junge Welt 30.12.2006 / Geschichte / Seite 15


Der Feind steht links

Klassenkampf bis zur Siedehitze: Die »Hottentottenwahl« zum Deutschen Reichstag vor 100 Jahren

Von Nick Brauns

 

Als »Hottentottenwahl« ging der Reichstagswahlkampf zur Jahreswende 1906/07 in die Geschichte ein. Die Wahl fand vor dem Hintergrund eines in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, tobenden Kolonialkrieges statt. Zuerst hatten sich 1904 die Herero gegen die deutschen Kolonialisten erhoben. Nach der genozidartigen Ermordung von Zehntausenden Herero in der Omaheke-Wüste begannen die abschätzig als Hottentotten bezeichneten Nama den Kolonialtruppen einen für beide Seiten verlustreichen Guerillakrieg.

Am 2. August 1906 hatte die Reichsregierung einen Nachtragshaushalt in Höhe von 29 Millionen Mark für die Finanzierung des Krieges in Afrika beantragt. Doch mit den Stimmen der Sozialdemokratie und des katholischen Zentrums wurde die Regierungsvorlage am 12. Dezember abgelehnt. Sprecher beider Parteien machten in der Debatte deutlich, daß sie Kolonialismus nicht grundsätzlich ablehnten, sich aber gegen die Kolonialgreuel stellten.

Unmittelbar nach der Ablehnung des Kriegshaushalts löste Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow den Reichstag auf und setzte Neuwahlen für den 25. Januar an. Ziel war die Schaffung einer stabileren, von den Konservativen bis zu den Liberalen reichenden Basis innerhalb der herrschenden Klassen für die imperialistische Regierungspolitik.

Hetzkampagne


Hierzu entfaltete die konservative Rechte eine beispiellose Hetzkampagne gegen das Zentrum und insbesondere die Sozialdemokraten. Die Stoßrichtung hatte Bülow in seinem »Sylvesterbrief« an den Vorsitzenden des »Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie« ausgegeben: Zusammenschluß aller »nationalen Elemente« gegen die »vaterlandslose« Sozialdemokratie als Hauptfeind des deutschen Volkes. Unternehmerverbände wie der Zentralverband Deutscher Industrieller finanzierten einen Propagandafeldzug von über 1000 Zeitungen gegen die Sozialdemokratie. Der innere Gegner, die Sozialdemokraten, sei »gefährlicher als der äußere, weil er die Seele unsres Volkes vergiftet und uns die Waffen aus der Hand windet, ehe wir diese noch erheben«, schrieb etwa die christlich-konservative Kreuz-Zeitung am 21. Januar 1907.

Erstmals griffen die von der Rüstungs- und Schwerindustrie gesponserten nationalistischen Verbände wie der Alldeutsche Verband, der Deutsche Flottenverein und die Deutsche Kolonialgesellschaft koordiniert in den Wahlkampf ein, um die noch unentschiedenen Mittelschichten zu gewinnen. Zur Rechtfertigung der Rüstungs- und Kolonialpolitik propagierten sie Lebensraumtheorie, Rassismus und Kriegsverherrlichung. Bülow regte öffentliche Ehrungen von Afrika-Kriegern und die Aufstellung von Kriegerdenkmalen an. »Auch afrikanische Tunichtgute mit Geld rednerisch einspannen, ehe es die Gegenseite tut!«, hieß es in einem Strategiepapier zur Wahlkampfführung der Regierung.

Der Wahlkampf stand »unter dem Zeichen eines zur Siedehitze gesteigerten Klassenkampfes«, so Karl Liebknecht. Hintergrund war die ökonomische Entwicklung des deutschen Imperialismus seit der Jahrhundertwende mit einem starken wirtschaftlichen Wachstum und beschleunigter Monopolisierung der Wirtschaft. Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und Rohstoffen geriet der deutsche Imperialismus zunehmend in Widerspruch mit den anderen Großmächten und drängte immer aggressiver auf eine Neuaufteilung der Welt.

Karl Liebknecht als Exponent des entschieden antikolonialistischen und antimilitaristischen Flügels der Sozialdemokratie stritt im »Kaiserwahlkreis« Potsdam-Spandau-Osthavelland um ein Reichstagsmandat. »Die Regierung läßt ihren ganzen Apparat spielen. Und die reaktionären Parteien nicht minder«, schrieb er in einem Brief. »Man rührt die niedrigsten Instinkte auf.« Liebknecht trat in über 50 Wahlversammlungen auf: »Ich komme kaum aus den Kleidern. (...) Ganze Nächte liege ich auf offenen Wagen auf der Landstraße. Im Regen und Schnee unter freiem Himmel Versammlungen. Und jetzt, seit gestern, eine wüste Kälte – heut nachts über 15 Grad.« Nicht nur das Wetter setzte den sozialdemokratischen Wahlkämpfern zu. Hunderte Wahlversammlungen wurden verboten, Redner und Redakteure wie zur Zeit des Bismarckschen Sozialistengesetzes verhaftet. Manchenorts kam es zu physischen Übergriffen auf sozialdemokratische Flugblattverteiler.

