Krieg und Krise

Jahresrückblick 2018. Heute: Türkei. Erdogan festigt Präsidialdiktatur. Land in schwerer wirtschaftlicher Lage

Von Nick Brauns

Am 20. Januar 2018 begann die türkische Armee mit einem Großangriff auf den vor allem von Kurden bewohnten kleinen Selbstverwaltungskanton Afrin im Nordwesten Syriens. Zwei Monate hielten die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ den Angriffen der mit »Leopard II«-Panzern hochgerüsteten Armee und ihrer dschihadistischen Söldner stand. Doch gegen die Luftangriffe, die mehr als 1.000 YPG-Kämpfern das Leben kosteten und gezielt zivile Infrastruktur zerstörten, waren die leicht bewaffneten Verteidiger auf Dauer machtlos.

Hunderttausende Kurden flohen aus Afrin, das nun einem von Ankara bestimmten Kolonialgouverneuer unterstellt wurde. Mit der türkischen Armee einmarschierte Milizen aus dem Umfeld der Al-Qaida errichteten in dieser bis dahin vom Krieg verschont gebliebenen Region ein Schreckensregime, in dem Plünderungen, Vergewaltigungen, Entführungen sowie bewaffnete Auseinandersetzungen alltäglich geworden sind.

Innenpolitisches Kalkül

 

Mit dem Krieg gegen Afrin verband der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die innenpolitische Intention, die wenigen noch verbliebene Opposition einzuschüchtern und auszuschalten. Ein von der Regierung kontrollierten Medien genährter Nationalismus erfasste das Land, vom Staat bezahlte Imame verkündeten in Moscheen den »Dschihad«, Kriegsgegner wurden zu Hunderten aufgrund von Äußerungen in »sozialen Medien« festgenommen.

Angesichts des absehbaren Ausbruchs einer schweren Wirtschaftskrise ließ Erdogan die eigentlich für November 2019 geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den 24. Juni 2018 vorziehen. Die religiös-nationalistische Regierungspartei AKP trat im Bündnis mit den faschistischen Grauen Wölfen der MHP an, während sich die kemalistische CHP, die wichtigste Oppositionspartei, mit der MHP-Abspaltung Iyi und der islamistischen Glückseligkeitspartei verbündet hatte.

Kemalisten knicken ein

 

Außerhalb der beiden rechten Lager bot sich die linke, vor allem unter Kurden verankerte HDP als Alternative an. Doch ein freier Wahlkampf war wegen des Ausnahmezustandes für die Partei, deren Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas sich wie Tausende Parteimitglieder in Haft befindet, nicht möglich. Dennoch meisterte die HDP die Zehnprozenthürde – ein wichtiger Erfolg. CHP-Kandidat Muharrem Ince erwies sich als Hoffnungsträger, der auf Großkundgebungen Millionen begeisterte. Doch noch in der Nacht nach der Abstimmung knickte der Kemalist ein und erkannte, trotz offensichtlichen Wahlbetruges, den mit 52,5 Prozent nur knappen Sieg Erdogans an. Angesichts eines faschistischen Mobs, der in der Innenstadt von Ankara mit Schüssen den Sieg des »Reis« (Führers) feierte, war Ince wohl zu der Erkenntnis gelangt, dass andernfalls der Bürgerkrieg drohte.

Mit Erdogans Gewinn trat zugleich das im Vorjahr durch eine Volksabstimmung durchgesetzte Präsidialsystem in Kraft, mit dem das Parlament zum einflusslosen Abnickgremium degradiert wurde. Die Aufhebung des Ausnahmezustandes zwei Jahre nach dem gescheiterten Putsch war dann nur noch eine Formalie.

Lira unter Druck

 

Doch der allmächtige Präsident erschien handlungsunfähig gegenüber dem rapiden Verfall der türkischen Lira, die im Laufe des Jahres 30 Prozent gegenüber dem US-Dollar einbüßte. Erdogan und sein Finanzminister und Schwiegersohn Berat Albayrak wähnten sich in einem »Wirtschaftskrieg« mit einer ausländischen Finanzmafia. Der Staatschef rief die Bevölkerung zum Umtausch ihrer Devisen- und Goldvorräte in Lira auf und bezeichnete Zinsen als »Vater und Mutter allen Übels«.

