zur praktischen Verhaltensweise willenloser Sklaven."31
Zusammenfassend läßt sich sagen,
daß die Hauptfunktion des Antisemitismus in seinem Gebrauch durch die
Nazibewegung zuerst in der Formierung der faschistischen Massen um ein
antisemitisches Programm bestand. Der Faschismus an der Macht führte dann seine
Schläge gegen die Arbeiterbewegung und demokratische Kräfte mit der
Argumentation und mobilisierenden Kraft des Antisemitismus. Um den politisch
und sozial konterrevolutionären Charakter des Naziregimes zu verdecken, hatte
der Antisemitismus die Aufgabe, antikapitalistische Gefühle der Anhängerschaft
abzulenken. Zugleich konnte die kleinbürgerliche Massenbasis des Faschismus
durch die antijüdischen Aktionen an das Regime gebunden werden. Eher
Schmarotzerfunktionen im Antisemitismus hat die persönliche Bereicherung durch
das "Gesetz zur Arisierung der Wirtschaft", mit dem die ohnehin schon
Großen dazugewannen, aber auch kleine Konkurrenten ausgeschaltet wurden. Auch
der Antisemitismus in innermonopolistischen Machtkämpfen hat untergeordnete
Bedeutung. Hauptaufgabe ist die Erziehungsaufgabe durch Antisemitismus und
antijüdisches Vorgehen. Durch Pogromaktionen und rassistische Sondergesetze
sollte die Bevölkerung zur passiven Duldung der Maßnahmen des Regimes erzogen
werden, gleichzeitig sollte Deutschland psychologisch auf Kriegskurs gebracht
werden. Wer Grausamkeiten an Minderheiten im eigenen Land duldet oder aktiv,
unterstützt wird auch zu aggressiven Handlungen im Krieg gegen andere Völker
bereit sein. Ideologisch sollte der Antisemitismus, der in seiner deutschen
Eigenart bereits expansive Dimensionen hatte, den Weltkrieg rechtfertigen. Mit
der Konstruktion des "Weltjudentums" war ein Gegner gefunden, der
erst mit der faschistischen deutschen Weltherrschaft zu vernichten wäre.
Diese Darstellung der Funktionen
des faschistischen Antisemitismus zeigt, daß zumindestens in der Nutzung dieser
Ideologie eine Affinität zu den Zielen des Finanzkapitals deutlich wird.
Inwieweit hier die Eigeninteressen des Naziregimes mit denen des Finanzkapitals
nur zusammentreffen, und inwieweit eben dieses Finanzkapital Urheber dieses
Antisemitismus ist, wie es die Dimitroff-Thorie behauptet, kann so nicht
beurteilt werden. Der marxistisch orientierte Professor für Politologie an der
Universität Marburg, Reinhard Kühnl32, der die Dimitroff-Theorie ablehnt, muß zugestehen:
"Von einer totalen
irrationalen Verselbständigung des faschistischen Antisemitismus gegenüber den
Hauptzwecken seiner Innen- und Außenpolitik kann also gewiß nicht gesprochen
werden." Allerdings kritisiert er: "Klar ist jedenfalls, daß
diese Form des Antisemitismus nicht als ideologisches Herrschaftsmittel zur
Sicherung und Mobilisierung von Massenloyalität erklärt werden kann, weil schon
seit der "Reichskristallnacht" 1938 klar war, daß die antisemitischen
Ausschreitungen bei der deutschen Bevölkerung keineswegs populär waren, und
weil der Massenmord nicht direkt von kapitalistischen Profitinteressen her
erklärt werden kann."33
Die Hauptkritik bürgerlicher
Wissenschaftler und undogmatischer Marxisten betrifft daher auch nicht die eher
propagandistischen und mobilisierenden Aspekte des Antisemitismus, sondern in
erster Linie dessen tatsächliche Umsetzung in Form des Völkermordes an den
Juden, in dem sich erst die angebliche Irrationalität des Faschismus äußern
sollte. Wie die marxistisch-leninistische Forschung mit dieser Fragestellung
umgeht, soll im Folgenden dargestellt werden.
5. Der Völkermord an den Juden
im Zweiten Weltkrieg:
5.1. Feindfreier
Herrschaftsraum:
War der innenpolitisch genutzte
Antisemitismus als demagogische Mobilisierung erst zur Zerschlagung der
Arbeiterbewegung und dann zur psychologischen Kriegsvorbereitung im Sinne des
Großkapitals verständlich, so gilt es jetzt nach den Gründen der deutschen
Judenpolitik in den überfallenen Staaten zu suchen.
