Die deutsche Türkeipolitik und die Kurden
Von Dr. Nikolaus Brauns
In
seiner Tragödie „Faust“ lässt der berühmteste deutsche Dichter Johann Wolfgang
von Goethe einen deutschen Bürger wie folgt sprechen:
„Nichts Bessers weiß ich mir
an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“
Vor 200 Jahren war dieser bequeme Standpunkt noch möglich. Doch
heute haben „Krieg und Kriegsgeschrei“ in der Türkei mit Deutschland weit mehr
zu tun, als vielen Menschen hierzulande bewusst ist. In
keinem Land außerhalb des Nahen Ostens leben so viele türkisch und kurdischstämmige
Menschen wie in Deutschland. Insgesamt leben 2,7 Millionen offiziell
türkischstämmige Menschen in Deutschland, doch unter ihnen sind Hunderttausende
kurdischstämmige Bürger, deren Identität auch in Deutschland nicht anerkannt wird.
Schätzungen gehen von weit über einer halben Million bis zu 800.000
kurdischstämmigen Bürgern – viele von ihnen inzwischen mit deutscher
Staatsbürgerschaft - in Deutschland aus.
Da bereits historisch zu nennende politische, militärische und wirtschaftliche
Beziehungen zur Türkei bestehen, ist Deutschland mehr wie alle anderen
europäischen Staaten unmittelbar in die kurdische Frage verwickelt.
Von
der Bagdadbahn zur NATO-Partnerschaft
Bereits 1838 half der
preußische Offizier Helmuth von Moltke dem osmanischen Sultan beim Aufbau einer
schlagkräftigen Armee nach preußischem Muster und spielte als Militärberater
eine wichtige Rolle bei der Niederschlagung kurdischer Aufstände. Ende des 19.
Jahrhunderts war das Deutsche Reich in sein imperialistisches Stadium
eingetreten und das Finanzkapital suchte neue Märkte, Anlagefelder und
Rohstoffreservoirs außerhalb Deutschlands. ”Das wichtigste Operationsfeld des
deutschen Imperialismus wurde die Türkei, sein Schrittmacher hier die Deutsche
Bank und ihre Riesengeschäfte in Asien, die im Mittelpunkt der deutschen
Orientpolitik stehen”[1], analysierte die
Marxistin Rosa Luxemburg. Neben der Rüstungsindustrie wurde der Bahnbau zum
wichtigsten Instrument für das Eindringen deutschen Kapitals in die Türkei. Mit
Kaiser Wilhelms II. Schwur in Damaskus 1898, ein treuer Freund der Muslimischen
Welt zu sein, wurde der Vorstoß des deutschen Imperialismus in den Orient zur
Chefsache. Zum konfliktträchtigen Symbol deutscher Weltpolitik sollte ab 1902
der Bau der Bagdadbahn von Konya über Bagdad zum Persischen Golf werden. Die
von der Deutschen Bank geführte Aktiengesellschaft erlangte zugleich
Schürfrechte im mesopotamischen Ölgebiet um Mossul und Basra. ”Einzig und allein
eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu
sorgen, dass die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und
Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung
unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit einiger Sicherheit in
die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine schwache Türkei
keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird”[2],
schrieb der deutsche Kolonialstratege Paul Rohrbach 1902 in seinem Buch ”Die
Bagdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung.” An dieser Politik hat sich
auch über 100 Jahre später nichts geändert.
Kriegszieldenkschriften
des deutschen Monopolkapitals wiesen der türkischen Armee im Ersten Weltkrieg die
Aufgabe zu, für Deutschland die Kastanien aus dem Feuer zu holen und die
Kaukasusgebiete mit den Ölquellen am Kaspischen Meer zu erobern. Unter deutschem
Oberkommando kämpfte die Osmanische Armee an der Seite des deutschen Reiches.
Deutsche Diplomaten wurden zu Mitwissern und deutsche Militärs gar zu Gehilfen
an dem von ihren jungtürkischen Waffenbrüdern begangenen Völkermord an über
einer Million Armenier in den Kriegsjahren 1915/16. Adolf Hitler nahm sich diesen
Völkermord am 22. August 1939 zum Vorbild, als er vor hohen Militärs und
Kommandeuren der SS die gnadenlose Ausrottung des Gegners im geplanten Krieg
gegen die Sowjetunion forderte. "Wer redet heute noch von der Vernichtung
der Armenier?"[3]
Im Rahmen der NATO
lebte die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft in den 1960er Jahren wieder auf.
