Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommersemester 1995

Neue Geschichte: Hauptseminar: Deutsche und Britische Feindbilder im Ersten Weltkrieg

Dozent: Prof. Dr. Adolf M. Birke

 

 

 

 

Hausarbeit zum Thema:

 

Paul Fussel:

The Great War and Modern Memory

 

 

 

Von: Nikolaus Brauns

 

 

 

1. Einleitung: 3

2.Literatur und Lyrik als Quelle über den "Great War". 4

3. Einfluß und Sprache der Kriegserinnerung.. 6

4. Memoiren und Fiktion.. 7

5. Ironie als Element der Verarbeitung und Erinnerung.. 9

6. Naivität und Desillusionierung.. 10

7. Die Unendlichkeit des Krieges.. 12

8. Das Feindbild des britischen Soldaten.. 13

9. Gerüchte. 13

10. Trennlinien und Gegensätze. 15

11. Feldpost.. 16

12. Resumé. 17

13. Bibliographie. 18

 

 

 

 

1. Einleitung:

 

Bis heute sind englische Truppen nahezu permanent in Kriege und militärische Auseinandersetzungen verwickelt. Das Königreich kann auf eine breite Palette kriegerischer Erfahrung, von Cromwells Bürgerkrieg, über die Flottenpolitik zum Aufbau des Empires, über Waterloo, über die Schlachten zweier Weltkriege, bis zu den Kämpfen um die Falklandinseln und heute als UNO-Truppe in Bosnien zurückblicken. In der englischen Geschichtsschreibung, wie auch in der Literatur sticht aber besonders ein Krieg hervor: der Erste Weltkrieg. Wenn auch sicherlich der Zweite Weltkrieg in der Weltgeschichte einen wesentlich schrecklicheren Einschnitt hinterließ, mit Auschwitz, Stalingrad, Hiroschima und dem gewaltsamen Tod von 60 Millionen Menschen, so ist es doch der Erste Weltkrieg, der von den Engländern als "Great War" bezeichnet wird, als der Krieg aller Kriege, der die Nation im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat.

Der Literatur- und Kulturkritiker Paul Fussel hat sich intensiv dem Studium des "Great War" im nationalen britischen Mythos gewidmet. Fussel geht in der Untersuchung "The Great War and Modern Memory"[1] dabei nicht nur akademisch an die Quellen und Dokumente aus der Kriegszeit heran, sondern läßt auch seine eigene Erfahrung einfließen. Nicht nur die Widmung des Buches für einen im Zweiten Weltkrieg gefallenen Kriegskameraden drückt den subjektiven Hintergrund des Buches aus[2], auch lange detaillierte Beschreibungen über die Erfahrung des Grabenkrieges  zeugen von der persönlichen Erfahrung des Autors mit militärischen Belangen.

Fussels Buch unterscheidet sich sowohl in seiner Absicht, wie auch in seiner Herangehensweise an die Thematik von anderen Untersuchungen zur Literatur und Dichtung des Ersten Weltkriegs. So ist dieses Buch nicht primär literaturkritisch. Fussel erklärt: "This book is about the British experience on the Western Front from 1914 to 1918 and some of the literary means by which it has been remembered, conventionalized, and mythologigized. It is also about the literary dimensions of the trench experience itself."[3] Fussel versucht dabei die Dialektik von Kriegserleben und Literatur ebenso herauszuarbeiten, wie die Rückwirkung von Literatur auf die Sichtweite des Krieges. "I have tried to understand something of the simultaneous and reciprocal process by which life feeds materials to literature while literature returns the favor by conferring forms upon life."[4] Weiterhin ist es die Absicht des Autors, das Fortwirken im Great War entstandener Mythen auf die Erinnerung aufzuzeigen. Es geht letztendlich darum, wie der Erste Weltkrieg im öffentlichen Bewußtsein der Engländer aufgenommen und verarbeitet wurde und wie er dort weiterlebte. Dazu müssen natürlich diejenigen Autoren untersucht werden, die das Bild vom Great War in der Öffentlichkeit prägten und immer noch prägen.

