Vor 85 Jahren leitete ein
Dekret die Kulturrevolution in Russland ein
Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes, lautete Lenins bekannte Formel für den sozialistischen Aufbau: „Man muss jedoch wissen und darf nicht vergessen, dass die Elektrifizierung nicht mit Analphabeten durchzuführen ist“, ergänzte er an anderer Stelle. „Wir brauchen Menschen, die nicht nur des Lesens und Schreibens kundig sind, sondern kulturell hochstehende, politisch bewusste, gebildete Werktätige.“ Im Landesdurchschnitt waren 1920 rund 56 Prozent der Sowjetbürger Analphabeten. Auf den Dörfern konnte nur ein Viertel der Frauen lesen und schreiben.
Bereits am Tag nach der Oktoberrevolution 1917 hatte Lenin dem Altbolschewiken Anatolij Lunatscharski das Volkskommissariat für „Aufklärung“ mit den Worten anvertraut, seine Hauptaufgabe liege in der Bekämpfung des Analphabetentums. Es sei kaum möglich, bemerkte Lenin, „von politischer Aufklärung zu sprechen, solange es bei uns zulande eine solche Erscheinung wie das Analphabetentum gibt. Seine Liquidierung ist keine politische Aufgabe, das ist die Vorbedingung, um überhaupt über Politik sprechen zu können. Der Analphabet steht außerhalb der Politik, man muss ihm zuerst das Abc beibringen. Ohne das kann es keine Politik geben, ohne das gibt es nur Gerüchte, Tratsch, Märchen, Vororteile, aber keine Politik.“ Die Abteilung für Alphabetisierung wurde Lenins Frau Nadeshda Krupskaja als gelernter Lehrerin unterstellt.
Am 26. Dezember 1919 unterzeichnete Lenin ein Dekret des Rates der Volkskommissare „über die Liquidierung des Analphabetentums“. Darin wurde die analphabetische Bevölkerung in Alter von acht bis 50 Jahren verpflichtet, in staatlichen Schulen Lesen und Schreiben zu lernen – auf Wunsch in der Muttersprache oder auf Russisch. Arbeitern wurde hierfür die tägliche Arbeitszeit um zwei Stunden bei vollem Lohnausgleich gekürzt. Lese- und Schreibkundige Menschen konnten als Lehrer zwangsverpflichtet werden.
Zur organisatorischen Umsetzung des Dekrets wurde am 19. Juli 1920 unter dem Vorsitz des Historikers und stellvertretenden Volkskommissars Mikhail Pokrovskij eine „Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung des Analphabetismus“ geschaffen. In seiner Abneigung gegen „revolutionäre Phrasen“ lachte Lenin über diese hochtrabende Bezeichnung. „Aber allein schon der Umstand, dass eine außerordentliche Kommission zur Liquidierung des Analphabetentums gebildet werden musste, beweist, dass wir (wie soll ich mich milder ausdrücken?) so etwas wie Halbwilde sind. Denn in einem Lande, wo die Menschen keine Halbwilden sind, würde man sich schämen, eine außerordentliche Kommission zur Liquidierung des Analphabetentums zu gründen; dort liquidiert man das Analphabetentum in den Schulen.“
Die Kommission schuf ein Netz von
Liquidationspunkten des Analphabetismus. Bereits im Winter 1920/21 gab es nach
offiziellen Angaben 40.947 solcher Likpunkty mit 1,16 Millionen Schülern. Doch
während der Neuen Ökonomischen Politik, die in der Sowjetunion wieder
marktwirtschaftliche Elemente zuließ, brach die Zahl der Likpunkty aufgrund
fehlender Finanzen drastisch ein. Nur noch 3649 Likpunkty mit 104.361 Schülern
wurden im Frühjahr 1923 gezählt. Die Bekämpfung des Analphabetismus wurde ab
1923 dem freiwilligen Zusammenschluss „Fort mit dem Analphabetismus“ (ODN)
übertragen, der sich primär aus Spenden finanzierte. Der Präsident des Allrussischen Zentralen
Exekutivkomitees Michail Iwanowitsch Kalinin übernahm den Vorsitz des ODN. Ende
1924 unterrichteten 24.000 ODN-Zellen 1,6 Millionen Menschen. Die Bilanz nach
einer Volkszählung vom Dezember 1926 fiel freilich ernüchternd aus. Zwar war
die Analphabetenquote in der Gesamtbevölkerung seit 1920 um 7,7 % gesunken.
Doch zeigte sich, dass der Anteil von Analphabeten unter den 9 bis 12 jährigen
Kindern unionsweit 45,2% betrug. Nur geringfügig überstieg der Anteil der neu
Alphabetisierten diejenige der nachwachsenden Analphabeten. Nach diesen Zahlen
hatte das zaristische Bildungswesen vor der Revolution größere Erfolge gehabt,
als die jungen Sowjetunion. Der XV. Parteitag der KPdSU beschloss daher im
Dezember 1927 eine Verstärkung des Kampfes gegen das Analphabetentum.
Eine Wende in der Bildungspolitik stellte das Jahr 1928 da. Die
Sowjetunion ging nun planmäßig dazu über, das Kulturniveau des Landes mit
administrativ gesteuerten Massenkampagnen zu heben. Im Herbst 1928 startete der
kommunistische Jugendverband Komsomol einen „Kulturfeldzug“ zur Überwindung des
Analphabetentums und zur Einführung der Elementarschulpflicht. Personell zeigte
sich 1929 der neue Kurs durch die Ersetzung des schöngeistigen Intellektuellen
Lunatscharski durch Andrey Bubnov als Volkskommissar für das Bildungswesen.