Türkische Offiziere wurden an der Bundeswehrakademie in Hamburg und der
Panzerschule in Munster ausgebildet. Nach dem NATO-Beschluss von 1964, der
Türkei unentgeltliche Rüstungshilfe zu leisten, nahm die Bundesrepublik im
gleichen Jahr die Waffenlieferungen auf und wurde zum zweitgrößten
Rüstungslieferanten der Türkei nach den USA. Allein bis 1991 wurden
Rüstungsgüter in Höhe von 6,3 Milliarden Mark geliefert, mehr als die Hälfte
davon nach 1985, als in Kurdistan bereits der bewaffnete Aufstand begonnen
hatte. Die Waffenlieferungen unterliegen bis heute keinerlei
Rüstungsexport-Restriktionen, da es sich um Lieferungen in ein NATO-Land
handelt.
Unter dem Schutz des
in den kurdischen Landesteilen der Türkei durchgeführten NATO-Herbstmanövers
”Anvil Express”, an dem auch 1000 Bundeswehrsoldaten beteiligt waren, putschte
am 12. September 1980 die Armee unter Generalstabschef Kenan Evren. Wenige Tage
später schloss die Bundesregierung mit der Türkei einen Vertrag über die
Aufrüstung der türkischen Polizei ab. Seit 1986 bildete die deutsche
Spezialeinheit GSG 9 türkische Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung aus, die
zahlreiche Gräueltaten in den kurdischen Landesteilen begangen haben. Während
Hunderttausende Oppositionelle – Sozialisten, Gewerkschafter und kurdische
Aktivisten - in den Kerkern der Militärjunta verschwanden und viele von ihnen
ermordet wurden, setzte die Bundesregierung ihre gute Beziehung zur Türkei
fort. Die konservative Tageszeitung ”Die Welt” hatte 1981 die Kontinuitätslinien
erkannt: ”Damit setzt die Bundesrepublik Deutschland eine in die Zeit des
deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches
zurückreichende außenwirtschaftliche Tradition fort, die ihren Ausdruck in
einem spezifischen, engen deutsch-türkischen Bezugsverhältnis gefunden hat, wie
es so mit keinem anderen Staat besteht.”[4]
Zu Beginn der 1990er
Jahre entsorgte die Bundesregierung einen Großteil des Waffenbestandes der
ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR an die Türkei. So kaufte sich die
Bundesregierung mit ”Scheckbuchdiplomatie” bei der Aufrüstung des NATO-Partners
von einer direkten Beteiligung am US-geführten Krieg gegen den Irak 1991 frei.
Aus NVA-Beständen wurden unter anderem 300 Achtrad-Schützenpanzer vom Typ
BRT-60 geliefert – die idealen Waffensysteme für die gebirgigen kurdischen
Landesteile. Eine Viertelmillion Kalaschnikow-Gewehre aus NVA-Beständen fand
insbesondere Verwendung bei der Ausrüstung von Zehntausenden paramilitärischen
kurdischen Dorfschützern, die gegen die PKK aufgestellt wurden. 1992
berichteten Augenzeugen vom Einsatz solcher Panzer aus deutscher Lieferung beim
Beschuss der Stadt Şırnak und im folgenden Jahr zeigte der
Fernsehsender ZDF Bilder eines gefangenen Guerillakämpfers, der nahe der Stadt
Cizre mit einem BRT-60-Schützenpanzer zu Tode geschleift wurde. Da laut
NATO-Vertrag die gelieferten Rüstungsgüter nur zur Landesverteidigung
eingesetzt werden dürfen, setzte die unter Druck geratene Bundesregierung
kurzfristig ihre Waffenlieferungen an die Türkei aus, bestreitet aber bis
heute, dass es ausreichende Beweise für den Einsatz von Waffen aus deutscher
Lieferung im Krieg gegen die Kurden gäbe. Es könne sich auch um Schützenpanzer
aus russischer Lieferung handeln, behauptete Bundesaußenminister Klaus Kinkel 1995,
obwohl Russland nur wenige Dutzend dieser Panzer geliefert hatte.
