Junge Welt 17.09.2011
/ Geschichte / Seite 15
»Zersetzende Elemente«
Vor 140 Jahren erteilte die Londoner Konferenz der
Internationalen Arbeiterassoziation der anarchistischen Geheimbündlerei
eine Absage
Von Nick
Brauns
Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune von 1871 sah sich die
Arbeiterbewegung vor einer doppelten Herausforderung. Einerseits rächten sich
die Herrschenden für den Schrecken, den ihnen die 70 Tage dieser ersten
Arbeitermacht eingejagt hatten, mit einer wilden Verfolgung der Anhänger der
Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) durch Polizei und Justiz in fast
allen Ländern Europas. Andererseits verschärften sich die Richtungskämpfe
innerhalb der I. Internationale. Die Anhänger des wissenschaftlichen
Sozialismus um Karl Marx und Friedrich Engels im Generalrat der Internationale
standen gegen reformistische Tendenzen in England und den USA einerseits und
die in Geheimbünden organisierten Anarchisten und Putschisten um den russischen
Revolutionär Michail Bakunin andererseits. Die Arbeiterklasse müsse sich
abgesehen von unmittelbar revolutionären Kämpfen wie Generalstreiks und
Aufständen jeder politischen Tätigkeit enthalten, lautete das anarchistische
Dogma. Demgegenüber befürworteten Marx und seine Anhänger einen allseitigen
politischen Kampf von Arbeiterparteien einschließlich der propagandistischen
Ausnutzung bürgerlicher Parlamente. Wo die Anarchisten nach Zerschlagung des
bürgerlichen Staates sofort eine freie Gemeinschaft der Produzenten errichten
wollten, sahen die Vertreter des wissenschaftlichen Sozialismus die
Notwendigkeit einer durch eine Armee der Arbeiterklasse abgesicherten »Diktatur
des Proletariats« nach dem Vorbild der Kommune als Voraussetzung zur
Überwindung jeglicher Klassenherrschaft. Die Internationale habe dabei die
Aufgabe, die Kräfte der Arbeiter für den kommenden Kampf zu organisieren und zu
vereinen.
Innere Festigung
Während Marx auf die Ausarbeitung einer einheitlichen Strategie im Rahmen einer
demokratisch-zentralistischen Organisation drängte, traten die Anarchisten für
eine Föderation autonomer Gruppen ein, die nach eigenem Gutdünken ihre
Kampfmittel auswählen sollten. Der Anarchismus fand insbesondere unter den
durch die kapitalistische Entwicklung an die Wand gedrängten Kleinhandwerkern
in den romanischen Sektionen der Internationale wie Spanien, Italien und Teilen
der Schweiz Zuspruch. Diese kleinbürgerlichen Schichten standen dem
proletarischen Klassenkampf, wie er sich in den stärker industrialisieren
Ländern entwickelte, noch mit Unverständnis gegenüber.
Grundlegend falsch ist die von einigen bürgerlichen Historikern vertretene
Auffassung, die Auseinandersetzungen innerhalb der Internationale gingen auf
einen persönlichen Konflikt zwischen Marx und Bakunin zurück oder spiegelten
gar einen Widerspruch zwischen deutscher und russischer Sozialismuskonzeption
wieder. Die IAA stand vielmehr vor der Entscheidung, zu einem losen Bündnis von
Sekten zu verkümmern oder aber den Sprung zu einer Internationale aus
Arbeitermassenparteien nach dem Vorbild der deutschen Sozialdemokratie
vorzubereiten. Der Historiker Franz Mehring benannte die zentralen Aufgaben mit
»Rüstung der Internationale gegen den tobenden Ansturm der äußeren Feinde und
ihre innere Festigung gegen zersetzende Elemente im eigenen Schoße«.
Aufgrund der Repression war es unmöglich, einen ordentlichen Kongreß der Internationale einzuberufen. Daher plädierten Marx
und Engels für die Abhaltung einer geschlossenen Konferenz aus Vertretern der
nationalen Sektionen und des Generalrates. Am 17. September 1871 wurde im
Londoner Artisans-Club die bis zum 23. September
dauernde Konferenz eröffnet. Anwesend waren neben dem 13köpfigen Generalrat 23
Sektionsdelegierte, darunter sechs Belgier, zwei Schweizer und ein Spanier. Die
Sektionen Deutschlands, Italiens, der USA, Irlands und Frankreichs ließen sich
von ihren korrespondierenden Sekretären des Generalrates Marx, Engels, Johann
Georg Eccarius, J. Patrick McDonnel
und Eugène Dupont vertreten. Die von Bakunin dominierte Romanische Sektion der
Schweiz war gar nicht erst eingeladen worden. Um die Solidarität der
Internationale mit der Kommune zu verdeutlichen, waren eine Reihe geflohener
Kommunarden in den Generalrat kooptiert worden.