Es sind im wesentlichen fünf Autoren, auf die sich Fussels Untersuchungen im Kern stützen.  Im Einzelnen handelt es sich bei der untersuchten Literatur um die  Gedichte von David Jones und Wilfried Owen sowie die Memoiren und autobiographischen Texte von Siegfried Sassoon, Robert Graves und Edmund Blunden. Deren Schriften sind, wie die Kriegsdichtung, sowohl unmittelbar im Krieg entstanden, aber auch, wie die autobiographische Aufarbeitung, in der Erinnerung an den Krieg in den Jahren dannach. Hinzu kommen modernere Romane und Schriften, die die Motive des Great War aufgreifen. Als Bekräftigung und Ergänzung der Werke und Memoiren der Kriegs-Autoren führt Fussel eine Vielzahl von persönlichen Erinnerungen und Privatdokumenten anderer, weniger bekannter Kriegsteilnehmer hinzu, die er den umfangreichen Archiven des Imperial War Museum in London entnommen hat. Gerade diese ursprünglich nicht für eine weitere Öffentlichkeit bestimmten Dokumente können dazu beitragen, den Wahrheitsgehalt der Dichtung und Literatur von Schriftstellern der Kriegszeit zu ermessen und auf eine Verallgemeinerung der beschriebenen Erinnerungen und Erfahrungen hinzuwirken. Für den Historiker ist die alltägliche Quelle, der private Brief von der Front, oft zuverlässiger, als die künstlerisch veränderte Erinnerung eines Dichters mit Fronterfahrung. Es sollen hier auch weniger die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen, die Fussel in seinem Werk ausführlich behandelt, dargestellt werden, sondern vielmehr die für den Historiker interessanten Elemente. So muß die Frage gestellt werden, wieweit die Memoirenliteratur und Kriegsdichtung, die Fussel verwendet, als historische Quellen dienen können. Auch sollen einige Motive der literarischen Verarbeitung des Great War aufgezeigt werden.

 

 

2.Literatur und Lyrik als Quelle über den "Great War"

 

Der Literaturkritiker Fussel hat mit "The Great War and Modern Memory" ein Buch geschrieben, das nicht nur vom literaturgeschichtlichem Standpunkt aus, sondern auch gerade für den Historiker interessant ist. Fussel stellt in seinen Untersuchungen dar, wie das Bild vom Ersten Weltkrieg durch die Schriftsteller und deren Gedichte und Memoiren aus der Kriegszeit geprägt wurde. Es kann kein Zweifel bestehen, daß für alle diejenigen Menschen, die den Krieg nicht aktiv als Soldat erlebten, sei es als Zivilisten in der Heimat, sei es, weil sie einer späteren Generation angehören, die unterschiedlichen Formen von Literatur den entscheidenden Zugang zum Krieg boten und bieten. Insbesondere für unsere Zeit trifft es zu, daß wir primär auf schriftliche Quellen angewiesen sind. Es ist daher für den Historiker notwendig, quellenkritisch an das überlieferte Material heranzugehen. Einen wichtigen Schritt hat Fussel getan, indem er seine Untersuchung auf ein weites Feld von Dokumenten stützte, die von den unterschiedlichsten Menschen zum unterschiedlichsten Zweck und Zeitpunkt verfaßt wurden. So lassen sich viele Thesen verallgemeinern, wenn offensichtlich wird, daß eine Beobachtung von verschiedenen Menschen geteilt wird. Dennoch baut Fussel sein Buch um die für ihn als zentral erscheinenden Werke der bekannten Kriegsautoren auf. Um den Realitätsgehalt von deren Schriften zu erschließen, ist es notwendig, die Gruppe der Kriegsdichter, und -schriftsteller soziologisch zu betrachten. Erinnerung an den Krieg ist immer persönlich. Sie ist geprägt von Herkunft, Erziehung und Erfahrung.

George Parfitt stellt seiner neueren Untersuchungen von englischer Dichtung des Ersten Weltkrieges einige Informationen und Überlegungen zur Person des "wartime poet" voran.[5] So haben soziologische Untersuchung von knapp 200 Kriegsdichtern ergeben, daß die überwiegende Mehrzahl von ihnen unter 30 Jahre alte Subalternoffiziere waren. 75% der Dichter mit einer höheren Schulbildung hatten in Oxford oder Cambridge studiert und nur einer von 20 konnte eine Herkunft aus der Unterschicht aufweisen.[6] Parfitt betont daher: "Such information underpins the stereotype, and it is important to keep this picture in mind, since it inevitably influences the overall view of war as represented in the poetry. The war, as seen by young officers of privileged background, is likely to be a picture defined by the social shaping of such men."[7]