Als absolut zentralen Nenner sieht
Reinhard Opitz hierin die Forderung nach einem "feindfreien
Herrschaftsraum", also den Gedanken der Raumsicherung. Hierzu geht
Opitz in seinen Nachforschungen zurück in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, um
die Strategien des deutschen Imperialismus zu erkunden. Der "Alldeutsche
Verband", Propagandainstrument der annektionistischen Fraktion des
deutschen Großkapitals, hatte seine Forderung nach einem von einem
"Großdeutschen Reich" beherrschten Europa zugleich mit der Forderung
nach einem feindfreien Herrschaftsraum verbunden. Entweder sollte die
Bevölkerung annektierter oder beherrschter Gebiete loyal zu den deutschen
Herren stehen, oder das Gebiet sei als menschenleeres Land zu bevorzugen. Der
Vordenker der "Alldeutschen", Heinrich Claß, hatte schon 1912
für zu fordernde Gebietsabtretungen in Rußland die Vertreibung der
einheimischen Bevölkerung gefordert. Während des Weltkrieges fordert der "Alldeutsche
Verband" dann, den osteuropäischen Herrschaftsraum in möglichst viele
"völkisch reine" Splitterstaaten aufzuteilen, um so eine deutsche
Herrschaft zu sichern.34
Opitz sieht nun in der
Judenpolitik während des Zweiten Weltkrieges die Anwendung eines Teilbereiches
eben dieses Programms. Durch die vom "IG-Farben"-Flügel des
deutschen Monopolkapitals vorangetriebene "Blitzkriegsstrategie", vor
dem Hintergrund des globalen Krieges, war es für den deutschen Imperialismus
vorrangig notwendig, das eroberte Territorium nicht nur gegen die gegnerischen
Mächte nach außen zu verteidigen, sondern auch nach innen ein feindfreies
Gebiet zu haben, um alle Kräfte gegen den äußeren Gegner, also die Alliierten
frei zu haben. Opitz führt aus, daß die Orientierung wichtiger Teile des
deutschen Finanzkapitals auf die Blitzkriegsstrategie, die genug Rohstoffe für
eine autarke Kriegführung gegen die Westmächte sichern sollte, zu einer
Verschmelzung der IG-Farben-Konzeption des globalen Krieges gegen alle
Westmächte gleichzeitig mit der
"alldeutsch-völkischen" Konzeption führt. Die Lösung der
Sicherheitsprobleme in den besetzten Territorien sei "durch eine
systematische Rassenselektionspolitik und die Schaffung eines für rein deutsche
Besiedlung vorgesehenen menschenleeren Raums einerseits und der strategischen
Beherrschung des Restes der "Fremdvölkischen" durch
zweckentsprechende Aufsplitterung und Umsiedlung und perspektivische
Vernichtung aller auch nur verdachtsweise unbotmäßigen Gruppierungen
andererseits" zu schaffen.35
Opitz betont aber, daß sich diese
Maßnahmen nicht nur gegen momentanen Widerstand richteten, sondern auch durch
die Angst vor der "völkischen Gesundheit und Lebenskraft der Völker
Rußlands und dem Mißverhältnis zwischen ihrer Zahl und der Zahl der zu ihrer
Beherrschung überhaupt zu Verfügung stehenden Deutschen motiviert waren.36
War die besondere Gefahr, die
gerade von den Juden für die deutschen Besatzer ausgehen sollte, zuerst nur
Ideologie, entsprungen aus dem völkischen Irrationalismus, so erreichten die
deutschen Truppen, Wehrmacht und Einsatzgruppen des Reichssicherheitshaupamtes,
durch ihr brutales Vorgehen gegen die osteuropäischen Juden, also durch
Ghettoisierung, Vertreibung und den schon bei der Besetzung Polens einsetzenden
Massenmord, daß die Juden tatsächlich zum Todfeind der Besatzer werden mußten.
Die Juden waren aus der völkischen
Perspektive der Nazis zudem die einzige Bevölkerungsgruppe die sowohl in den
besetzten Ländern wie auch im Reich selber in größerer Zahl anzutreffen war.
Durch die Liquidation polnischer Eliten, darunter natürlich auch Juden, sah sich das NS-Regime plötzlich
einer nun reellen Feindgruppe im eigenen Land gegenüber, die aller
Wahrscheinlichkeit nach die Verbrechen an den osteuropäischen Juden nicht
widerstandslos mittragen würde. Pogromaktionen wie zum 9.November 1938 sollten,
so Opitz, dazu dienen, die Bevölkerung auf die fortschreitende Entrechtung und
Vertreibung der deutschen Juden vorzubereiten, die für den Überfall auf Polen
geplant war.37
5.2. Die Hintergründe der
"Endlösung" durch Massenmord:
Die Vernichtung der Juden durch
den Massenmord ergab sich für Opitz aus dem Kriegsverlauf. So war zwar von
Anfang an das Ziel der Nationalsozialisten, die Juden aus dem Reich und den
eroberten Gebieten zu treiben; die Forderung nach der "Endlösung" kam
aber erst, als Kriegsverlauf und Zahl der betroffenen Juden andere Lösungen wie
die massenhafte Auswanderung nach Palästina oder die Deportation nach Madagaskar
unmöglich machten. Die Wende kam im Dezember 1941, als durch die Stärke der
sowjetischen Winteroffensive das Scheitern der Blitzkriegsstrategie deutlich
wurde. Jetzt wurde die Forderung nach dem absolut feindfreien Herrschaftsraum
unbedingte Notwendigkeit. Opitz führt aus: "Und erst, wenn man sich
diesen der Wannsee-Konferenz vom 20.Januar 1942 vorausgehenden, in der Annahme
eines Blitzkriegs-Sieges über die Sowjetunion projektierten und in Angriff
genommenen Gesamt-"Holocaust" vergegenwärtigt und sich die von den
Naziführern zu ihrem internen Gebrauch gegebenen Begründungen für ihn ansieht,
wird man auf einmal den Schlüssel zum Verständnis dafür in der Hand halten,
weshalb ihr gegenüber den Juden bisher als "Zwischenlösung" bis zur
eventuellen Durchführung einer "territorialen Endlösung" nach
Kriegsende praktizierter Vernichtungsterror in den Ghetto-Bezirken,
Zwangsarbeiterlagern und durchaus planmäßigen Massakern auf russischem Boden
vom ersten Tage des militärischen Einfalles in die Sowjetunion an ab Ende 1941
zur Organisation der nunmehr gleichsam "geordneten" kollektiven und
dem Ziel nach vollständigen Ermordung aller Juden in geschlossenen Lagern
übergeht."38
Opitz geht davon aus, daß die
Juden in Europa ein sich ständig radikalisierendes Gefahrenpotential geworden
waren, und so die deutschen Truppen aus dem Raumsicherungsgedanken heraus den
systematischen Massenmord einleiteten.