Nach dem Zerfall der
Sowjetunion endete 1995 die unentgeltliche NATO-Militärhilfe für die Türkei,
doch die Waffenlieferungen gingen als private Geschäfte der Rüstungsindustrie
abgesichert durch Exportrisikogarantien der Bundesregierung weiter. Ankaras
Wunsch nach Lieferung von Leopard 2 Kampfpanzern führte 1999 noch zu einer
schweren Zerreißprobe der Bundesregierung. Damals setzten sich die Grünen gegenüber
den Sozialdemokraten durch und der Panzerdeal kam nicht zustande. Doch kurz
nach der Bundestagswahl 2005 unterzeichnete die bereits abgewählte rot-grüne
Bundesregierung in einer ihrer letzten Amtshandlungen einen Vertrag über den
Verkauf von 298 Leopard 2 an die Türkei. In seinem im Juni 2009
veröffentlichten Jahrbuch dokumentierte das
Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, dass die Türkei neben
Griechenland und Südafrika weiterhin wichtigster Abnehmer deutscher Waffen ist.
Als im Februar 2008 die türkische Armee mit Tausenden Soldaten die Grenze nach
Südkurdistan (Nordirak) überschritt, zeigten Fernsehaufnahmen, dass bei dem
völkerrechtswidrigen Angriff zahlreiche Rüstungsgüter aus deutscher Lieferung,
darunter Panzer und Unimog-Mannschaftstransporter der Firma Mercedes-Benz,
eingesetzt wurden. Während im März 2010 erneut zehntausende türkische Soldaten an
der Grenze zu Südkurdistan aufmarschierten, unterzeichnete Bundeskanzlerin
Angela Merkel in Ankara den Liefervertrag für weitere 56 Leopard-II-Panzer.
Wirtschaftsinteressen
vor Menschenrechten
Nach dem Ende des
kalten Krieges hatte die Türkei für die deutsche Außenpolitik wie schon zu
Zeiten des Bagdadbahnbaus die Funktion eines Tors zum Mittleren Osten bekommen.
Für die deutschen Expansionsinteressen im Nahen und Mittleren Osten, zu den
dortigen Rohstoffquellen und Märkten, ist die Türkei der strategische Partner. Deutschland
ist seit langem wichtigster Handelspartner der Türkei und der türkische Markt
mit rund 70,5 Millionen potenziellen Konsumenten und einer jungen Bevölkerung
für deutsche Firmen von großem Interesse. Das bilaterale Handelsvolumen
erreichte im Jahr 2007 einen Spitzenwert von 24,8 Milliarden Euro und ging 2009
aufgrund der Wirtschaftskrise auf 19,8 Prozent zurück. Die die deutschen
Exporte in die Türkei betrugen im vergangenen Jahr rund 11,5 Milliarden Euro.
Besonders starken Anteil an den deutschen Warenausfuhren in die Türkei haben
neben Rüstungsgütern Maschinen, elektrotechnische Erzeugnisse sowie
Kraftfahrzeuge und Zulieferteile für die Automobilindustrie. Deutschland ist
mit einem Volumen von über 7,6 Milliarden US-Dollar seit 1980 der größte
ausländische Investor in der Türkei. Inzwischen ist allerdings Russland dabei,
Deutschland als wichtigsten Handelspartner der Türkei zu verdrängen.
Kurdistan ist als
Transitgebiet für schon bestehende oder erst geplante Öl- und Gaspipelines von
enormer energiepolitischer Bedeutung für Deutschland und Europa. So soll die
geplante Nabucco-Erdgaspipeline, mit der Europa seine Abhängigkeit von
russischem Gas verringern will, mitten durch kurdisches Gebiet verlaufen. Die PKK,
die bereits mehrfach Anschläge gegen Pipelines durchgeführt hat, wird dabei von
EU-Seite als Gefährdung der europäischen Energiesicherheit wahrgenommen und
Ankara entsprechend grünes Licht bei der „Terrorbekämpfung“ gegeben.
Die
wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Türkei und Deutschland versetzten
die Türkei in eine Position, die keineswegs nur eine Abhängigkeit als
Bittsteller bedeutet. Die türkische Regierung kann durchaus selbstbewusst von
Deutschland Maßnahmen gegen kurdische und türkische Exiloppositionelle
einfordern.