Dieser vormalige Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee
übertrug den militärischen Stil auf die Kulturarbeit. „Kampfbefehle“ gingen an
die Abschnitte der „Kulturfront“. „Abteilungen der Kulturarmee“ aus Betrieben,
Kolchosen, Universitäten und Behörden führten „Stoßeinsätze“ in den Dörfern
durch.
Die Auflösung der Gesellschaft „Fort mit dem Analphabetentum“ sollte
1936 deutlich machen dass von nun an normale Schulen die Bildungsaufgaben
übernehmen konnten. Nadeshda Krupskaja bezweifelte allerdings die amtlichen
Erfolgsmeldungen an der „Unterrichtsfront“ und bemerkte, dass viele der
Unterwiesenen gerade einmal ihren Namen schreiben könnten.
In einer Volkszählung vom Januar 1939 gaben über 80 Prozent der
sowjetischen Bevölkerung an, lesen und schreiben zu können. Selbst unter den
Frauen auf dem Land war die Analphabetenrate auf 23,2 zurückgegangen. Obwohl
sich der Analphabetismus gerade in den mittelasiatischen Sowjetrepubliken noch
hartnäckig hielt, konnten auch hier mindestens 60 Prozent aller Frauen
inzwischen lesen und schreiben.
Dank ihrer Planwirtschaft auch auf dem kulturellen Gebiet hatte die
Sowjetunion innerhalb von zwanzig Jahren den Alphabetisierungsgrad der mittel-
und westeuropäischen Ländern vom Ende des 19. Jahrhunderts erreicht. Dieses
Kulturniveau war eine notwendige Voraussetzung für den Aufstieg des einstmals
rückständigen Agrarlandes zur zweitstärksten Industrienation der Erde.
Nick Brauns
(leicht gekürzt in junge Welt 24.Dezember 2004)
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Über die Liquidierung des Analphabetentums unter der Bevölkerung der
RSFSR
Dekret des Rates der Volkskommissare vom 26. Dezember 1919
Um der gesamten Bevölkerung der Republik die Möglichkeit einer bewussten
Teilnahme am politischen Leben des Landes einzuräumen, verordnete der Rat der
Volkskommissare:
Anmerkung: Die Gültigkeit dieses Punktes wird
auch auf die Rotarmisten ausgedehnt, wobei die entsprechende Arbeit in den
militärischen Einheiten unter unmittelbarer Beteiligung der Politabteilungen
der Roten Armee und der Flotte durchgeführt wird.
(Diektivy i postanovlenija, II. S.118 f.; zit. nach: Oskar Anweiler: Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917, Heidelberg 1961, S.98 f.)
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„Ich habe die Fragen beantwortet, was wir lernen müssen, was wir von der alten Schule und der alten Wissenschaft zu übernehmen haben. Ich will nun auch die Frage zu beantworten versuchen, wie wir das lernen müssen: nur indem wir jeden Schritt der Arbeit in der Schule, jeden Schritt auf dem Gebiet der Erziehung, Bildung und Schulung unlöslich mit dem Kampf aller Werktätigen gegen die Ausbeuter verknüpfen. An einigen Beispielen aus der Erfahrung der Arbeit der einen oder anderen Organisation der Jugend werde ich euch anschaulich zeigen, wie diese Erziehung zum Kommunismus vor sich gehen muss. Alle Welt spricht von der Liquidierung des Analphabetentums. Ihr wisst, dass man in einem Lande von Analphabeten die kommunistische Gesellschaft nicht aufbauen kann. Es genügt nicht, dass die Sowjetmacht eine Verfügung erlässt oder dass die Partei eine bestimmte Losung ausgibt oder dass ein bestimmter Teil der besten Funktionäre für diese Sache mobilisiert wird. Hierzu ist nötig, dass die junge Generation selbst dieses Werk in Angriff nimmt. Der Kommunismus besteht darin, dass jene Jugend, alle die Burschen und Mädchen, die Mitglieder des Jugendverbandes sind, sich sagen: Das ist unsere Sache, wir werden uns zusammentun und aufs Land gehen, um dort das Analphabetentum zu liquidieren, damit es unter unserer heranwachsenden Generation keine Analphabeten gebe. Wir werden danach trachten, dass sich die Aktivität der heranwachsenden Jugend diesem Werk zuwendet. Ihr wisst, dass man Russland nicht so schnell aus einem unwissenden, analphabetischen Land in ein gebildetes Land verwandeln kann; aber wenn sich der Jugendverband dieser Sache annimmt, wenn die gesamte Jugend zum Nutzen der Allgemeinheit arbeitet, dann wird dieser Verband, der 400 000 Burschen und Mädchen in seinen Reihen zählt, den Namen Kommunistischer Jugendverband zu Recht tragen. Die Aufgabe des Verbandes besteht weiter darin, dass er die verschiedenen von ihm erworbenen Kenntnisse dazu benutzt, denjenigen Jugendlichen zu helfen, die selbst nicht imstande sind, sich aus der Finsternis des Analphabetentums zu befreien. Mitglied des Jugendverbandes sein heißt seine Arbeit, seine Kräfte in den Dienst der gemeinsamen Sache stellen. Eben darin besteht die kommunistische Erziehung. Nur durch eine solche Arbeit werden der junge Mann und das junge Mädchen zu wahren Kommunisten. Nur wenn sie es verstehen, bei dieser Arbeit praktische Erfolge zu erzielen, werden sie zu Kommunisten.“
(aus: Lenin über „Die Aufgabe der Jugendverbände“ im Oktober 1920, LW 31 S.287)