Wendepunkt


Mit fast 85 Prozent war die Wahlbeteiligung die bis dahin höchste aller Reichstagswahlen. Die Sozialdemokratie als bei weitem stärkste Partei mit 28,9 Prozent Stimmenanteil konnte trotz der massiven antisozialistischen Hetze ihre absolute Stimmenzahl von 3,01 Millionen auf 3,26 Millionen steigern. Zweitstärkste Partei wurde das Zentrum mit rund zwei Millionen Stimmen. Doch in Folge der geschlossenen Front ihrer bürgerlichen Gegner bei den Stichwahlen und einer veralteten Wahlkreiseinteilung verloren die Sozialdemokraten über die Hälfte ihrer Mandate und erhielten nur 43 Abgeordnetensitze. So führte Karl Liebknecht zwar im ersten Wahlgang mit 17158 gegenüber 13566 Stimmen seines zweitplazierten konservativen Gegners. Doch gestützt von allen bürgerlichen Parteien zog der Konservative Pauli nach der Stichwahl am 5. Februar erneut in den Reichstag ein.

Während rechte Sozialdemokraten die antiimperialistische Agitation ihrer Partei als Hauptgrund für die Wahlniederlage bezeichneten und auf reformistische Kleinarbeit setzten, sah Liebknecht im Wahlausgang gerade den Beweis für die brennende Notwendigkeit der Bekämpfung des »inneren Militarismus«. Die Wahlen hätten gezeigt, wie beschämend gering die Widerstandskraft des deutschen Volkes gegenüber »pseudopatriotischen Rattenfängereien jener verächtlichen Geschäftspatrioten« sei.

Die Reichsregierung konnte sich nun bei der Umsetzung ihrer Kriegspolitik auf den von der Schwerindustrie gewünschten »Bülow-Block« aus Deutschkonservativen, Reichs- und Freikonservativen, Nationalliberalen und den ebenfalls auf imperialistischen Kurs eingeschwenkten linksliberalen Parteien stützten.

Die »Hottentottenwahl« markierte einen Wendepunkt der deutschen Politik. »Sie zeigt uns, daß die nächste politische Entwicklung unter dem Zeichen der Weltpolitik steht«, warnte Rosa Luxemburg. »Weltpolitik bedeutet Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik. Das ist der Strudel, dem der Kapitalismus entgegenstürmt und in dem er mit Mann und Maus unterzugehen verdammt ist.« Die Weichen zum Weltkrieg waren gestellt.

Quellentext. Rosa Luxemburg, aus: »Die Lehren der letzten Reichstagswahl« (1907)

»Worin besteht nun das Resultat der Wahl für uns? Wir haben annähernd die Hälfte unserer Mandate verloren. Wer aber glaubt, daß dadurch unsere politische Macht geschwächt sei, der überschätzt den Einfluß des Parlamentarismus. Wir sind eine revolutionäre Massenpartei. Unsere politische Macht liegt deshalb nicht in der Zahl der Reichstagsmandate, sondern in der Zahl unserer Anhänger im Volke. Wir unterschätzen die parlamentarische Arbeit nicht, aber wir müssen uns auch darüber klar sein, daß wir als geborene Minderheitspartei sehr wenig Einfluß auf die Gesetzgebung haben. Was wir an Gesetzen zugunsten der Arbeiter erreicht haben, das ist nicht der Zahl unserer Abgeordneten zu danken, sondern dem Druck der Massen, die hinter ihnen stehen. In erster Linie haben unsere Abgeordneten die Reichstagstribüne zur Vertretung und Verbreitung unserer grundsätzlichen Auffassungen zu benutzen. (...) Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet hat der Mandatsverlust für uns nur sekundäre Bedeutung. Viel wichtiger ist dagegen die Verschiebung innerhalb der Wählermasse. Um hierüber ein Urteil zu gewinnen, müssen wir fragen: Was hat den Mittelstand gegen uns ins Feld geführt? (...)

Die Kolonialpolitik wurde nicht als eine Detailfrage der Politik in den Wahlkampf geworfen, sondern sie ist zum Symbol der Politik gemacht worden, welche sich gegen die Sozialdemokratie richtet. Unter dem Symbol der Kolonialpolitik haben sich die Anhänger der bürgerlichen Weltanschauung zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie gesammelt. Aber nicht nur diese, sondern noch eine andere Tatsache erklärt den Umschwung der Stimmung im Kleinbürgertum. Die russische Revolution hat den Glauben an die unerschütterliche Macht des Bürgertums erschüttert. (...)

Die Reichstagswahl war eine parlamentarische Junischlacht (im Juni 1848 in Paris – jW) des Kleinbürgertums gegen die Sozialdemokratie, ein Kampf einer absterbenden gegen eine aufstrebende Klasse, also ein Klassenkampf von reinstem Wasser. Diese Vorgänge zeigen uns, daß das so viel angezweifelte Wort Lassalles von der einen reaktionären Masse, die uns gegenübersteht, sich vollauf bestätigt hat.«

Rede am 6. März 1907 in Berlin in einer Volksversammlung. Nach einem Zeitungsbericht. Aus: Rosa Luxemburg, GW 2, S. 193f.