Grenzüberschreitende
Aufstandsbekämpfung
Als die PKK nach
Beginn des bewaffneten Kampfes im Sommer 1984 zunehmend in Kurdistan Fuß fassen
konnte und die kurdische Frage durch den Aufstand internationale Aufmerksamkeit
erfuhr, sah die NATO die Stabilität der Türkei, die als Bollwerk gegen die
Sowjetunion und antiimperialistische Entwicklungen im Nahen Osten diente,
gefährdet. Im Rahmen der nun eingeleiteten NATO-Aufstandsbekämpfung fiel der
politischen Justiz in Deutschland die Aufgabe zu, die kurdische
Befreiungsbewegung als terroristisch zu kriminalisieren. Jede Tötung eines
Kurden in Westeuropa wurde jetzt der PKK angelastet. Der türkische Geheimdienst
MIT inszenierte einen Anschlag auf das türkische Generalkonsulat in Hamburg,
für den der PKK die Verantwortung zugeschoben werden sollte. Generalbundesanwalt
Kurt Rebmann, der mit Vertretern der türkischen Militärdiktatur eine enge Zusammenarbeit
gegen den internationalen Terrorismus vereinbart hatte, erklärte die Kurdische
Arbeiterpartei PKK zum ”Hauptfeind der inneren Sicherheit”.[5] Rund 20 kurdische
Politiker wurden nach Paragraph 129a Strafgesetzbuch angeklagt, Angehörige
einer terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK zur Liquidierung von
Parteifeinden zu sein. In einem unterirdischen Gerichtssaal wurden die
Angeklagten ab dem 24. Oktober 1989 in einem Plexiglaskäfig wie wilde Tiere
präsentiert - in den Augen der Verteidiger die „hygienisch einwandfreie
mitteleuropäische Variante der berüchtigten Massenschauprozesse türkischer
Militärgerichte“. Gegen die Mehrzahl der Angeklagten musste das Verfahren
„wegen Geringfügigkeit“ eingestellt werden. Aufgrund der Aussagen eines
Kronzeugen wurden im März 1994 lediglich zwei Angeklagte zu lebenslangen
Freiheitsstrafen verurteilt, zwei weitere Verurteilte kamen sofort frei, da
ihre Strafen durch die Untersuchungshaft vergolten waren. Der Versuch der
Bundesanwaltschaft, die gesamte kurdische Befreiungsbewegung als Terroristen zu
brandmarken, war gescheitert.
Als die türkische
Armee am 22. Oktober 1993 die kurdische Stadt Lice in der Provinz
Diyarbakır bombardierten, griffen in Europa aufgebrachte Kurden türkische
Vertretungen, Cafés und Reisebüros an. Obwohl der PKK keine Urheberschaft an
den Protestaktionen, bei denen ein Kaffehausbesitzer getötet wurde, nachgewiesen
werden konnte, verfügte Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) am 26.
November 1993 ein Betätigungsverbot für die PKK, die Nationalen Befreiungsfront
Kurdistans ERNK sowie 29 örtlicher Vereine. ”[...] die Tätigkeit der PKK sowie
ihrer Teilorganisationen verstößt gegen Strafgesetze, richtet sich gegen den
Gedanken der Völkerverständigung, gefährdet die innere Sicherheit, die
öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik
Deutschland [...]”, heißt es in der Verbotsverfügung. ”Die Straftaten stören
das friedliche Zusammenleben zwischen Kurden und Türken sowohl in der Türkei
als auch in Deutschland [...]. Die gewalttätigen politischen Aktionen [...]