Selbst der noch sich steigernde
Massenmord an Juden und Kriegsgefangenen noch zu Ende des Krieges auf dem
Rückzug der deutschen Truppen erscheint für Opitz nach dieser Logik erklärbar und keineswegs irrational. Gingen
doch die Nazis davon aus, daß bei einem weiteren Vordringen der Roten Armee
nach Mitteleuropa die Westallierten die Front wechseln und mit den Deutschen zusammen
gegen die Sowjetunion kämpfen würden. So wurde der Rückzug nur als
vorübergehend angesehen und zumindest
das Ziel der Judenvernichtung sollte weiter durchgeführt werden:
"Die Nazi-Führer und das
deutsche Monopolkapital waren der festen Überzeugung - und hierin lag der
Realismus und daher das Gefährliche ihrer Spekulation - , daß der Gegensatz
zwischen den system-ungleichen Alliierten der Antihitler-Koalition
unvermeidlich binnen kurzem aufbrechen und sie in Europa miteinander (um
Europa) in Konflikt bringen müsse."39
Die Frage der Massenvernichtung
der letzten Kriegsmonate ist für Opitz entscheidend für das Verständnis des
Faschismus als Diktatur des Finanzkapitals. So würden viele Elemente, die von
bürgerlichen Historikern als Verselbständigung des NS-Regimes und als
Irrationalität interpretiert werden, bei einem richtigen Faschismusverständnis,
für Opitz die Dimitroff-Theorie, durchaus Sinn ergeben. Das von bürgerlichen
Geschichtsschreibern gerne bemühte Argument der an der Front dringend benötigten
Güterzüge, die stattdessen für die Judentransporte eingesetzt wurden, verliert
für Opitz so auch seine Schlagkraft. Denn nach der marxistisch-leninistischen
Faschismusinterpretation ist für die Nazis nicht mehr ein Rückzug mit möglichst
geringen Verlusten das Hauptziel, wofür dann die in die Judenvernichtung
gesteckten Kräfte hinderlich und somit irrational wären, sondern der Faschismus
handelt auch hier ganz allein nach den Zielen des Finanzkapitals. Und dessen
Interesse sei die Vorbereitung eines neuen Krieges an der Seite der
Westalliierten gegen die Sowjetunion und somit schon eine vorsorgliche
Vernichtung zukünftiger Gegner. Entscheidend war nur das militärische
Durchhalten bis zum erhofften Frontwechsel der Westalliierten. So würde jedes
von der militärischen Lage her sinnlose Weiterkämpfen und die weitere
Vernichtung von Juden und Kriegsgefangenen eben doch sinnvoll und rational.40 Die Überlegung der NS-Führung und
dahinter des Finanzkapitals war, so Opitz, daß die deutschen Truppen ja bald
wieder nach Osteuropa kommen würden, "und was man bislang bereits in
ganz Europa in Lagern konzentriert hatte, würde dann mit Sicherheit überall,
etwa vorher aus ihnen wieder entlassen und in seine Heimatländer zurückgekehrt,
in der vordersten Reihe des Kampfes gegen eine solche Wiederkehr und der
Mobilisierung des Widerstandes jeweils seines gesamten Landes stehen. Auf alle
absehbaren Zeiten würde jeder erneute, noch im Zuge dieses Krieges oder auch
erst später unternommene Anlauf, "Großdeutschland" bzw. den
deutschbeherrschten "Großraum Europa" herzustellen, in ganz Europa
die vom deutschen Faschismus unbeabsichtigt geschaffene neue, wahrhaft
internationale politische Personen- oder "Feind"-kategorie der
Überlebenden der NS-Todeslager zu seinem entschlossensten Gegner haben."41
Nur für diejenigen
Forschungsansätze bürgerlicher Historiker, die den Nationalsozialismus aus der
Person Hitler heraus erklären wollen und so als das Ziel der letzten
Kriegsmonate sehen, Hitler an der Macht
zu halten, muß die Massenvernichtung zu Kriegsende als irrational erscheinen.
Für den Marxisten Opitz erklärt sich dagegen das Vorgehen der Faschisten aus
der Rationalität schon des nächsten imperialistischen Krieges.
5.3. Kritikpunkte des
Raumsicherungsansatzes:
Die hier von Reinhard Opitz
gegebene Interpretation des Holocaust aus Raumsicherungsinteressen darf
sicherlich nur als ein, wenn auch bedeutender Teilaspekt, der marxistischen
Erklärungsmuster gesehen werden. Gleichwohl wirft dieser Ansatz auch einige
Fragen und Kritikpunkte auf .
Die Annahme, daß durch die Liquidierung polnischer Juden die in
Deutschland lebenden Juden automatisch zur Feindgruppe werden, ist
Irrationalismus nach der Legende vom "Weltjudentum". Zwar hatten die
Nazis allen Grund, in den deutschen Juden ihren Gegner zu sehen, doch dies
hatte weniger mit der Liquidierung polnischer Juden als vielmehr mit der
antisemitischen Politik in Deutschland selber zu tun. Außer dem jüdischen
Glauben gab es wenig Gemeinsamkeiten zwischen den Ostjuden und den im Reich
lebenden. Die Klassifizierung der Juden
als Volksgruppe durch das
NS-Regime ist rein ideologisch. Mit derselben Rechtfertigung hätte der deutsche
Staat nach der Liquidierung von polnischen Angehörigen der Führungsschicht, die
das christliche Bekenntnis teilten, die im Reich lebenden Christen zur
besonderen Feindgruppe erklären können. Der Unterschied war eben nur, daß aus
Sicht der Nationalsozialisten die Juden eine Rasse waren, die Christen aber
eine Religionsgemeinschaft. Nicht eine
"völkische" Solidarität von deutschen Juden mit Ostjuden hatte der
faschistische Staat in erster Linie zu befürchten, sondern den Widerstand der
Juden in Deutschland gegen den zur Staatsdoktrin erhobenen Antisemitismus.
Auch ist zwar das Raumsicherungsmotiv
als ganzes verständlich, gleichwohl stellt sich die Frage, warum ausgerechnet
die Juden eine so besonders gefährliche Gruppe sein sollten. Selbst unter der
Annahme, daß sich aus der jüdischen Bevölkerung ein überproportional großer
Teil der polnischen oder russischen Intelligenz rekrutierte, erklärt dies nicht
die massenhafte Vernichtung jüdischer Menschen. Der Massenmord gerade an den
Juden läßt sich nach dem Raumsicherungsdenken nur erklären, wenn nach
völkischen Denkmustern gehandelt wurde und so den Juden eine besondere
"rassische" Widerstandskraft zugeschrieben wird. Die Beschlüsse der
Wannseekonferenz zur "Endlösung der Judenfrage" können dann
allerdings wieder als - im Sinne des Imperialismus - rationale
Raumsicherungskonzepte gesehen werden. Denn durch die von völkischem
Irrationalismus motivierten Massenerschießungsaktionen durch die Einsatzgruppen
von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst waren die Juden zu einer Gruppe
gemacht worden, die sich als besonders gefährdet betrachten und so ein besonderes
Interesse an Widerstand haben mußte. Und auch durch die massenhafte Deportation
und Einsperrung hatte sich das Besatzungsregime neue Todfeinde geschaffen. Hier
setzte der Realismus des Raumsicherungsdenkens also jenseits aller völkischen
Vorurteile wieder ein.