Es ist verständlich, daß ein Angehöriger der Mittel-und Oberklasse mit einer guten akademischen Bildung ganz anders an die Erfahrung des Krieges herangeht und auch als Subalternoffizier partiell andere Erfahrungen macht, wie ein Angehöriger der unteren Klassen mit einem Mannschaftsdienstgrad. Parfitt bemerkt dazu: "The subaltern shared the rigours of front-line experience with NCOs and rankers, but his experience could hardly be the same: he had privileges and he had the specific responsibilities of his rank.. Moreover, his perceptions of experience would also be different, since he had a different social context. ... The subaltern also, most importantly, lived in the context of the front line and can, in fact, be seen as a vital link in the Army hierarchy: physically in close contact with men of very different backrounds to his own, while socio-culturally close to Staff."[8] Gerade in der Kriegsdichtung zeigt sich aber auch, daß eben nicht nur der sozio-kulturelle Hintergrund entscheidend ist. So führte die Fronterfahrung dazu, daß eine neue Spaltung die Spaltung nach Dienstgraden und Gesellschaftsklassen im Bewußtsein der Truppe überlagerte. Auf der einen Seite standen nun die kämpfenden Truppen und Offiziere, darunter die meisten Kriegsdichter, auf der anderen Seite waren die nichtkämpfenden Einheiten, also der Stab und rückwärtige Truppen.[9]

Fussel  erwähnt im Vorwort, daß das Bild vom Ersten Weltkrieg im Wesentlichen durch den Stellungskrieg in den Schützengräben der Westfront geprägt wurde. Daher beschränken sich seine Untersuchungen auch in der Hauptsache auf diese Front des Krieges und hier wiederum auf die britische Infantrie. Andere Kriegsschauplätze in Afrika oder dem Nahen Osten, sowie die See-und Luftstreitkräfte bleiben ausgespart. Fussel erklärt ausdrücklich, er wolle die literarischen Motive herausarbeiten, die in Zukunft einmal als "The Matter of Flanders and Picardy" gelten könnten.[10] Daß unser Bild vom Ersten Weltkrieg tatsächlich von der Westfront geprägt ist, liegt sicherlich auch daran, daß die Kriegsdichter in ihrer übergroßen Mehrheit der Army angehörten und nicht den See-und Luftstreikräften.

Wie nahezu alle Untersuchungen über Kriegsliteratur und Dichtung befaßt sich Fussel ausschließlich mit den Schriften von Männern, obwohl es durchaus eine ganze Reihe von Dichterinnen gab. Auch Parfitt kritisiert diese Ignoranz weiter Teile der Literaturwissenschaftler, die Autorinnen in ihren Untersuchungen und Anthologien weitestgehend auszusparen: "Women experienced the war in a number of ways, and to ignore or marginalise their war is distortion if the complete record."[11] Fussel muß, obwohl ihn Parfitt nicht ausdrücklich nennt, hier auch kritisiert werden. Zwangsläufig wird das von ihm dargestellte Bild vom Krieg dadurch bis zu einem gewissen Grad einseitig. Der Vorwurf trifft um so mehr, als daß sich Fussel ein ganzes Kapitel lang mit homoerotischen Tendenzen in der Truppe und der englischen Literatur befaßt, mit keinem Wort aber auf das häufige Motiv der Frau in der Kriegsdichtung eingeht, geschweige denn die Sichtweise von Frauen über den Krieg erwähnt.[12] Eine Anthologie mit Kriegsdichtung von Frauen erschien dann auch erst 1981, herausgegeben von Catherine Reilly.[13]

Fussel hat zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, daß für ihn die Infanterie der Westfront im Mittelpunkt steht, das daraus entstehende Bild vom Great War muß dann aber als partiell gewertet werden, da sonst ein für den Historiker falscher Eindruck entsteht. "Modern Memory" ist daher auch nicht gleich die Realität, sondern nur die Teilrealität von denjenigen, die sie schaffen und denen es gelingt, ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit durchzusetzen. Und das waren in diesem Fall eben jene jungen, gebildeten Infanterieoffiziere von der Westfront.

 

 

3. Einfluß und Sprache der Kriegserinnerung

 

Jon Silkin, der sich intensiv mit der Kriegsdichtung befaßt hat, führt einen Grund an, warum letztendlich nicht allein die Herkunft und der militärische Rang das Werk eines Dichters prägt: "There is not always a simple and direct correlation between the immediate social position of a poet and his work; some of his influences will come not only environmentally but in relation to other writers, and then, not only in relation to poets contemporary with him, but also in relation to such a literary tradition as he interprets it and it is evaluated by others."[14]

Es ist gerade in diesem Zusammenhang Fussels großer Verdienst, nicht nur die Kriegspoesie und Literatur zu betrachten, sondern auch aufzuzeigen, welche literarischen Einflüße und Traditionen die Schriftsteller und Dichter, aber auch den einfachen Soldaten geprägt haben.