gefährden die außenpolitischen Belange der BRD. Sie stören erheblich das
Verhältnis zum türkischen Staat [...]. Die politische Agitation der PKK und ihr
nahestehender Organisation hat zwischenzeitlich ein außenpolitisch nicht mehr
vertretbares Ausmaß erreicht. [...] die deutsche Außenpolitik und die
Außenpolitik der gesamten westlichen Welt tritt für (die) Integrität eines
wichtigen NATO-, WEU- und Europapartners im Interesse des Friedens in der
gesamten Region ein. Eine weitere Duldung der PKK-Aktivitäten in Deutschland
würde diese deutsche Außenpolitik unglaubwürdig machen und das Vertrauen eines
wichtigen Bündnispartners, auf das Wert gelegt wird, untergraben. Darüber
hinaus werden dadurch diejenigen Kräfte in der Türkei gestärkt, die die
Bindungen an Europa und dran die westliche Welt lockern wollen [...].”[6]
Durch
das von einer Hetzkampagne der Medien gegen die ”Terrorkurden” unterstützte
PKK-Verbot wurde Hunderttausende Bürger kurdischer Abstammung in Deutschland
unter Generalverdacht gestellt. Tausende Ermittlungsverfahren wurden
eingeleitet. Eine Vielzahl Demonstrationen, Feste und selbst Fußballspiele und
Hochzeiten wurden seit 1993 verboten, Hunderte Kulturvereine und
Privatwohnungen gestürmt. Schon das Zeigen von Öcalan-Bildern auf
Demonstrationen führt regelmäßig zu Festnahmen und Geldstrafen. Wie in der
Türkei wurden 1994 die Feierlichkeiten zum Newroz-Fest am 21. März verboten.
Anreisende Busse wurden noch auf der Autobahn gestoppt. Mit Autobahnblockaden
versuchten die Insassen die Weiterfahrt zu erzwingen. Am 1. Juli 1994 erschoss
in Hannover ein Zivilpolizist den 16-jährigen Halim Dener beim Kleben von
ERNK-Plakaten von hinten. Der Schütze wurde vor Gericht freigesprochen. Weil
sich die Losung „Politische und demokratische Lösung in Kurdistan” positiv auf
einen Waffenstillstand der PKK beziehe und eine Steuerung durch die PKK
vermuten lasse, wurde eine für den 12. März 1996 in Dortmund geplante
Großdemonstration verboten. Nordrheinwestfalen wurde polizeilich abgeriegelt,
ausländisch aussehende Menschen am Aussteigen aus Zügen gehindert und Fahrzeuge
mit kurdischen Insassen durch Farbkreuze auf den Reifen kenntlich gemacht. Es
kam zu den bis dahin größten polizeirechtlichen Massenfestnahmen der Nachkriegsgeschichte.
An mehreren Orten eskalierte die Lage in Straßenschlachten mit der Polizei. Erzürnt
drohte der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan mit Selbstmordanschlägen in
Deutschland, sollten Kurden mit Abschiebungen bedroht und dem „faschistischen
türkischen Staat” ausgeliefert werden. ”Deutschland liefe Gefahr, zu unserem
zweiten Kriegsgegner zu werden”, so Öcalan. ”Jeder Kurde wird dann eine lebende
Bombe werden.”[7]
Außenminister Kinkel behauptete nun, der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan habe
einen Mordbefehl gegen ihn in Auftrag gegeben und die Boulevardpresse wusste
von PKK-Mordplänen gegen Rennfahrer Michael Schumacher. Schließlich ruderte
Öcalan zurück und erklärte: ”Es wäre politisch und moralisch falsch, wenn wir
die Sache der Kurden durch Gewaltaktionen in Deutschland lösen wollten. Ich bin
eindeutig für Gewaltverzicht.”[8] Die Zusicherung,
PKK-Anhänger würden sich fortan an deutsche Gesetze halten, führte tatsächlich
zu einer gewissen Entspannung. Während weiterhin Razzien in Vereinen
durchgeführt und bei kleineren örtlichen Veranstaltungen Teilnehmer wegen
PKK-Parolen festgenommen wurden, konnten nun einmal im Jahr kurdische Festivals
mit bis zu 100.000 Teilnehmern störungsfrei durchgeführt werden.
Bei
Gerichtsverfahren gegen angebliche Führungsfunktionäre der PKK werden die
Angeklagten nach dem seit den 90er Jahren beibehaltenen immer gleichen Schema
als ”Rädelsführer” einer ”kriminellen Vereinigung” – vor 1998 sogar einer
„terroristischen Vereinigung“ - angeklagt und in der Regel zu mehrjährigen
Haftstrafen verurteilt. Die Beteiligung an konkreten Straftaten muss ihnen dazu
nicht nachgewiesen werden. Bei den Verfahren zeigen deutsche Gerichte eine
beharrliche Ignoranz gegenüber allen Wandlungen der PKK oder den in langen
Prozesserklärungen ausgeführten politischen Motiven der Angeklagten. So wurde
am 10.April 2008 auch der seit 2002 in Deutschland lebende Europa-Vertreter der
mittlerweile in der Türkei verbotenen kurdischen Parteien HADEP und DEHAP sowie
der DTP, Muzaffer Ayata, der in der Türkei bereits 20 Jahre inhaftiert war, vom
Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu einer 3 ½ jährigen Freiheitsstrafe
verurteilt.
