Aus: bayern, Beilage der jungen
Welt vom 18.11.2006
Von Nick Brauns
Anfang September 1900 zog ein neuer Mieter im Haus des
Gastwirts Georg Rittmeyer in der Kaiserstraße 53 (heute 46) im Münchner
Künstlerviertel Schwabing ein. Der Mieter mit dem russischen Akzent nannte sich
»Meyer« und verbrachte seine Tage in der nahegelegenen Staatsbibliothek oder
über seinen Schreibtisch gebeugt. Seine Artikel zeichnete Meyer, der eigentlich
Wladimir Iljitsch Uljanow hieß, in München erstmals mit einem Pseudonym, das in
die Menschheitsgeschichte eingehen sollte: LENIN.
Der 30jährige Revolutionär war nach einer sibirischen Verbannung nach München
gekommen, weil hier ein vergleichsweise liberales Klima herrschte. Zuvor hatte
er sich mit dem »Vater des russischen Marxismus« Georgi Plechanow in Genf über
die Herausgabe einer Arbeiterzeitung geeinigt, die die verschiedenen Zirkel der
russischen Sozialdemokratie um ein marxistisches Programm sammeln sollte. »Die
Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator,
sondern auch ein kollektiver Organisator«, lautete ein Credo in dem während
seiner Münchner Zeit entstandenen Werk »Was tun?«. In dieser »Bibel der
Revolution« entwickelte Lenin das Konzept einer Partei von
Berufsrevolutionären, die in der Lage wären, Rußland aus den Angeln zu heben.
Am 14. April 1901 traf Lenins Lebensgefährtin Nadeshda Krupskaja in München
ein. Das Ehepaar zog mit einem falschen bulgarischen Paß unter dem Namen
Jourdanoff in eine Dreizimmerwohnung in der Siegfriedstraße 14. »In einem
Zimmer einer karg möblierten Wohnung waren der ›Redaktionsausschuß‹ und das
›Sekretariat‹ der Iskra untergebracht. Dieses Zimmer diente auch als
Empfangsraum. ›Das andere Zimmer‹, wie wir es nannten, diente als Wohnquartier
der Lenins. Dort arbeitete er an einem ärmlichen Tisch«, schilderte Martows
Schwester Lydia Dan die Wohnung. Im dritten Zimmer wohnte Elisabetha
Wassiljewna, die Mutter der Krupskaja. Sie sei der einzige Mensch aus Lenins
nächster Umgebung, der sich gegen ihn zur Wehr setzte, heißt es über Lenins
Schwiegermutter.
Der Iskra-Redaktion gehörten in München außer Lenin auch der Journalist und
spätere Kopf der gemäßigten Menschewiki Julius Martow, A. N. Protessow sowie
die ehemalige Anarchistin Wera Sassulitsch an, die 1878 durch ihr Attentat auf
den sadistischen Petersburger Stadthauptmann Trepow zum Idol der revolutionären
Bewegung geworden war. Plechanow sowie Pawel Axelrod kamen nur selten aus der
Schweiz zu Besprechungen nach München. Krupskaja fungierte als
Redaktionssekretärin.
Wichtigster deutscher Vertrauensmann und Postadresse für Lenin war der Arzt Dr.
Carl Lehmann, ein Freund August Bebels, in der Gabelsbergerstraße 20a (jetzt
46). Als ehemaliger Aktivist der »Roten Feldpost« unter dem Bismarckschen
Sozialistengesetz kannte sich Lehmann mit der Verteilung illegaler Presse aus.
Die erste Nummer der Iskra wurde in Leipzig gedruckt, sie erschien im Januar
1901. Ab der zweiten Ausgabe wurde sie in der Druckerei des Sozialdemokraten
Maximus Ernst in der Senefelderstraße in München hergestellt. In Koffern mit doppeltem
Boden oder in Mäntel eingenäht wurde die Zeitung von sozialistischen Agenten
nach Rußland geschmuggelt.
Schwer tat sich Lenin, der in Rußland zahlreiche deutschsprachige Bücher
gelesen hatte, mit dem Bayerischen. »Die Umgangssprache ist so ungewöhnlich,
daß ich die Wörter nicht einmal in öffentlichen Reden verstanden habe.« Auch
das Wetter setzte dem Russen zu. »Eigentlich ist es überhaupt kein Winter,
sondern ein recht häßlicher Herbst, sehr naß«, schrieb er am 26. Dezember 1900
in einem Brief an seine Mutter über seinen ersten Winter in der Emigration,
»Man ist des Schmutzwetters überdrüssig und denkt mit Vergnügen an den echten
russischen Winter, an die Schlittenbahn, an die reine Frostlust.« Doch München
hatte auch angenehme Seiten. »Dieser Tage ist hier der Karneval zu Ende
gegangen. Ich habe zum ersten Mal den letzten Karnevalstag im Ausland erlebt –
kostümiere Umzüge durch die Straßen, allgemeines Narrentreiben, Wolken von
Konfetti (kleine bunte Papierschnitzel), die man sich ins Gesicht wirft,
Papierschlangen usw. usf. Man versteht es hier, sich öffentlich, auf den
Straßen zu amüsieren!«
An den Sonntagen unternahm Lenin ausgedehnte Spaziergänge durch den Englischen
Garten und entlang der Isarauen. Dabei stellte er eine Bedingung: Keine Unterhaltung
über Politik! Zum Essen ging es in einen Biergarten oder das weltberühmte
Hofbräuhaus, wo Lenin sich große Portionen Fleisch bestellte und eine Maß Bier
trank. Dagegen mied Lenin die Münchner Kaffeehäuser, in denen ihm zuviel
unnützer Klatsch erzählt wurde und unter den zahlreichen Exilrussen Spitzel der
zaristischen Geheimpolizei Ochrana sein konnten.
Enttäuschend war für die russischen Revolutionäre die Münchner Maifeier. »Und
nun zogen die deutschen Sozialdemokraten in ziemlich großen Kolonnen, mit Kind
und Kegel und mit den üblichen Rettichen in der Tasche, schweigend im Eilmarsch
durch die Stadt, um später in einem Vorstadtrestaurant Bier zu trinken. Es gab
keinerlei Fahnen oder Plakate«, vermerkte Krupskaja. »Wir hatten an einer
kampfesfreudigen Demonstration teilnehmen wollen und nicht an einer
Demonstration mit polizeilicher Genehmigung.«
Als es im Frühjahr 1902 zu einer Verhaftungswelle von Iskra-Agenten in Rußland
kam, beschloß die Iskra-Redaktion angesichts eines drohenden Zugriffs der
politischen Polizei, München zu verlassen. Lenin und Krupskaja verkauften ihre
Wohnungseinrichtung für zwölf Mark und verließen die Stadt am 12. April mit dem
Ziel London. »Die Münchner Zeit blieb für uns stets in angenehmer Erinnerung,
schrieb Krupskaja, »Die darauffolgenden Jahre der Emigration waren für uns viel
härter.«
Nick Brauns ist Leiter des Regionalbüros der jW in München