Die Soldaten des Ersten Weltkrieg standen, wenn sie ihre Erfahrungen und Gefühle beschreiben wollten, vor dem Problem, noch nie Erlebtes in der bekannten Sprache ausdrücken zu müssen. Für die Beschreibung der neuen Situation griffen die Dichter des Krieges daher fast automatisch auf Beispiele der traditionellen englischen Literatur und ihrer Motive zurück. Dies lag umso näher, da der Great War auch ein "Literary War" war. Zum einem waren viele Dichter und Schriftsteller nun als Soldaten an der Front, zum anderen bot das Abwarten im Stellungskrieg für die Truppe die Möglichkeit, vielfältige Literatur zu lesen, die problemlos aus der Heimat zu bekommen war. Ein Buch, dem laut Fussel besondere Bedeutung zukommt, ist das "Oxford Book of English Verse"[15], das den Truppen nicht nur Stoff für Liedertexte lieferte, sondern auch Standardmotive -und Formulierungen: "What could be more English than have Milton help one write a descoption of the aftermath of an aborted attack? And what could be more English than to call upon Milton to help one conceive of that dread scene in terms suggesting the antithetical world of pastoral?",[16] beschreibt Fussel die Vorgehensweise der Männer. Literatur und Poesie dienten den Soldaten dazu, die Kriegserfahrungen zu verarbeiten und in Worte zu fassen. Dieser Hintergrund, der gewiß auf die Dichter, aber auch auf viele der einfachen Soldaten zutraf, muß beachtet werden, wenn Erinnerungen aus dem Krieg als historische Quelle benutzt werden. Fussel bemerkt, daß nur ein komplett unbelesener Mensch in der Lage sein konnte, die Wahrheit über ein Kriegserlebnis zu berichten. Bei den belesenen Soldaten wurden Ereignisse häufig nicht in den eigenen Worten wiedergegeben, sondern mit den aus Zeitungen und Büchern gewohntem Formulierungen.[17]

 

 

4. Memoiren und Fiktion

 

Zu den bekanntesten Memoiren britischer Weltkriegsteilnehmer gehören die Werke "The Memoirs of George Sherston" von Siegfried Sassoon und "Good-bye to All That" von Robert Graves. Diese Schriften unterscheiden sich von der meisten anderen autobiographischen Literatur von Veteranen schon dadurch, daß ihre Autoren Schriftsteller und Dichter sind. Gerade in einem solchen Fall muß aber auch gefragt werden, wieweit wir es noch mit Autobiographien zu tun haben, und wo es zu künstlerisch veränderter Fiktion mit autobiographischem Kern wird. Hiervon hängt zu einem erheblichen Teil der Wert dieser Bücher als Quellen ab. Fussel hat hier keinerlei Illusionen, sondern vertritt: "As we have seen, the memoir is a kind of fiction..."[18] Alle drei Autoren hatten vor ihren autobiographischen Texten lediglich Lyrik geschrieben.

In seinen einzelnen Untersuchungen zeigt Fussel auf, wie weit eine künstlerische Motivation den Hauptcharakter dieser Schriften ausmachen. Gerade im Fall von Sassoons "The Memoirs of George Sherston" wird der fiktionale Charakter mit autobiographischen Elementen deutlich. Sassoon hat nicht nur Elemente der Handlung modifiziert, selbst der Akteur in seine Werk hat einen anderen Namen. Es war allerdings gerade die Absicht Sassoons, möglichst die Realität abzubilden, die ihn dazu brachte, dem Akteur einen anderen Namen und andere Eigenschaften zuzuschreiben. Möglichst viele Leser sollten sich mit der Hauptfigur identifizieren. In der Einleitung einer Auswahl von Texten Sassoons beschreibt der Herausgeber Fussel die Motivation des Schriftstellers: "What he has done in the Memoirs of George Sherston is to objectify onehalf of the creative leading this double life, the half identificable as the sensitive but midless Athlete, and seperate it from the other half, that of the much-crosseted aspirant poet, taken up by Lady O'Holine Morell, Robert Ross, and other useful figures of the salons. Aestheticism, the actual milieu of his family and frieds, vanishes from George Sherston's story. Evelyn replaces his actual mother and aunt and uncle, respectively painter, editor, and sculptor. Why does he jettison this pateresque aspect of himself and his environs? Because, I think, he hopes to show the effect of the war on more representative and ordinary man, not the man of sensibility and privilege he actually was - rich, literary, musical, arty, careerist."[19]Offensichtlich hat Sassoon hier größere Eingriffe und Kunstgriffe vorgenommen. Mag sein, daß beim Durchschnittsleser so mehr Verständnis für die Kriegserfahrung geweckt wird, als objektive Quelle kann so ein Werk nicht gelten. "Memoiren" dieser Art sollten, wie von Fussel gefordert, als Fiktion betrachtet werden, der Historiker kann die autobiographischen Elemente, die zweifelsohne in großem Maße enthalten sind, herauszuarbeiten.

