Junge Welt 11.02.2012
/ Geschichte / Seite 15
»Völkerbund von Brüssel«
Vor 85 Jahren wurde die Liga gegen Imperialismus
gegründet
Von Nick
Brauns
Mitte der
1920er Jahre kam es in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu einem
Aufschwung antiimperialistischer Kämpfe. In China weitete sich der von der
Nationalpartei Kuomintang geführte Befreiungskampf zur
Revolution aus, und in Indonesien brach ein Aufstand gegen die niederländischen
Kolonialherren aus. Während in Marokko der Widerstand der Rifkabylen von einer
Übermacht französischer Truppen geschlagen wurde, flammte in Syrien eine
Revolte gegen den französischen Kolonialismus auf. In Nicaragua führte César
Augusto Sandino einen Guerillakrieg gegen die US-gestützte Regierung, und in
Brasilien gipfelte eine Militärrevolte gegen das Regime der Großgrundbesitzer
im legendären »Marsch der Kolonne Prestes«.
In dieser Situation ergriff der deutschen Kommunist Willi Münzenberg, dessen
»Internationale Arbeiterhilfe« (IAH) seit Jahren praktische Solidarität für
Freiheitskämpfer in den unterdrückten Ländern leistete, die Initiative zu einer
internationalen Konferenz der Kolonialgegner. Am Abend des 10. Februar 1927
begann die bis zum 15. Februar dauernde Konferenz im großen Saal des Palais
Egmont in Brüssel. Das Protokoll verzeichnet 174 Delegierte, die 134
Organisationen aus 37 Ländern vertraten. 104 Abgesandte kamen aus den Kolonien
und anderen vom Imperialismus unterdrückten Ländern. Chinesen bildeten die
stärkste Delegation, gefolgt von Indern. Vertreter von Befreiungsbewegungen,
Hinduprinzen und Generäle der Kuomintang trafen auf Gewerkschafter aus Afrika,
Asien und Lateinamerika sowie kommunistische, sozialdemokratische und liberale
Politiker und Schriftsteller aus Europa und den USA. Der Führer der
mohammedanischen Freiheitsbewegung »Nordafrikanischer Stern«, Ahmed Ben Messali Hadj, war ebenso anwesend wie Mohammed Hatta von der indonesischen Nationalbewegung »Sarikat Islam«. Der Indische Nationalkongreß
war durch seinen Generalsekretär Jawaharlal Nehru
vertreten, während Mahatma Gandhi in einer schriftlichen Botschaft bedauerte,
nicht persönlich teilnehmen zu können. Auch ein Delegierter der
linkspopulistischen mexikanischen Regierung unter Präsident Plutarco Calles,
die finanziell erheblich zur Realisierung des Kongresses beigetragen hatte, war
anwesend.
Nationale Unabhängigkeit
Die Wände
des Palais Egmont waren mit einem Porträt des Kuomintang-Gründers Sun Yatsen, der Fahne der chinesischen Nationalpartei und der
Losung »Liberté nationale! Égalité
sociale!« (»Nationale
Freiheit! Soziale Gleichheit!«) geschmückt. »Es ist wichtig zu erkennen, daß die nationale Unabhängigkeit die erste Etappe auf dem
Wege zur Unabhängigkeit der Menschheit überhaupt ist«, erklärte der
französische Schriftsteller Henri Barbusse in seiner Eröffnungsrede. Während
die kommunistischen Delegierten sich im Hintergrund hielten, leitete der mit
Münzenberg befreundete Vorsitzende der Internationalen
Transportarbeiterföderation (ITF) Edo Fimmen den Kongreß. Dieser wies Vorwürfe »einer kommunistischen Mache«
des Kongresses zurück, erklärte aber zugleich, dieser wäre nicht möglich
gewesen »ohne die russische Revolution, die die unterdrückten Völker erweckt
hat«. Entschieden wandten sich die Konferenzteilnehmer gegen die auch von
Teilen der Sozialdemokratie vertretenen Thesen von der »zivilisatorischen
Mission« des Kolonialismus und der »Unreife« der unterdrückten Völker.
Der in das Ehrenpräsidium des Kongresses gewählte Physiknobelpreisträger Albert
Einstein wandte sich in einem schriftlichen Grußwort gegen die Vorherrschaft
weniger weißer Völker«. Viele Teilnehmer schwärmten von der herzlichen, offenen
und euphorischen Atmosphäre dieses »Völkerbundes von Brüssel«. Zu den
Höhepunkten zählte die Verbrüderung von chinesischen und indischen
Freiheitskämpfern mit britischen Sozialisten. In seiner Schlußrede
zeigte sich Münzenberg zuversichtlich, daß die
kommenden Jahrzehnte die Befreiung der kolonialen und halbkolonialen Länder
bringen werden.