Seit
2008 erfolgte eine neuerliche Verschärfung der Repression in Deutschland und
anderen europäischen Ländern. Diese geht zurück auf die am 5.November 2007 in
Washington erfolgte Einigung zwischen US-Präsident George W. Bush und dem
türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan auf eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung
der PKK. Die USA sicherten zu, mit Hilfe der europäischen Partner die zivile
Infrastruktur der Befreiungsbewegung in Europa ins Visier zu nehmen. „Die
Europäer seien nachdrücklich gedrängt worden, gegen die PKK vorzugehen,
erklärte Shari Villarosa, Chefberaterin in Sachen Terrorbekämpfung im
US-Außenministerium im März 2010.[9] So seien die
Polizeiaktionen von PKK-nahen Einrichtungen und die Verhaftungen von kurdischen
Politikern in Frankreich, Italien Belgien und Deutschland auf Druck der
US-Behörden erfolgt.
Im
Rahmen dieser von den USA angestoßenen Kooperation erfolgte im Juni 2008 das von
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) verhängte Betätigungsverbot für den
kurdischen Satellitensender Roj TV. Roj TV erreicht mit seinen Programmen in
türkischer, kurdischer, arabischer und assyrischer Sprache Millionen Zuschauer
in Europa und im Nahen Osten und ist für viele kurdischstämmigen Bürger in
Deutschland die einzige Möglichkeit, in ihrer Muttersprache authentische
Informationen aus Kurdistan zu bekommen. Der Sender richte sich gegen den
»Gedanken der Völkerverständigung«, heißt es im Verbotsbescheid. Wesentlicher
Sendeinhalt sei eine »Glorifizierung des bewaffneten Kampfes gegen die Türkei«
und das »Schüren eines Personenkultes um den inhaftierten PKK-Führer Abdullah
Öcalan«, so das Innenministerium. Vor dem Hintergrund des »verschärften
Vorgehens des türkischen Staates gegen PKK-Guerillastellungen« – gemeint sind
die völkerrechtswidrigen Luftangriffe auf Ziele im Nordirak – erforderten
»Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland« das Verbot des
»PKK-Haussenders«.[10] Das Bundesverwaltungsgericht
in Leipzig nannte die Verbotsgründe zutreffen, hob aber das Verbot am
26.Februar 2010 mit der Begründung auf, dass es unklar sei, ob ein deutsches
Verbot gegen einen in Dänemark lizensierten Sender mit europäischen Recht
vereinbar sei. Eine Woche später überfielen vermummte Antiterroreinheiten der
Polizei die Senderstudios im belgischen Denderleeuw, zerschlugen
Sendeeinrichtung in Höhe von über einer Million Euro und verhafteten mehrere
Mitarbeiter.
Das Verbot
von Roj TV war der Anlass für ein regionales Kommando der PKK-Guerilla, am 8.
Juli 2008 drei Mitglieder einer Bergsteigergruppe des Deutschen Alpenvereins
aus ihrem Camp in 3200 Metern Höhe am Berg Ararat gefangen zunehmen. ”Die
Merkel-Regierung muss zusammen mit der türkischen Regierung aufhören, den
Freiheitskampf des kurdischen Volkes im Namen wirtschaftlicher Interessen zu
opfern”[11],
forderte die Guerillaeinheit. Nach zehn Tagen kamen die bayerischen Bergsteiger
unversehrt wieder frei. Einen Bärendienst hat die auf eigene Faust handelnde
Guerillaeinheit der kurdischen Sache auf jeden Fall erwiesen. So zog die
Bundestagsfraktion DIE LINKE einen erst wenige Tage vorher eingebrachten Antrag
”Friedliche
Lösung der kurdischen Frage stärker ins Zentrum der EU-Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei stellen” wieder zurück, weil darin ”die
Aufhebung der Einstufung von kurdischen Organisationen als kriminelle
Vereinigung, insbesondere der Arbeiterpartei Kurdistans PKK” als ein ”Beitrag
der Bundesregierung für den Frieden in der Region" gefordert wurde.