Die entscheidende Frage bleibt
aber die nach marxistischen Erklärungsmustern für die Massenmordaktionen
insgesamt, die lange vor der Wannseekonferenz schon mit der Ermordung Tausender
Juden in Polen begannen.
Auch muß die Frage gestellt werden,
welchen ökonomischen Nutzen das Großkapital durch die Konzentrations-und
Vernichtungslager hatte.
5.4. Zur ökonomischen Funktion
der Konzentrations- und Vernichtungslager:
Das faschistische Lagersystem von
Konzentrationslagern mit angeschlossenen Arbeitslagern für Zwangsarbeiter
untersucht Dr. Peter M. Kaiser um zu beweisen, daß auch hier die ökonomischen
Interessen immer mehr in den Vordergrund rückten.42
In einer detaillierten Studie zeigt Kaiser die Existenz großer
Komplexe von Konzentrationslagern mit angeschlossenen Arbeitslagern und
Wirtschaftsbetrieben.43
Durch das Lagersystem, so seine
These, versuchte der deutsche Imperialismus, die Arbeitskräfte zu ersetzen, die
durch den massenhaften Einsatz von Frontsoldaten der Produktion entzogen wurden.44 Die
KZ-Häftlinge wurden in der zivilen Produktion als Arbeitssklaven eingesetzt,
aber auch in der Rüstungsfertigung.
Prominentes Beispiel für die kriegswichtige Funktion von Zwangsarbeitern ist
die Herstellung der V2-Raketen durch Häftlinge im Lager
"Dora"-Nordhausen am Südharz. Den unmittelbaren Einfluß der
Monopolindustrie auf das Lagersystem zeigt auch die Tatsache, daß das größte
Industrie-KZ-Kombinat des Dritten Reiches, Auschwitz, unter Beteiligung der
IG-Farben gegründet wurde. Allein 370.000 Häftlinge wurden in Betrieben der
IG-Farben "durch Arbeit" ermordet.
Dabei wurden durch Sklavenarbeit in Auschwitz allein für die IG-Farben
bis Ende 1944 Werte von weit über
300.000.000 Reichsmark erwirtschaftet. Als Zahlung an die SS mußte die IG-Farben für zweieinhalb Jahre Ausbeutung von Häftlingsarbeit nur
20.Millionen Reichsmark abführen.45
Kaiser sieht im Aufbau des
KZ-Lagersystems drei Phasen:
"a) eine
"sicherheitspolitische" Phase der Liquidierung der politischen Gegner
des Faschismus und der bürokratischen Vorbereitung der Judenvernichtung (1933
bis 1938),
b) eine Phase der zunehmenden
Ausbeutung der besitzenden Juden durch "Arisierung" der Betriebe, besonders der in annektierten
Gebieten, und der beginnenden Erweiterung des KZ-Systems in Form von
Arbeitslagern sowie der beginnenden Massendeportationen (1939 bis 1942),
c) eine dritte Phase
schließlich der "Endlösung der Judenfrage", d.h. der totalen
Verschleppung und Konzentration aller Juden, Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter
usw. in 15 großen KZ und über 1500 Arbeitslagern (1942 bis 1945)."46
Diese dritte Phase führte zum
vollständigen Einsatz aller arbeitsfähigen Häftlinge in den SS-Betrieben
und Privatbetrieben, meist in der Hand
von Monopolen wie IG-Farben, Krupp, AEG oder Siemens. Für die SS und die
Monopole war es am rentabelsten, die nicht arbeitsfähigen Häftlinge, also ca.
60 bis 80 %, im Rahmen der Aktion
"Reinhard" zu ermorden.47
5.5. "Vernichtung durch
Arbeit":
Die extreme Ausbeutung der KZ-Häftlinge erreichte zuletzt einen so
hohen Grad, daß die "Vernichtung durch Arbeit" faschistischer
Rationalität entsprach, da ein Am-Leben-Halten der Arbeitssklaven sich
ökonomisch für die Ausbeuter nicht mehr rentierte.
Die "Vernichtung durch
Arbeit" scheint eigentlich am deutlichsten die Behauptung vom
kapitalistischen Charakter des Faschismus zu widerlegen. So ist doch nach der
marxistischen Analyse der Ökonomie allein die menschliche Arbeitskraft
wertschaffend und es erscheint so nach kapitalistischer Logik widersinnig, wenn
sich ein kapitalistisches Wirtschaftssystem genau diese Lebensgrundlage
untergräbt. Der marxistische Ökonom Professor Ernest Mandel analysiert diesen
Widerspruch:
"In der extremen Form, die
der Faschismus vor allem in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges angenommen
hat, geht er von der Militarisierung der Arbeit immer mehr zur Unterdrückung
der freien Arbeit, zur Sklavenarbeit über. Die "ökonomischen
Gesetze", denen diese Arbeit entspricht, sind besonderer Art und haben
nichts mehr gemein mit den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft; sie
zeichnen sich vielmehr dadurch aus, daß sie in einem gewissen Maß alle alten
Formen der Ausbeutung der Arbeit beinhalten können, ohne das eigentliche Ziel
aufzugeben: die Verwertung und die Akkumulation des Kapitals."48
Durch das Verschwinden der
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt im
faschistischen Wirtschaftssystem wird die Tendenz zum Sklavenstaat
entscheidend. Hier nimmt die Frage, wann soll der Sklavenarbeiter ermordet
werden, um die Produktionskosten möglichst gering zu halten, einen hohen
Stellenwert ein. Doch erklärt Professor Mandel, daß eine solche Form der
Mehrausbeutung von Sklavenarbeit nur ein großes Nebenprodukt der
kapitalistischen Wirtschaft im Faschismus ist, nicht jedoch deren
Haupterscheinungsform. Erst, wenn die Mehrheit der Mitglieder einer
kapitalistischen Gesellschaft zu
solchen Sklavenarbeitern verwandelt würden, also auch nicht mehr als
Konsumenten für die von ihnen produzierten Waren in Frage kommen, wäre die kapitalistische
Logik durchbrochen. Solange ein solches Gesellschaftsstadium nicht erreicht
ist, ist die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen ein Mittel zur extremen Ausbeutung
und somit zur Gewinnung eines maximalen Mehrproduktes. Diese Zwangsarbeit
bleibt aber eingebunden im System von Kapitalverwertung und
Kapitalakkumulation.49
6. Marxistische Kritik an den
marxistisch-leninistischen
Holocaustdeutungen:
Die marxistisch-leninistische
Faschismus-und Holocaustforschung hat sich sicherlich das Verdienst errungen,
eine große Menge Quellenmaterial zu sammeln und bis ins Detail die Rolle und
Verantwortung von Kreisen des Großkapitals zu belegen. Dennoch stößt die These,
wonach auch der Holocaust mit seinem Massenmord allein kapitalistischer Logik
entsprungen sei, da die faschistische Herrschaft schließlich ausschließlich die
"offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am
meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals"50 sei,
nicht auf die ungeteilte Zustimmung aller marxistisch orientierter
Wissenschaftler.