Bei Graves' "Good-bye to All That" wird der nicht-wahrheitsgetreue Charakter nicht so unmittelbar wie bei Sassoon sichtbar. Vielmehr hat Graves autobiographische Elemente aufgenommen, sie jedoch literarisch verändert. Sein Ziel war es, beim Leser Interesse und Spannung zu erzeugen. Hierzu erzählt er einzelne Geschichten und Anekdoten, die er theatralisch ausbaut und übertreibt. Fussel urteilt: "A poet, we remember Aristotele saying, is one who mastered the art of telling lies successfully, that is dramatically, interestingly. And what is a Graves? A Graves is a tongue-in cheek neurasthenic farceur whose material is 'facts.'"[20] Fussel stellt dar, daß es sich bei "Good-bye to All That" um ein drehbuchartiges Arrangement von Geschichten mit autobiographischem Kern, nicht aber um echte Memoiren handelt.[21]

Anhand dieser Beispiele zeigt sich, wie falsch ein unkritischer Leser liegen würde, der in den Memoiren die reine, wenn auch subjektiv erfahrene Wahrheit vermutet. Es stellt sich generell die Frage, wieweit Dichter als zuverlässige Quelle für historische Ereignisse dienen können. Wenn sich schon der durchschnittliche Dichter im Ersten Weltkrieg von seinem soziologischen Hintergrund und seinem militärischen Rang her von der Masse der Kriegsteilnehmer unterschied, so ist es auch fraglich, ob Künstler an sich gute Zeugen für die Vergangenheit sein können. In der Einleitung zu einer Anthologie mit Gedichten des Ersten Weltkrieges weisen die Herausgeber Hibberd und Onion auf diese Tatsache hin: "It is possible only in a limited sense to regard poets as witnesses to history. They can convey their own experiences more vividly than any historian, but they are individualists and they create as well as perceive. The best poetry of the Great War is necessarily not typical; the most useful historical evidence is often to be found in mere 'verse', even though the dead weight of conventional forms and diction no doubt prevented many versifiers from expressing their full thoughts."[22] Eine gewisse Kritik gegenüber dem Dichter oder Schriftsteller als Zeitzeugen ist also angebracht. Gleichwohl stellen auch künstlerische Kriegserinnerungen einen wichtigen Bestandteil der Quellen dar. Der Historiker muß nur die Gefahren kennen, die entstehen, wenn allein aus diesen Schriften ein realistisches Bild des Weltkrieges gezeichnet werden soll. Es ist aber keineswegs ein Fehler, Lyrik und auch Prosa, die nicht vollständig autobiographischen Charakter besitzt, für die Erforschung der Geschichte heranzuziehen. Quellengattungen, die für die Geschichte des Altertums als normal gelten, sollten bei der Geschichte unseres Jahrhunderts auch nicht vernachläßigt werden.

 

 

5. Ironie als Element der Verarbeitung und Erinnerung

 

Fussels Untersuchung geht von der Hypothese aus, daß es in der Dichtung und Literatur des Great War Standardelemente, und -motive gibt, die in der Erinnerung ein relativ einheitliches Bild entstehen lassen. Im Folgenden sollen einige dieser Elemente, die die Kriegsliteratur prägen, dagestellt werden.

Hier führt Fussel den Begriff der "irony" ein. Ironie als Stilmittel bedeutet, mit spöttischem Unterton das Gegenteil von dem zu meinen, was man sagt. Ironisch im weiteren Sinn ist auch ein Ereignis, das die gegenteilige Wirkung hervorruft, die es eigentlich beabsichtigt hat, oder wenn die Mittel in starkem Gegensatz zu einem angestrebten Ziel stehen.