"Wir können uns nicht für die PKK in einer Phase einsetzen, in der sie
Geiseln nimmt", begründete Fraktionsvize Bodo Ramelow diesen Kotau vor der
medial aufgepeitschten öffentlichen Meinung.[12]
Die
grenzüberschreitende Kurdenverfolgung der 80er und 90er Jahre diente als
Schrittmacher beim Abbau der Rechte von Flüchtlingen und Migranten. Bereits Ende
der 80er Jahre hatte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann eine Einschränkung des
Asylrechts gefordert: ”Dies sollten die führenden Mitglieder der PKK zur
Kenntnis nehmen. [...] In diesem Zusammenhang muss auch bedacht werden, dass
eine zu großzügige und an unseren Sicherheitsbedürfnissen nicht orientierte
Asyl- und Ausländerpolitik auf weitere Sicht zu einem Faktor der Instabilität
in unserem Staate werden kann.”[13] Insbesondere
kurdische Flüchtlinge aus der Türkei haben seitdem in Deutschland unter Verweis
auf die Westtürkei als angeblich sichere Binnenfluchtmöglichkeit kaum noch
Chancen auf eine Anerkennung und sind einer rigiden Abschiebepraxis ausgesetzt.
Dazu kommt die ausufernde Asyl-Widerrufspraxis des Nürnberger Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen bereits anerkannte Flüchtlinge. ”In den
letzten Jahren wurden in der Türkei insbesondere unter der AKP-Regierung durch
Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie andere Reformmaßnahmen markante
Fortschritte besonders im Bereich der Wahrung der Menschenrechte erzielt.
Übereinstimmend wird von Beobachtern der sich durch große Teile der
Gesellschaft ziehende Mentalitätswandel gewürdigt”, heißt es in einem Schreiben
des BAMF unter Bezugnahme auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes. Gegnern
des türkischen Staates, die in Deutschland innerhalb des „linksradikalen
Spektrums” eine herausragende Position eingenommen haben, drohe bei ihrer
Abschiebung nur „in besonders gelagerten Einzelfällen staatliche Verfolgung.”[14]
Abschiebehindernisse lägen daher nicht vor. Zum Zeitpunkt dieser Lageeinschätzung
waren bei der gewaltsamen Niederschlagung großer Demonstrationen in mehreren
kurdischen Städten Ende März 2006 gerade über ein Dutzend Zivilisten, darunter
Kinder, von der Polizei erschossen worden.
2009
hat die Bundesregierung mit Syrien ein Abkommen zur Rückübernahme von
Flüchtlingen geschlossen, die mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in
Deutschland leben. Betroffen davon sind bundesweit ca. 7.000 Menschen, darunter
staatenlose Kurden, obwohl Kurden in Syrien systematisch verfolgt und entrechtet
werden.
Auch
kurdischstämmige Bürgerinnen und Bürger, die volles Aufenthaltsrecht in
Deutschland erlangt haben, sind Diskriminierungen ausgesetzt. Wenn sie aus der
Türkei stammen und noch keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, werden sie
bis heute als Türken „verwaltet”. So wurde einer Familie im Sommer 2009 von den
Berliner Behörden verweigert, ihren Sohn nach dem berühmten kurdischen
Schriftsteller Cigerxwîn zu nennen, da dieser Name die nicht im türkischen
Alphabet enthaltenen und daher in der Türkei verbotenen Buchstaben X und W
enthält. Zahlreiche Einrichtungen und Maßnahmen zur Förderung der Integration
von Migranten ignorieren die Tatsache, dass Kurdinnen und Kurden als
zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland mit von den türkischen Migranten
verschiedenen, spezifischen Integrationsproblemen bilden. So hat beispielsweise
die Nichtanerkennung ihrer Muttersprache in Deutschland kognitive und
psychosoziale Folgen, die die Persönlichkeitsentwicklung und Bildungschancen
für kurdische Kinder nachhaltig beeinträchtigen.