Der Marburger Politologe Professor
Reinhard Kühnl erkennt so zwar an, daß zwischen dem faschistischen
Antisemitismus und den Hauptinteressen der Innen-und Außenpolitik ebenso ein
kausaler Zusammenhang festzustellen ist, wie zwischen Profitinteresse und
Massenmord. Für Kühnl bleibt aber weiterhin die Kausalfrage ungeklärt. So wäre
zwar die ökonomische Profitlogik auch beim Holocaust zum Tragen gekommen,
dieses Kapitalinteresse sei aber so noch lange nicht als der Auslöser des
Massenmordes zu erkennen. Ungeachtet der von Opitz skizzierten
Raumsicherungsinteressen bemüht auch Kühnl das schon erwähnte
"Güterwagenargument", wonach gerade in den letzten Kriegsmonaten eine
große Menge des für die Truppe benötigten Transportraums als Judentransport
eingesetzt wurde.51 Kühnl kann sich solche Ereignisse nur so erklären:
"Die rassistischen
Wahnvorstellungen des Faschismus hatten sich total verselbständigt, waren
jeglicher rationaler Kontrolle entglitten und vernichteten am Ende auch
diejenigen, die ihre Herrschaft bisher mit Hilfe solcher irrationaler
Ideologien abgesichert und verschleiert hatten. Irrationalismus und Terror, die
wichtigsten Herrschaftsmittel des faschistischen Systems, enthielten also
zugleich den Keim für dessen Untergang."52
Professor Kühnl ist ein Anhänger
der Faschismus-Theorie August Thalheimers, der im Faschismus ein
bonapartistisches Regime erblickt. Gestützt auf militärische Repression gegen
die Arbeiterbewegung besteht so ein bonapartistisches Regime aus einem
verselbständigten Staatsapparat, der ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis
nutzt, in dem das Großbürgertum nicht mehr fähig ist, selber die Herrschaft
auszuüben und die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, sich zur
herrschenden Klasse zu erheben.53 Ein Hauptmangel dieser Faschismuserklärung besteht in
der Mißachtung des qualitativen Unterschiedes der bloß repressiven
Militärdiktatur und der vollständigen Zerschlagung und Atomisierung der
Arbeiterbewegung durch einen zur Herrschaft gelangten Faschismus. Dennoch
bietet diese Theorie für Kühnl eine Erklärung für die partielle
Verselbständigung der faschistischen Ideologie und des Staatsapparates
gegenüber den Interessen des Monopolkapitals wie auch den
Herrschaftssicherungsinteressen des Systems selber.
Kühnl kritisiert auch scharf
diejenigen Marxisten, die versuchen, jedes Ereignis und Moment des
ideologischen und institutionellen Überbaues direkt aus der ökonomischen Basis
und sogar aus dem unmittelbaren Profitinteresse des Großkapitals abzuleiten.
Eine solche Denkweise ist für Kühnl zutiefst ökonomistisch und
vulgärmaterialistisch. Er betont:
"Es ist nicht damit getan,
die Existenz und die Wirksamkeit des Irrationalismus zu leugnen. Vielmehr kommt
es darauf an, die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung und die
Wirkungsmöglichkeiten des Irrationalismus aufzudecken. Natürlich haben sich die
irrationalistischen Ideologien, die im Faschismus ihren konsequentesten
Ausdruck fanden (...) aus bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen
entwickelt, in diesem Fall aus den monopolkapitalistischen seit dem Ende des
19.Jahrhunderts. (...) Und natürlich besteht ihre objektive Funktion darin, die
bestehenden Produktionsverhältnisse abzusichern. Aber: ebensowenig wie die noch
bestehenden religiösen Bewußtseinsformen (die einst ganz anderen gesellschaftlichen
Verhältnissen entsprangen) oder die bestehenden philosophischen und
ästhetischen Theorien unmittelbar
aus Profitinteressen ableitbar sind, ebensowenig gilt dies zum Beispiel für
faschistisch-antisemitische Bewußstseinsformen und Aktivitäten. Dialektische
Geschichtsanalyse ist mit der Vorstellung einer direkten und einseitigen
kausalen Determination des Überbaus durch die Basis unvereinbar."54
So glaubt Kühnl, eine Erklärung
auch für die zunächst irrationalen Seiten des Holocaust zu finden, in dem er
hier einen verselbständigten Staatsapparat, getrieben von einem
verselbständigten Irrationalismus, entdeckt.
Auch Professor Mandel, der die
trotzkistische Faschismusanalyse vertritt, die sich von Thalheimers Theorie
hauptsächlich dadurch unterscheidet, daß sie im Faschismus durch seine
Massenbewegung eine neue Qualität gegenüber der bloßen bonapartistischen
Militärdiktatur erblickt,55 ist bereit, eine gewisse Irrationalität im Holocaust
anzuerkennen. So ist für Professor Mandel eine Kombination von wachsender
Teilrationalität und wachsender Gesamtirrationalität kennzeichnend für die
moderne bürgerliche Gesellschaft.