Vorübergehend gestoppt werden konnte der Sturz der Lira erst, als die Zentralbank im September – gegen Erdogans Willen – die Leitzinsen kräftig erhöhte, mit der Folge allerdings, dass die Konjunktur einbrach und Beobachter, wie die Ratingagentur Moodys, gar eine Rezession aufziehen sahen. Die Inflation erreichte im Oktober mit einem Anstieg der Verbraucherpreise von rund 25 Prozent den höchsten Wert seit 15 Jahren.

Auch die Eröffnung des dritten Istanbuler Flughafens am 29. Oktober, dem Nationalfeiertag, konnte nicht von der Krise der Wirtschaft ablenken. Noch kurz vor der Eröffnung traten zahlreiche Beschäftigte in den Streik, denn miserable Arbeitsbedingungen bei diesem Megaprojekt hatten rund 400 Lohnabhängigen das Leben gekostet.

Streit mit den USA

 

Die rasante Talfahrt der Lira im Sommer hatte auch politische Ursachen. Das Vertrauen von ausländischen Investoren, auf die die türkische Ökonomie dringend angewiesen ist, wurde durch willkürliche Entscheidungen Erdogans untergraben. Dazu kam der Streit mit den USA um den seit zwei Jahren wegen absurder Terrorismusvorwürfe in der Türkei inhaftierten US-Pfarrer Andrew Brunson. Um dessen Freilassung zu erzwingen, ließ US-Präsident Donald Trump sogar Strafzölle gegen Ankara verhängen. Der schließlich im Oktober freigelassene evangelikale Prediger war allerdings nur Symbol für das Zerwürfnis zwischen den beiden NATO-Partnern.

Ursache des Konfliktes ist das Bestreben der Türkei, als Regionalmacht mehr Mitsprache in der ­westlichen Kriegsallianz zu erlangen und eigene neoosmanische Eroberungsprojekte im Irak und Syrien zu verfolgen. Erdogans Flirt mit dem russischen Präsidenten Wladimir ­Putin, bei dem er »S-400«-Luftabwehrraketen orderte, dient so dem Ziel, den eigenen Spielraum innerhalb des westlichen Bündnisses zu erweitern.

Trump zieht Truppen ab

 

Mit Massenverhaftungen und Militäroperationen im Osten der Türkei wurde der Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung 2018 unvermindert fortgesetzt. Den Guerillatruppen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gelang es dennoch, der Armee im Grenzgebiet zum Irak mehrfach empfindliche Schläge zu versetzen. Unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung« haben türkische Truppen im Laufe des Jahres einen 30 Kilometer tiefen Brückenkopf im Nordirak errichtet.

Erdogans jüngste Ankündigung, mit einem weiteren Militäreinsatz gegen das mehrheitlich von Kurden besiedelte Selbstverwaltungsgebiet östlich des Euphrat in Syrien vorzugehen, zielt mit Blick auf die türkischen Kommunalwahlen im kommenden März darauf, von der wirtschaftlichen Misere abzulenken. In Nordostsyrien führte die absehbare Einnahme des letzten Rückzugsgebietes des »Islamischen Staates« östlich des Euphrat in Deir Al-Sor zum Ende des von beiden Seiten erklärtermaßen nur als militärisch-taktisch begriffenen Bündnisses zwischen den USA und den kurdischen YPG.

Der Ende Dezember von Trump gegebene Rückzugsbefehl des für die US-Soldaten bedeutet zugleich grünes Licht aus Washington für einen türkischen Einmarsch, um Ankara so wieder fest in die strategische NATO-Allianz einzubinden. Für die Kurden und die anderen Völker Nordsyriens steht durch den nun drohenden großen Krieg alles auf dem Spiel.

Junge Welt 7.1.2019