Hitzegrade
Vor 25 Jahren einigten sich Bundesregierung und
SPD-Opposition auf die Demontage des Asylrechts
Von Nick Brauns
Mit einer Lichterkette durch die Münchner
Innenstadt setzten 400.000 Menschen am Nikolaustag 1992 ein eindrucksvolles
Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus. Am Abend des gleichen 6.
Dezember verkündeten in Bonn Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble und sein
sozialdemokratischer Kollege Hans-Ulrich Klose vor der Presse einen
»Kompromiss« im Streit um eine Demontage des Grundrechts auf Asyl: »Die
Fraktionen stimmen überein, dass die Zuwanderung nach Deutschland begrenzt und
gesteuert werden muss sowie der Missbrauch des Asylrechts verhindert und der
Schutz tatsächlich politisch Verfolgter gewährleistet werden müssen«, hieß es.
Andernfalls würden »Ängste und Unsicherheiten verstärkt, die für den inneren
Frieden schädlich sind«. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl nannte den
»Asylkompromiss« einen »Sieg der Straße und eine Niederlage des Rechtsstaates«.
Denn vorausgegangen war eine jahrelange »Das-Boot-ist-voll«-Kampagne, in der
sich Unionspolitiker und einzelne prominente Sozialdemokraten, die
Springer-Presse und brandschatzende Neonazis gegenseitig die Bälle zugespielt
hatten.
In Folge des Zusammenbruchs der sozialistischen
Staaten war die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland zu Beginn der 1990er Jahre
deutlich angewachsen. Neben Hunderttausenden Spätaussiedlern aus der
Sowjetunion stieg auch die Zahl der Asylantragssteller rasant auf 256.000 im
Jahr 1991 und auf 438.000 im Jahr 1992. Ein großer Teil dieser Flüchtlinge
stammte aus Jugoslawien. An den dortigen Bürgerkriegen trug die Bundesregierung
mit ihrer Anerkennung der Sezession Kroatiens und Sloweniens erhebliche
Mitverantwortung.
»SPD-Asylanten«
Im September 1991 forderte der damalige
CDU-Generalsekretär Volker Rühe seine Partei auf, »die besorgniserregende
Entwicklung von Asylbewerberzahlen« in allen Landtagen und Kommunalparlamenten
zum Thema zu machen, »und die SPD dort herauszufordern, gegenüber den Bürgern
zu begründen, warum sie sich gegen eine Änderung des Grundgesetzes sperrt«. Von
jetzt an sei jeder Asylbewerber ein »SPD-Asylant«, so Rühe. Wenige Tage später
kam es in der sächsischen Bergarbeiterstadt Hoyerswerda zu einem tagelangen
Pogrom gegen Flüchtlinge und mosambikanische Vertragsarbeiter. Neonazis
feierten Hoyerswerda nach der Evakuierung der Angegriffenen als erste
»ausländerfreie Stadt« Deutschlands. Dies war das Fanal zu einer
deutschlandweiten Anschlagswelle auf Flüchtlingsheime und Migranten. Zwischen
1991 und 1993 wurden mehr als 4.700 rechtsextreme Übergriffe und Anschläge
gezählt, bei denen 26 Menschen getötet und fast 1.800 verletzt wurden. Bild, FAZ und Spiegel heizten
die Stimmung mit Hetzartikeln gegen »Scheinasylanten« und »Asyl-Touristen«
weiter an. »Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten. Ansturm der Armen« titelte etwa
der Spiegel am 9. September 1991 und in Bild prangte
am 2. April 1992 in großen Lettern auf Seite eins: »Fast jede Minute ein neuer
Asylant – Die Flut steigt, wann sinkt das Boot?«. Von
der rassistischen Kampagne profitierten neofaschistische Parteien. Bei
Landtagswahlen im April 1992 erzielten die Republikaner in Baden-Württemberg
10,9 Prozent und die Deutsche Volksunion in Schleswig-Holstein 6,3 Prozent.
Am 22. August 1992 August attackierte ein
rassistischer Mob in Rostock-Lichtenhagen zuerst die Zentrale Aufnahmestelle
für Asylbewerber mit Steinen und Brandsätzen. Zwei Tage später setzten Neonazis
unter dem Applaus von Tausenden Anwohnern ein nahegelegenes Wohnheim für
vietnamesische Vertragsarbeiter in Brand, die Bewohner konnten sich aufs Dach
retten, während die Polizei weitgehend tatenlos blieb.
Noch während das Pogrom in Rostock tobte, verkündete
SPD-Chef Björn Engholm auf dem Bonner Petersberg vor den Spitzen der
Sozialdemokratie erstmals die Bereitschaft zu einer Grundgesetzänderung beim
Asylrecht sowie zur Zustimmung zu UN-mandatierten Bundeswehrauslandseinsätzen.
Maßgeblichen Anteil an der »Petersberger Wende« hatte
der damalige saarländische Ministerpräsident und stellvertretende
SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der bereits 1989 die Debatte über
»Asylmissbrauch« losgetreten hatte.