"Dies ist letzten Endes
auf den Widerspruch zwischen objektiver Sozialisierung der Arbeit und privater
Aneignung, also auf das eigentliche Wesen von kapitalistischer Marktwirtschaft,
Warenproduktion, Privateigentum und Konkurrenz zurückzuführen. Nur im Lichte
dieser Kombination werden Erscheinungen wie Faschismus, Nationalismus,
Weltkriege, die Duldung langandauernder Wirtschaftskrisen mit der sie
begleitenden massenhaften Vernichtung menschlicher und sachlicher
Produktivkräfte verständlich."56
So sieht Mandel gerade auch im
Völkermord an den Juden eine gewaltige Gesamtirrationalität. Aber auch im
Faschismus lassen sich Elemente einer wachsenden Teilrationalität finden. So
mag der Völkermord selber jeglicher Rationalität entbehren, die Ausbeutung und
Vernichtung der Menschen wurde aber rational und planmäßig betrieben, immer
natürlich im Rahmen der irrationalen Logik des Faschismus.
7. Résumée und Ausblick:
Die im Vorangegangenen erfolgte
Darstellung zeigt, daß die marxistische Geschichtsschreibung keineswegs vor dem
Phänomen des Holocaust versagt hat und mit der historisch-materialistischen
Methode wichtige Erkenntnisse zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen
deutschem Imperialismus, Faschismus und Völkermord erbracht werden können. Wenn
auch aus der marxistisch-leninistischen Forschung deutlich hervorgeht, daß sich
der deutsche Imperialismus durchaus des von der Ideologie her irrationalen
Antisemitismus der Nazibewegung bediente, so darf hier nicht der Fehler gemacht
werden, im Finanzkapital den Verursacher dieser Ideologie zu erblicken. Von
bürgerlicher Seite wird die Dimitroff-Theorie oft und nicht ganz zu Unrecht als
"Agententheorie" verschrien. Eine kapitalistische Verschwörung
scheint sich da der Faschisten als Agenten zu bedienen, da der Faschismus ja
die Diktatur des Finanzkapitals selber sein soll. Ein solcher Eindruck, der
etwa beim Studium der Schriften von Reinhard Opitz leicht aufkommt, hat seine
Ursache in der mangelnden Dialektik der marxistisch-leninistischen
Faschismusforschung. So darf nicht übersehen werden, daß auch die
Dimitroff-Theorie zu einer Zeit entstand, als im stalinistischen System der
lebendige Marxismus einer undialektischen dogmatischen Denkweise zum Opfer
fiel, die im wesentlichen am Machterhalt der Kremlbürokratie orientiert war.
Die Theorien des Faschismus als
Bündnis einer faschistischen Massenbewegung mit dem Monopolkapital, wie sie von
Leo Trotzki und August Thalheimer vertreten wurden, scheinen wesentlich besser
als das Dimitroff-Dogma geeignet, die vielfachen Zusammenhänge im Faschismus
dialektisch zu begreifen. Erscheinungen wie der Holocaust werden leichter
erklärbar, wenn man von einer relativen Selbständigkeit des faschistischen
Staatsapparates vom Kapital ausgeht. Die Theorien des Faschismus als Bündnis
verschiedener Klassen gehen davon aus, daß das Kapital auf seine politische
Macht zu Gunsten der kleinbürgerlichen faschistischen Bewegung verzichtet, um
seine ökonomische Macht zu retten.
Sowenig der Antisemitismus eine
Erfindung der Nazibewegung war, sowenig war die Nazibewegung in ihrer
Entstehung das Werk des Finanzkapitals. Sosehr aber die NSDAP den latent in der
Bevölkerung vorhandenen Antisemitismus aufgriff und dessen verstärkendes
Sprachrohr wurde, sosehr griffen auch Kreise des Kapitals auf die Nazibewegung
zurück, um sie zum Werkzeug ihrer Interessen zu machen. Es kann kein Zweifel
bestehen, daß weite Kreise der NSDAP-Mitglieder und ihrer Führer überzeugte
Anhänger des antisemitischen und rassistischen Irrationalismus waren.
Ebensowenig kann bezweifelt werden, daß die Großbourgeoisie, obwohl oft durch
ihre individuelle Erziehung antisemitisch geprägt, sich des Antisemitismus und
der NS-Bewegung nicht aus subjektiver Überzeugung bediente, sondern aus
objektiven Gründen von Machterhalt und Profitmaximierung. So war das
Monopolkapital zuerst Nutzer des Antisemitismus, allerdings wandelte es sich
dann auch zu seinem Förderer. Je mehr die antisemitischen Vereinigungen, allen
voran die NSDAP, einen Nutzen für das Kapital zeigten, desto höher waren auch
finanzielle Zuwendungen. Objektiv handelte die faschistische Bewegung fast
immer im Sinne ihrer kapitalistischen Förderer. Allerdings verstanden sich wohl
die wenigsten Nazis als Marionetten des Großkapitals. Nur fiel ihre
antisemitische Überzeugung und ihr Drang nach persönlicher Bereicherung
zusammen mit den objektiven Interessen der Großbourgeoisie. So darf das
Verhältnis zwischen antisemitischer Massenbewegung und Großkapital nicht
einseitig gesehen werden, sondern als dialektische Symbiose, von der zuerst
beide Seiten profitierten. Allerdings war der Nutzen für die Kapitalseite
ungleich höher und auch die NS-Bewegung mußte sich gegen die objektiven
Interessen ihrer Anhänger stellen, wie spätestens die Liqudierung des
Röhm-Flügels zeigte.57
War das Kapital in erster Linie
Nutzer und Förderer des Antisemitismus und der Nazibewegung, so ist diese Frage
bei der Massenvernichtung jüdischer Menschen nicht so eindeutig zu beantworten.