Auf
der Konferenz „Kurden in Deutschland – Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für
Gleichstellung“, die von der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland - Yek
Kom gemeinsam mit Flüchtlings-, Friedens- und Menschenrechtsorganisationen
veranstaltet wurde, verabschiedeten die rund 150 teilnehmenden Politiker,
Wissenschaftler und Verbandsvertreter am 9. September 2009 im Berliner
Abgeordnetenhaus einem Forderungskatalog für einen Paradigmenwechsel der
deutschen Politik gegenüber den Kurden. Der zentrale Punkt lautete: „Die
Anerkennung der kurdischen Migrantinnen und Migranten als eigenständige
Migrantengruppe und Gleichstellung mit den anderen Migrantengruppen.“ Weiterhin
gefordert wird u.a. muttersprachlicher Ergänzungsunterricht, die Aufhebung PKK-Verbots,
ein Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge und ein verstärkter Einsatz der
Bundesregierung für die friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage.
Gerade
der letzte Punkt erscheint angesichts einer rund 150-jährigen Kontinuität der
deutschen Türkei- und Mittelostpolitik unwahrscheinlich. So, wie im Ersten
Weltkrieg das Schicksal des armenischen Volkes der strategischen
deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft geopfert wurde, wird heute das Schicksal
des kurdischen Volkes geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des
deutschen Imperialismus im Nahen und Mittleren Osten untergeordnet. Dass nicht
humanitäre Appelle sondern nur handfeste Tatsachen wie eine wirkliche
Demokratisierung der Türkei einschließlich der Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts der Kurden zu einem grundsätzlichen Wandel der
deutschen Kurden-Politik führen werden, zeigt das folgende Beispiel: Noch ein
Jahr nach dem Sturz des Baath-Regimes listete der deutsche Innenminister Otto
Schily im Frühjahr 2004 im Verfassungsschutzbericht des Inlandsgeheimdienstes
für das Jahr 2003 die Patriotische Union Kurdistans PUK und die Demokratische
Partei Kurdistans KDP unter „sicherheitsgefährdende und extremistische
Bestrebungen von Ausländern“ auf.[15] Ein Jahr später
wurden der PUK-Vorsitzende Jalal Talabani zum Staatspräsidenten des Irak und
der KDP-Vorsitzende Massoud Barzani zum Präsidenten der Region Kurdistan-Irak
gewählt und die Bundesregierung hofierte die gerade noch als „extremistisch“
gescholtenen Politiker. So kann also gehofft werden, das irgendwann einmal auch
Abdullah Öcalan als Staatsgast in Berlin empfangen wird. Doch der Wandel muss
von innen, von den demokratischen Kräften innerhalb der Türkei und
Nordkurdistans, kommen.
Der
Autor ist Historiker und Journalist in Berlin und arbeitet als
wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke.
Gemeinsam mit Brigitte Kiechle hat er gerade das Buch „PKK – Perspektiven des
kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“
veröffentlicht.
Der Artikel erschien auf kurdisch in der Le Monde
diplomatique kurdi im Juni 2010
http://www.lemonde-kurdi.com/siyaseta-alman-kurd-u-tirkiye
[1] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd.4, Berlin 1990, S.83.
[2] Paul Rohrbach, Die Bagdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung, Berlin 1902, S.16.
[3] Richard Albrecht: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ – Hitlers Geheimrede am 22.August 1939, Herzogenrath 2007.
[4] Die Welt 5.Oktober 1981.
[5] Eberhard Schultz: Zehn Jahre grenzüberschreitende Kurdenverfolgung, Köln 1998, S.17
[6] Verbotsverfügung des Bundesinnenministers gegen die PKK, ERNK und kurdische Vereine vom 26.November 1993, zit. nach Bürgel, Türkeipolitik, 472.
[7] Interview mit Abdullah Öcalan, Süddeutsche Zeitung 30./31.März 1996.
[8] Interview mit Abdullah Öcalan, Der Spiegel 46/1996.
[9] Todays Zaman 20.März 2010.
[10] Bundesministerium des Inneren, Verbotsverfügung, Berlin 13.Juni 2008.
[11] Junge Welt 15.9.2008.
[12] Spiegel-Online 16.7.2008.
[13] Schultz, Zehn Jahre, 17.
[14] Junge Welt 19.4.2006.
[15] Bundesministerium des Inneren: Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2003, Berlin 2004, S.228.