An das Gewissen der SPD appellierten 5.000
Unterzeichner eines von den Schriftstellern Günter Grass, Ralph Giordano und Siegfried
Lenz initiierten »Hamburger Manifestes«, in dem es hieß: »Wenn es so etwas wie
eine Aura der Verfassung gibt, dann ist es das deutsche Asylrecht des Artikels
16 Grundgesetz, das einzige Grundrecht, das sich nach den weltweiten
Verheerungen der Nazis an alle politisch verfolgten Weltbürger wendet.« In Bonn
gingen am 16. November 1992 etwa 150.000 Menschen unter dem Motto »Hände weg
vom Asylgrundrecht!« auf die Straße. Doch ein
Sonderparteitag der SPD votierte zwei Tage später mehrheitlich für eine Grundgesetzänderung.
Kalkulierte Abschiebung
Da eine Streichung von Artikel 16 Grundgesetz –
»Politische Verfolgte genießen Asylrecht« – aufgrund der Ewigkeitsgarantie der
Grundrechte nicht möglich war, verständigten sich Regierung und SPD auf dessen
Ergänzung. Asylanträge aus vermeintlich »sicheren Herkunftsstaaten« sollten als
»offensichtlich unbegründet« und Asylanträge von Menschen als »unbeachtlich«
eingestuft werden, die aus »sicheren Drittstaaten«, darunter allen
Nachbarstaaten Deutschlands, eingereist waren. Auf dem Papier blieb das
Asylrecht so zwar bestehen, doch es wurde seines wesentlichen Inhalts beraubt,
da kaum noch ein Flüchtling es nutzen konnte. Um »Anreize für
Wanderungsbewegungen« zu vermeiden, wurde das Asylbewerberleistungsgesetz
eingeführt, das Flüchtlingen zustehende Leistungen auf ein gutes Drittel unter
das Sozialhilfeniveau senkte. Ebenfalls der Abschreckung dienten die
Unterbringung in Sammellagern, Arbeitsverbote und die Residenzpflicht am Ort
des Asylverfahrens.
Während zehntausend Demonstranten vor dem von der
Polizei abgeriegelten Bundestag protestierten, stimmten am 26. Mai 1993 gegen
22 Uhr 521 Abgeordnete für die Grundrechtsänderung. Unter den 132 Nein-Stimmen
fanden sich neben Bündnis 90/Die Grünen und der Partei des Demokratischen
Sozialismus (PDS) auch fast die Hälfte der SPD-Fraktion sowie sieben
FDP-Abgeordnete.
Drei Tage später verübten Neonazis in Solingen einen
Brandanschlag auf das Haus der türkeistämmigen Familie Genc, fünf Menschen
starben in den Flammen. »Kein Volk, kein Gemeinwesen kann eine solch ständig
wachsende Zahl von Menschen verschiedenster Herkunft so schnell integrieren,
dass eine drohende Überfremdung vermieden werden könnte«, erklärte der
CDU-Politiker Manfred Kanther. Im folgenden Jahr konstatierte der mittlerweile
zum Bundesinnenminister aufgestiegene Kanther einen deutlichen Rückgang der
Flüchtlingszahlen. Dieses Ergebnis wäre nicht erzielbar gewesen, so Kanther
gegenüber der Süddeutschen Zeitung, »ohne die öffentliche
Auseinandersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat«.
Quelle:
»Jenseits von
Menschlichkeit und Vernunft«
»Die populistische
Instrumentalisierung von tatsächlichen sozialen Problemen und Schwierigkeiten
bei der Unterbringung von Flüchtlingen in den Kommunen, die
Instrumentalisierung von Vorurteilen und latentem Rassismus zur Durchsetzung
einer neuen Asylpolitik hat die politische Auseinandersetzung um Zukunftsfragen
auf eine durch und durch irrationale Basis gestellt. Außer Kraft gesetzt wurden
die Maßstäbe der Menschlichkeit und der Vernunft. (…) Die Bundesrepublik ist
zweifellos eine führende Wirtschaftsmacht. Aber sie ist beteiligt – und darüber
wird hier so gut wie überhaupt nicht geredet – an der Ausbeutung der
sogenannten Dritten Welt. (…) Ist es nicht aber wenigstens moralisch höchst
fragwürdig, vom Elend und Hunger in der sogenannten Dritten Welt zu profitieren
und gleichzeitig Mauern gegen die Flüchtlinge aus ihr hochzuziehen, gegen
Flüchtlinge, die versuchen, diesem Elend und diesem Hunger zu entkommen? (…) Es
waren Politikerinnen und Politiker, die die Begriffe von Scheinasylanten, von
Flüchtlingsströmen, von Wirtschaftsflüchtlingen, vom Asylmissbrauch, von
asylfreien Zonen, von Durchmischung und Durchrassung
und das schlimme Wort vom Staatsnotstand in die Debatte brachten, und solche
Worte zeigen Wirkung. All jene, die in der beschriebenen Art und Weise die
Asyldebatte führten und führen, haben an rassistischen und ausländerfeindlichen
Pogromen als intellektuelle Urheber ihren Anteil.«
Aus der Rede des
PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi im Bundestag am 26. Mai 1993. Deutscher Bundestag.
Stenographischer Bericht Sitzung. Plenarprotokoll 12/160
Aus: junge
Welt vom 02.12.2017, Seite 15 / Geschichte