Zwar ist eindeutig der kapitalistische Nutzen des KZ-Lagersystems zu beweisen,
doch hierbei scheint es sich eher um eine Teilrationalität im Rahmen genereller
Irrationalität zu handeln. Auch die Erklärung des Massenmordes durch den
Raumsicherungsansatz, wie sie Opitz vertritt, weist in sich rationale Züge auf,
die allerdings nicht befriedigen können, wie schon vorher beschrieben. Gerade
zur Frage des Zusammenhangs zwischen Imperialismus und Holocaust ergibt sich
noch ein weites Forschungsfeld. In den letzten Jahren ist in der bürgerlichen
wie auch der marxistischen Forschung eine Debatte entbrannt, die sich besonders
um die Rolle des "Generalplans Ost" und der
"Vierjahresplanbehörde" dreht. Auslöser dieser Debatte sind die
Untersuchungen der Historiker Götz Aly und Susanne Heim im Rahmen der
"Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits-und Sozialpolitik".58 Aly und
Heim versuchen, eine "Ökonomie der Endlösung" herauszuarbeiten und
sehen im "Generalplan Ost" ein großangelegtes Programm der Sozial-
und Bevölkerungspolitik. Ziel der Judenvernichtung in Polen sei so unter
anderem die Beseitigung einer ganzen Kaste von Kleinstproduzenten und
Kleinhändlern gewesen, um eine Modernisierung des polnischen Kapitalismus zu betreiben.
Die Bevölkerungszahl und -Zusammensetzung schien den nationalsozialistischen
Planern dabei als die am einfachsten zu beeinflussende Variable im Rahmen
ernährungs-wirtschafts-und siedlungspolitischer Planung für ein okkupiertes
Europa. Der materialistische Forschungsansatz von Heim und Aly ist auch in die
marxistische Faschismus- und Holocaust Diskussion eingeflossen, wovon besonders
einige Beiträge der Konferenz "Deutsche Faschismusforschung heute" in
Berlin 1992 zeugen.59
Gerade durch die politische
Entwicklung in Deutschland seit 1990 ist es nun leichter möglich geworden, daß
marxistische Wissenschaftler der ehemaligen DDR und fortschrittliche
Wissenschaftler der Bundesrepublik in den wissenschaftlichen Diskurs über
Faschismus und Holocaust treten können. Wenn auch die "Abwicklung"
eines großen Teils der Forschungseinrichtungen der ehemaligen DDR, insbesondere
auch der Lehrstühle für Geschichte, die Forschung extrem erschwert, so bieten
sich jedoch gerade auch für marxistische Wissenschaftler neue Perspektiven
jenseits von stalinistischer Parteidisziplin. So kann die Diskussion über eine
historisch-materialistische Deutung des Holocaust neu beginnen und Impulse
aufnehmen, die bisher aus politischen Gründen tabu waren.
Gerade im Zeichen erneuter
neofaschistischer Umtriebe ist es wichtig zu zeigen, welche Kräfte zum
Holocaust führten. Egal, ob es sich bei dem
millionenfachen Mord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma, an Behinderten,
an russischen Kriegsgefangenen und Angehörigen anderer europäischer Völker
vollkommen um kapitalistische Rationalität handelt, oder eine Verselbständigung
der irrationalen Naziideologie stattgefunden
hat, die tatsächliche Macht zur Ausübung dieser Verbrechen haben die
Faschisten erst dadurch bekommen, daß die deutsche Großbourgeoisie ihnen die
Staatsmacht übertrug. Es wird daher weiterhin die Aufgabe jeder marxistischen
und fortschrittlichen Geschichtsforschung bleiben, zu zeigen, daß die Kräfte,
die schon einmal in die Katastrophe führten, auch heute weiterwirken und die
Gefahr nicht 1945 zu Ende war. Und weiterhin gilt die Erkenntnis, daß auch eine
irrationale und reaktionäre Idee zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die
Massen ergreift.
8. Anmerkungen:
1. Einen guten Überblick bietet: Kühnl, Reinhard (Hg.): Streit ums Geschichtsbild: Die "Historiker
Debatte". Dokumentation , Darstellung und Kritik. Köln 1987.
2. Pätzold, Kurt: Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen
der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus,209,in: Eichholtz, D./
Gossweiler,K. / Ruge, W. u.a.: Faschismus in Deutschland. Faschismus der Gegenwart.
Köln 19832 ,
209-246.
3. Pätzold, Vertreibung, 209.
4.Pätzold, Kurt, 1930, Historiker, Humboldt-Universität zu Berlin, Forschungsschwerpunkt
Antisemitismus und Faschismus.
5.Kurt Pätzold: Wo der Weg nach Auschwitz begann. Der deutsche Antisemitismus und der
Massenmord an den europäischen Juden, 161, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
Köln 2/1987, 160-172.
6. Einen Überblick über die verschiedenen marxistischen und bürgerlichen Faschismustheorien bieten:
De Felice, Renzo: Die Deutungen des Faschismus, Göttingen /Zürich 1980.
Kühnl, Reinhard: Faschismustheorien. Ein Leitfaden, Heilbronn 1990.
7. Dimitroff, Georgi: Arbeiterklasse gegen Faschismus. Die Offensive des Faschismus und die
Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen
Faschismus. München 19916.
8. Dimitroff, Faschismus, 6-7.
9. Mandel, Ernest: Trotzkis Faschismustheorie, ohne Ortsangabe 1969.
Thalheimer, August: Über den Faschismus. in: Abendroth, Wolfgang (Hg.): Faschismus und
Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus.
Frankfurt/ M. 1972, 19-38.
10. Dimitroff, Faschismus, 7-9.
11. Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.
Berlin 1988, 55.
12. Pätzold, Weg, 161.
13. Radt, Claus: Der deutsche Faschismus. Mythos und Wirklichkeit. Frankfurt/ M. 1987, 170.
14. Radt, Faschismus, 170.
15. Trotzki, Leo: Porträt des Nationalsozialismus. 207, in: Deutscher, Isaac / Novack, George / Dahmer,
Helmut (Hg.): Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution.
Frankfurt/ Main 1981.
16. Radt, Faschismus, 173.
17. Radt, Faschismus, 173.
18. Opitz, Reinhard, 1934 - 1986, Dr.Phil., Publizist, Forschungsschwerpunkt deutscher Imperialismus
und Faschismus.
19. Opitz, Reinhard: Faschismus und Neofaschismus, Frankfurt/ M. 1984, 199.
20. Pätzold, Vertreibung, 210-211.
21. Opitz, Faschismus, 204-205.
22. Pätzold, Vertreibung, 220-221.
23. Trotzki, Porträt, 209.
24. Pätzold, Kurt: Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und
Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933 - 1935), Berlin 1975, 60-61.
