junge Welt 09.06.2007 / Geschichte / Seite 15

Recht des Stärkeren

Am deutschen Veto scheiterte auf der zweiten Haager Friedenskonferenz vor 100 Jahren die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichts

Von Nick Brauns

Die Ächtung von Kriegen und die Schaffung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit zur friedlichen Lösung internationaler Konflikte gehören zu den großen Utopien des Pazifismus. Diese Forderung stand auch im Mittelpunkt der Haager Friedenskonferenzen, die einen Grundstein für das humanitäre Völkerrecht legten.

Die erste Haager Friedenskonferenz mit Regierungsvertretern von 26 souveränen Staaten war 1899 auf Initiative des russischen Zaren zusammengekommen. Dabei war der Zar keineswegs pazifistisch inspiriert. Vielmehr konnte Rußland die immensen Rüstungsausgaben im Wettlauf mit Deutschland, Frankreich und England nicht mehr tragen und hoffte, durch Abkommen zur Rüstungsbeschränkung oder einen zeitweiligen Rüstungsstopp den eigenen Haushalt zu entlasten. Doch die anderen Mächte lehnten jegliche Verhandlungen hierzu ab.

Wichtigstes Ergebnis der ersten Friedenskonferenz war die Verabschiedung der bis heute gültigen Haager Landkriegsordnung, die die Behandlung von Kriegsgefangenen, Verwundeten und Zivilisten im Krieg regelt und auch das Verbot von Dumdumgeschossen und chemischen Kampfstoffen beinhaltet.

Abrüstung abgelehnt

Die Anregung zur Folgekonferenz ging bereits 1904 von US-Präsident Theo­dore Roosevelt aus. Auf Wunsch Rußlands wurde die Konferenz aber erst nach Beendigung des russisch-japanischen Krieges einberufen. Diesmal wollten die USA und Großbritannien die Frage der Abrüstung thematisieren. »Wenn einer seine Rüstung einschränken kann, ist es nur England! Da es eine so kolossale Übermacht hat! Aber weil es dieselbe hat, will es dieselbe in aeternum (bis in alle Ewigkeit – d. Red.) behalten, daher dürfen die anderen nicht ihre Rüstungen id est (das heißt – d. Red.) Flottenbauten weiterentwickeln! Besonders wir nicht!«, kommentierte Kaiser Wilhelm II. den britischen Wunsch in einer Randnotiz. Die Reichsregierung machte in einer Denkschrift deutlich, daß sie eine Beteiligung an der Konferenz ablehne, falls dort über Abrüstung verhandelt würde.

Die Konferenz begann am 15. Juni 1907 im Rittersaal des Haager Binnenhofs und dauerte bis zum 18. Oktober. Vertreten waren durch 239 Delegierte aus 44 Ländern fast alle souveränen Staaten der damaligen Zeit, darunter sämtliche Teilnehmer der Vorgängerkonferenz, das mittlerweile von Schweden unabhängige Norwegen sowie 17 mittel- und südamerikanische Länder. Dazu kamen Vertreter von Nichtregierungsorganisationen wie die Pazifistin Bertha von Suttner. Die deutsche Delegation wurde vom Botschafter in Konstantinopel, Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein, angeführt. Ihr gehörten noch der Geheime Legationsrat Johannes Kriege vom Auswärtigen Amt, der Generalmajor im Großen Generalstaab Erich von Gündell und der Pariser Marineattaché Admiral Siegel an. Wissenschaftlicher Delegierter war der Bonner Völkerrechtler Professor Philipp Zorn.

Die von der russischen Regierung aufgestellte Agenda beinhaltete die Verbesserung und Ergänzung der auf der ersten Haager Konferenz getroffenen Abkommen über eine internationale Schiedssprechung, das Landkriegsrecht, der Anwendung der Genfer Konvention auf den Seekrieg und die Ausarbeitung eines Abkommens zu Fragen des Seekriegsrechts. Verabschiedet wurden 13 neue Konventionen über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Landkrieg sowie zur Seekriegsführung. Ferner nahm die Konferenz eine Deklaration über das Verbot des Abwurfs von Bomben aus Luftfahrzeugen an, deren Unterzeichnung allerdings von deutscher Seite verweigert wurde.

Explizit am deutschen Widerstand scheiterte die Einführung eines obligatorischen Schiedsgerichts zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. In einer 45minütigen Rede begründete Marschall am 5. Oktober die deutsche Ablehnung. Durch einen Weltschiedsgerichtsvertrag würden die Machtverhältnisse in Rechtsverhältnisse umgewandelt und eine Art internationales Spinngewebe geschaffen, in welchem sich auch die kleinsten Staaten als Spinnen fühlten. Dagegen würden die Großmächte möglicherweise zu den Fliegen, die sich in dem Spinngewebe fangen ließen. Unverhohlen ließ der deutsche Delegierte anklingen, daß das Kaiserreich auf das Recht des Stärkeren setzte. »Man sollte sich eben auf nichts als auf sein gutes Schwert verlassen!« vermerkte der deutsche Militärdelegierte General von Gündell in seinem Tagebuch.