Zentrale Frage war die Festlegung der theoretischen, taktischen und
organisatorischen Prinzipien zum Aufbau der Internationale. Der ehemalige
Kommunarde Éduard Vaillant forderte dazu auf, durch einen speziellen Beschluß alle Mitglieder der Internationale auf den
politischen als auch den sozialen Kampf gleichermaßen zu verpflichten. Eine
solche Resolution, die sich direkt gegen die Anarchisten, aber auch gegen die
liberalen Trade-Unionisten (»Nur-Gewerkschafter«) richtete, sollte helfen – so
der Schweizer Nikolai Utin –, »die Prediger der
Enthaltung von der Politik aus der Assoziation rauszuschmeißen, diese
eigentlichen Gehilfen der Bourgeoisie, ob sie es bewußt
oder unbewußt taten«. In einer von Marx und Engels
ausgearbeiteten Resolution heißt es, daß angesichts
der »Gesamtgewalt der besitzenden Klassen« die »Konstituierung der
Arbeiterklasse als politische Partei unerläßlich ist
für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels.
»Kriegserklärung«
Die
Konferenz beschloß ein Verbot von Geheimbündelei, da
eine solche die Internationale zu von den Massen separierten Verschwörergrüppchen verkommen lassen würde. Ausdrücklich
davon unterschieden wurde die geheime Organisierung in Ländern, in denen die
Internationale im Untergrund agieren mußte.
Untergliederungen wurde es untersagt, unter »Sektennamen« wie »Positivisten, Mutualisten,
Kollektivisten, Kommunisten« aufzutreten, die eine von den Zwecken der
Internationale verschiedene Mission beanspruchten. Scharf grenzte sich die
Konferenz von Sergej G. Netschajew ab. Der russische
Nihilist, der zeitweilig großen Einfluß auf Bakunin
ausgeübt hatte, schreckte nicht vor Erpressung und Mord zurück, was die
bürgerliche Presse als Werk der Internationale hinzustellen suchte.
Die Anarchisten begriffen die Londoner Konferenz als Kriegserklärung eines
»deutschen Komitees, geleitet von einem Bismarckschen Gehirn«, wie sie den
Generalrat unter Marx titulierten. Die Konferenz ziele darauf, »aus einer
freien Föderation autonomer Sektionen eine hierarchische und autoritäre
Organisation« in der Hand des Generalrats zu machen, klagten die in der
Juraföderation organisierten Anhänger Bakunins.
Zum endgültigen organisatorischen Bruch kam es auf dem Haager Kongreß der Internationale im September 1872, der die
Forderung nach der »Konstituierung der Arbeiterklasse als Partei« in die
Statuen aufnahm und die Verlegung des Generalrats von London nach New York
sowie den Ausschluß Bakunins beschloß.
Quelle: Friedrich Engels: Gegen die politische
Enthaltung
Die Praxis des wirklichen Lebens,
die politische Bedrückung, der die bestehenden Regierungen die Arbeiter
aussetzen – sei es zu politischen, sei es zu sozialen Zwecken –, zwingt die
Arbeiter in die Politik, ob sie wollen oder nicht. Ihnen Abstention
[Enthaltung] von der Politik zu predigen, hieße, sie der Bourgeoispolitik
in die Arme treiben. Namentlich nach der Kommune von Paris, die die politische
Aktion des Proletariats auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist politische Abstention ganz und gar unmöglich.
Wir wollen die Abschaffung der Klassen. Was ist das Mittel, um dahin zu
gelangen? Die politische Herrschaft des Proletariats. Und jetzt, wo sich alle
darüber einig sind, verlangt man von uns, wir sollen uns nicht in Politik
mischen! Alle Abstentionisten nennen sich
Revolutionäre, und sogar Revolutionäre par excellence. Die Revolution aber ist
der höchste Akt der Politik, und wer sie will, muß
auch das Mittel wollen – die politische Aktion, welche die Revolution
vorbereitet, welche die Arbeiter für die Revolution erzieht und ohne die die
Arbeiter am nächsten Tage nach dem Kampf stets von den Favres und Pyats geprellt sein werden. (…)
Die politischen Freiheiten, das Versammlungs- und Assoziationsrecht, die Preßfreiheit, das sind unsre Waffen; und wir sollten die
Arme verschränken und Abstention üben, wenn man sie
uns nehmen will? Man sagt, jede politische Aktion bedeute, das Bestehende
anerkennen. Aber wenn dieses Bestehende uns die Mittel gibt, um gegen das
Bestehende zu protestieren, so ist die Anwendung dieser Mittel keine
Anerkennung des Bestehenden.
Aus Friedrich Engels’ Rede am 21. September 1871, MEW
17, 416 f.