25. Pätzold, Rassenwahn, 78-79.
26. Opitz, Faschismus, 208-211.
27, Pätzold, Weg, 166.
28. Opitz, Faschismus, 208.
29. Pätzold, Vertreibung, 220.
30. Pätzold, Vertreibung, 221.
31. Opitz, Faschismus, 214.
32. Kühnl, Reinhard, 1936, seit 1971 Professor für wissenschaftliche Politik an der Universität
Marburg, Forschungsschwerpunkt Faschismus.
33. Kühnl, Faschismustheorien, 230.
34. Opitz, Faschismus, 192-195.
35. Opitz, Faschismus, 196.
36. Opitz, Faschismus, 196.
37. Opitz, Faschismus, 213-214.
38. Opitz, Faschismus, 225.
39. Opitz, Faschismus, 234.
40. Opitz, Faschismus, 231-237.
41. Opitz, Faschismus, 236.
42. Kaiser, Peter M., 1944, Dr. der Biochemie.
Kaiser, Peter M.: Monopolprofit und Massenmord im Faschismus. Zur ökonomischen Funktion der
Konzentrations- und Vernichtungslager im faschistischen Deutschland. In: Blätter für deutsche und
internationale Politik, Köln 5/1975, 552-576.
43. Kaiser,
Monopolprofit, 559-572.
44. Kaiser,
Monopolprofit, 558.
45. Kaiser,
Monopolprofit, 570-572.
46. Kaiser,
Monopolprofit, 575.
47. Kaiser, Monopolprofit, 575.
48. Mandel, Ernest, 1923, Professor für Ökonomie an der Universität Brüssel, Forschungsschwerpunkt
politische Ökonomie, Faschismus, Arbeiterbewegung.
Mandel, Ernest: Marxistische Wirtschaftstheorie 2.Band, Frankfurt/ M. 19794, 680-681.
49. Mandel, Wirtschaftstheorie, 681-682.
50. Dimitroff, Faschismus, 6-7.
51. Kühnl, Reinhard: Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus. Faschismus. Hamburg 1971, 149.
52. Kühnl, Herrschaft, 150.
53. siehe: Kühnl, Faschismustheorien; Thalheimer, Über den Faschismus.
54. Kühnl, Faschismustheorien, 231.
55. siehe: Mandel, Trotzkis Faschismustheorie.
56. Mandel, Ernest: Der Zweite Weltkrieg. Frankfurt/ M. 1991, 224-225.
57. Zu den vielfältigen Zusammenhängen zwischen Großkapital und faschistischer Bewegung siehe z.B.
Opitz, Faschismus.
58. Heim, Susanne / Aly, Götz: Die Ökonomie der "Endlösung". Menschenvernichtung und
wirtschaftliche Neuordnung. in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits-und Sozialpolitik,
Berlin 5/1987.
59. Die Redebeiträge und Referate dieser Konferenz von ost-und westdeutschen Historikern in Berlin
zum Thema Faschismus und Rassismus sind publiziert in: Röhr, Werner (Hg.): Faschismus und
Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer. Berlin 1992.
Beachte insbesondere die Beiträge der marxistischen DDR-Historiker Werner Röhr, Zusammenhang
von nazistischer Okkupationspolitik in Polen und dem Völkermord an den polnischen Juden
(300-316), sowie Dietrich Eichholtz, Der "Generalplan Ost" und seine Opfer (291-299).
9.
Bibliographie:
- De Felice, Renzo: Die
Deutungen des Faschismus. Göttingen / Zürich 1980.
- Dimitroff, Georgi:
Arbeiterklasse gegen Faschismus. Die Offensive des Faschismus und
die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die
Einheit der
Arbeiterklasse gegen Faschismus. München 6.Auflage 1991.
- Heim, Susanne / Aly, Götz:
Die Ökonomie der "Endlösung". Menschenvernichtung und
wirtschaftliche Neuordnung. in: Beiträge zur
nationalsozialistischen Gesundheits-
und Sozialpolitik, Berlin 5/1987.
- Kaiser, Peter M.:
Monopolprofit und Massenmord im Faschismus. Zur ökonomischen
Funktion der Konzentrations- und Vernichtungslager im
faschistischen Deutschland.
In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Köln 5/1975,
552-576.
- Kühnl, Reinhard:
Faschismustheorien. Ein Leitfaden. Heilbronn 1990.
- Kühnl, Reinhard: Formen
bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus. Faschismus.
Hamburg 1971.
- Kühnl, Reinhard (Hg.):
Streit ums Geschichtsbild: Die "Historiker Debatte".
Dokumentation, Darstellung und Kritik. Köln 1987.
- Lenin, Wladimir Iljitsch:
Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.
Berlin 23.Auflage 1988.
- Mandel, Ernest:
Marxistische Wirtschaftstheorie 2.Band. Frankfurt/ M.
4.Auflage 1979.
- Mandel, Ernest: Trotzkis
Faschismustheorie. ohne Ortsangabe 1969.
- Mandel, Ernest: Der Zweite
Weltkrieg. Frankfurt/ M. 1991.
- Opitz, Reinhard: Faschismus
und Neofaschismus. Frankfurt/ M. 1984.
- Pätzold, Kurt: Faschismus,
Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen
Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus
(1933-1935).
Berlin 1975.
- Pätzold, Kurt: Wo der Weg
nach Ausschwitz begann. Der deutsche Antisemitismus und
der Massenmord an den europäischen Juden. in: Blätter für
deutsche und internationale
Politik, Köln 2/1987, 160-172.
- Pätzold, Kurt: Von der
Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und
Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen
deutschen Imperialismus.
in: Eichholtz, Dietrich / Gossweiler, Kurt / Ruge, Wolfgang
u.a.: Faschismus in
Deutschland. Faschismus der Gegenwart. Köln 2.Auflage 1983.
- Radt, Claus: Der deutsche
Faschismus. Mythos und Wirklichkeit. Frankfurt/ M. 1987.
- Röhr, Werner (Hg.):
Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie
und Opfer. Berlin 1992.
- Trotzki, Leo: Denkzettel.
Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten
Revolution. Herausgegeben von Isaac Deutscher, George Novack und
Helmut Dahmer.
Frankfurt/ M. 1981.