Ein »Pyrrhussieg«

Am 7. Oktober stimmten neben Deutschland auch Österreich, Bel­gien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro, Rumänien, die Schweiz und die Türkei gegen den Entwurf für das obligatorische Schiedsgericht. Da Einstimmigkeit notwendig gewesen wäre, beschloß die Konferenz lediglich, die Angelegenheit »eifrig zu studieren«. »Das obligatorische Schiedsgericht ist und bleibt ein Schwindel; aber diplomatisch klug ist unser Benehmen nicht«, wertete General Erich von Gündell das deutsche Veto letztlich als »Pyrrhussieg«. Vor aller Welt hatte sich das Reich mit dem Stigma der Aggression behaftet. »In der unangenehmsten Stimmung trennte sich die Konferenz, und die deutsche Delega­tion, deren Botschafter wie ein Fürst zur Konferenz gekommen war und dort anfänglich einen vielbesuchten Hof hielt, schied unbeachtet und ungegrüßt –außer von einigen Türken«, schrieb der Völkerrechtler Zorn.

Deutsche Nachkriegspolitiker sahen in der Reichspolitik auf der Haager Konferenz gar eine wesentliche Kriegsursache. So erklärte der Direktor im Auswärtigen Amt Walter Simons im Januar 1919: »Es hat die Welt mit Mißtrauen erfüllt, daß Deutschland die Entscheidung seiner Streitfragen nicht auf dem Wege der Gerechtigkeit, sondern auf der Spitze des Schwertes suchte und so die Atmosphäre geschaffen hat, die sich in immer neuen Kriegserklärungen entlud.« Und Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau verkündete am 14. Februar 1919 vor der Weimarer Nationalversammlung: »Wir erkennen an, daß die Stellung, die Deutschland bei den beiden Haager Friedenskonferenzen in den beiden grundlegenden Fragen der Schiedsgerichts- und Rüstungsfrage eingenommen hat, eine historische Schuld in sich schloß.«

In Wirklichkeit waren die gewaltigen Gegensätze unter den imperialistischen Mächten, die auf eine Neuaufteilung der Welt hinarbeiteten, 1907 bereits zu groß geworden, als daß sie durch Vereinbarungen oder Schiedsgerichte hätten ausgeglichen werden können. Alle Großmächte bereiten sich auf den kommenden Weltkrieg vor. Dessen Ausbruch 1914 verhinderte das Zustandekommen einer von den Befürwortern der Schiedsgerichtsbarkeit für 1915 geplanten dritten Friedenskonferenz.




Quellentext * Rosa Luxemburg: »Friedensutopien«


Die bürgerlichen Friedensfreunde sind bemüht – und das ist von ihrem Standpunkte ganz logisch und erklärlich –,allerlei »praktische« Projekte zur allmählichen Eindämmung des Militarismus zu ersinnen, sowie sie naturgemäß geneigt sind, jedes äußere, scheinbare Anzeichen einer Tendenz zum Frieden für bare Münze zu nehmen, jede Äußerung der herrschenden Diplomatie nach dieser Richtung beim Wort zu fassen und zum Ausgangspunkt einer ernsten Aktion aufzubauschen. Die Sozialdemokratie kann umgekehrt hier, wie in allen Stücken der sozialen Kritik, ihren Beruf nur darin erblicken, die bürgerlichen Anläufe zur Eindämmung des Militarismus als jämmerliche Halbheiten, die Äußerungen in diesem Sinne, namentlich aus Regierungskreisen, als diplomatisches Schattenspiel zu entlarven und dem bürgerlichen Wort und Schein die rücksichtslose Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit entgegenzustellen. Dies war z. B. das Verhalten unserer Partei auch der Haager Konferenz gegenüber. Während sie von Opportunisten verschiedener Länder mit dem üblichen kleinbürgerlichen Optimismus als ein segensreicher Ansatz zum Weltfrieden gepriesen wurde (...), hat die deutsche Sozialdemokratie für die holde Schöpfung des Blutzaren und seiner europäischen Kollegen nur den verdienten Hohn als für ein dreistes Possenspiel übriggehabt. (...)

Damit wäre klar zum Ausdruck gebracht, was den Kern der sozialdemokratischen Auffassung bildet: daß der Militarismus in seinen beiden Formen –als Krieg wie als bewaffneter Friede –ein legitimes Kind, ein logisches Ergebnis des Kapitalismus ist, das nur mit dem Kapitalismus überwunden werden kann, daß also, wer aufrichtig den Weltfrieden und die Befreiung von der furchtbaren Last der Rüstungen wolle, auch den Sozialismus wollen müsse. Nur auf diesem Wege läßt sich aus Anlaß der Abrüstungsdebatte wirklich sozialdemokratische Aufklärung und Werbearbeit leisten.

aus: Leipziger Volkszeitung, 6. Mai 1911 (zit. n. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd. 2, Berlin/DDR 1972, S. 493 f.)