Das »Flammenzeichen vom Palais Egmont« – wie diese Gründungsversammlung der
»Liga gegen Imperialismus und koloniale Unterdrückung« im veröffentlichten
Protokoll betitelt wurde, war zugleich der Höhepunkt in der auf dem Papier
zehnjährigen Geschichte dieser Organisation. Denn bald zeigte sich, daß die auf der Konferenz beschworene Einheit von
Kommunisten, Sozialdemokraten, liberalen Intellektuellen und
Nationalrevolutionären aus subjektiven und objektiven Gründen keinen
dauerhaften Bestand haben konnte. Der Preis von Brüssel waren die
weitreichenden inhaltlich-politischen Zugeständnisse, die die Kommunisten ihren
bürgerlichen Bündnispartnern bei Ausblendung der unterschiedlichen
Klasseninteressen gemacht hatten. So war kurzfristig eine gemeinsame
propagandistische Plattform zur Verurteilung der Kolonialgreuel
möglich, doch in der praktischen Politik brachen die Differenzen bald auf.
Das Ende der Liga
Am
folgenschwersten war die Niederwerfung der chinesischen Revolution durch den
rechten Flügel der Kuomintang. Nachdem streikende Arbeiter im März 1927 die
Macht in Schanghai übernommen hatten, wandte sich Kuomintang-Führer Tschiang Kaischek gegen seine kommunistischen Verbündeten und ließ
ab der Nacht zum 12. April 1927 die »Kommune von Schanghai« blutig zerschlagen.
Auch das Bündnis mit antikolonialistischen Sozialdemokraten bröckelte, nachdem der
Ligavorsitzende George Lansbury bereits im Juni 1927
aufgrund seiner Wahl zum Vorsitzenden der britischen Labour Party von seinem
Amt zurücktrat und die Sozialistische Arbeiterinternationale die
Unvereinbarkeit einer Mitgliedschaft bei ihr und in der Liga beschloß. Doch auch von kommunistischer Seite kam es zu
später als linkssektiererisch verurteilten Fehlern. So verpflichtete die Liga
auf ihrem zweiten Weltkongreß im Juli 1929 in
Frankfurt am Main die Mitgliederorganisationen zum »unbarmherzigen Kampf« gegen
die Sozialdemokratie sowie zur Mobilisierung der »Arbeiter- und Bauernmassen
unter dem Banner des revolutionären Kampfes gegen die Agenten des Imperialismus
unter der einheimischen Bevölkerung«.
Diese Beschlüsse führten zum Austritt oder Ausschluß
führender Ligarepräsentanten wie Nehru, der als »Verräter an der Sache der
Befreiung des indischen Volkes vom imperialistischen Joch« bezeichnet wurde,
und des bisherigen Vizepräsidenten der Liga, Edo Fimmen.
Mit dem Verlust wichtiger Mitgliederorganisationen wie des Indischen
Nationalkongresses sowie der Nationalparteien Ägyptens und Indonesiens ging der
Charakter der Liga als Weltorganisation aller Antikolonialisten verloren. Zu
ihren bleibenden Verdienst gehört, daß sie den
Gesichtskreis vieler Führer nationaler Befreiungsbewegungen erweiterte und
diese die Notwendigkeit des gemeinsamen Vorgehens aller antikolonialen Kräfte
weltweit erkennen ließ. So bezeichnete Nehru, der 1947 zum ersten
Ministerpräsidenten seines nunmehr unabhängigen Landes wurde, den Brüsseler Kongreß als »Meilenstein in der Außenpolitik Indiens, da er
unsere nationale Bewegung mit anderen nationalen Bewegungen und der
Arbeiterbewegung zusammenbrachte«.
Quelle: »Enge Kampfgemeinschaft«
Zwischen der
Arbeiterklasse der imperialistischen Länder und der nationalrevolutionären
Front der unterdrückten Völker besteht eine enge Kampfgemeinschaft, das
Verhältnis eines Bündnisses. Dies folgt vor allem aus der Gemeinsamkeit des
Feindes (…). Die Arbeiterschaft der imperialistischen Länder und der Sowjetuniongebiete,
wo sie bereits die Herrschaft erlangt hat, lieferte bereits wiederholt
Beispiele ihrer Solidarität mit den kämpfenden und unterdrückten Nationen. Sie
fühlt sich mit der Arbeiterschaft und den armen Bauernmassen der unterdrückten
Länder durch die stärksten Bande der Klassensolidarität verbunden. Darüber
hinaus muß sie aber mit allen gegen den Imperialismus
kämpfenden Schichten der unterdrückten Nationen ein ehrliches und aufrichtiges
Kampfbündnis gegen den gemeinsamen Feind eingehen. (…). Die Arbeiter der
imperialistischen Länder und die unterdrückten Völker werden sich freimachen
und loslösen von dem blutbefleckten Imperialismus unter der Kampflosung:
Proletarier aller Länder, unterdrückte und vom Imperialismus bedrohte Nationen
vereinigt euch im brüderlichen Bündnis gegen den gemeinsamen Feind!«
Aus der
Resolution »Der nationale Freiheitskampf und die Arbeiterklasse der
imperialistischen Länder«, in: Das Flammenzeichen vom Palais Egmont.
Offizielles Protokoll des Kongresses gegen koloniale Unterdrückung und
Imperialismus, Berlin 1927, S. 174