"The irony which memory associates with the events, little as well as great, of the First World War has become an inseparable element of the general vision of war in our time"[23] so Fussel. Diese "irony" ist nicht nur ein durchgehendes Element in der mentalen und literarischen Verarbeitung des Krieges, sie ist geradezu kennzeichnend, so Fussels These, für die heutige Denkweise: "I am saying that there seems to be one dominating form of modern understanding; that it is essentially ironic; and that it originates largely in the application of mind and memory to the events of the Great War."[24]

Mit dem Dichter Thomas Hardy beginnt Fussels "The Great War". In der November 1914 erschienen Gedichtesammlung "Satires of Circumstance" verarbeitet Hardy noch nicht den aktuellen Krieg, sondern seine eigene Erfahrung von 1870. Für Fussel tragen aber genau diese Gedichte mit ihrem ironischen Umgang mit dem Tod für das grundlegende Verständnis der "mortal irony" bei, die prägend für die britische Mentalität der Kriegsjahre werden sollte.[25] Der Krieg an sich ist für Fussel so eine Ironie. "Every war is ironic because every war is worse than expected. Every war constitutes an irony of situation because its means are so melodramatically disproportionate to its presumed ends."[26] Wenige Schüsse in Sarajevo führen in der Konsequenz zum Tod von Millionen Menschen. Die Schlacht an der Somme, die den Krieg beenden sollte, führt zur Desillusionierung der Truppen, die erkennen, daß der Schrecken nun erst recht beginnt.

Durch den Gebrauch von Ironie versuchen die Menschen, ihre Angst und Unsicherheit zu überspielen. Hoffnung ist so in aussichtslosen oder unbekannten Situationen mit Ironie gepaart. Die besondere Ironie des Ersten Weltkrieges liegt für Fussel in der besonderen Naivität und Unschuld der Briten zu Beginn des Krieges. [27]

 

 

6. Naivität und Desillusionierung

 

Die Quellen, die Fussel auswertet, sind in der großen Mehrzahl von Angehörigen der kämpfenden Truppe im Stellungskrieg an der Westfront verfaßt worden. Es handelt sich hier sowohl um Memoirenliteratur wie auch Gedichte und Briefe, sowohl von Schriftstellern in Uniform, wie auch von weniger gebildeten Soldaten. Für die psychische wie auch die literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses ist nun entscheidend, wie der Soldat sich und den Krieg als solchen einschätzte und welche Veränderungen die konkrete Erfahrung des Krieges in diesem Bild bewirkte.

Seit 1871 hatte es keinen Krieg zwischen den Großmächten auf dem Kontinent mehr gegeben. England war schon ein Jahrhundert lang in keinen größeren Krieg verwickelt worden. Bis in die ersten Monate des Krieges hinein galt der englische Soldat nicht einfach als Soldat, sondern "warrior". Das Bild dieses Kriegers war geprägt durch die großen Ritter-und Abenteuerromane, ausgehend vom Mythos der Ritter der Tafelrunde um König Arthur.[28] Die Tugenden des "Newbolt Man" waren es, die den britischen Soldaten in der öffentlichen Meinung auszeichneten: "honorable, stoic, brave, loyal, courteous - and unaesthetic, unintellectual and devoid of wit."[29] Im Gegensatz zu den Truppen des Feindes galten die englischen Soldaten als charakterstarke Individualisten, die nicht in der Masse, sondern im Team handelten.

Das Bild des Krieges vor dem Great War war das eines großen "Game", in dem es um Ruhm und Ehre ging.[30] Fussel führt an, wie noch während des Krieges der "Sportsgeist" der englischen Truppen aufrechterhalten wurde, indem beim Sturm auf die gegnerischen Gräben ein Fußball mitgespielt wurde. Für den englischen Soldaten zeigte dann gerade der erstmalige Einsatz von Giftgas auf deutscher Seite, daß der Gegner ein vollkommen anderes "Spiel" verfolgte, in dem nicht mehr Ruhm und Ehre des Einzelnen, sondern Massenvernichtung und Anonymität zählten.[31]

Fussel führt den Begriff der "innocence" an, um die Mentalität sowohl der Soldaten, wie auch der Zivilisten zu Beginn des Weltkrieges zu beschreiben. Noch wurde der Krieg als "fair-play" betrachtet, in dem sich glorreiche Kämpfer für die Heimat ihre Orden verdienen. Es war für den Durchschnittssoldaten noch nicht zu erahnen, welche neuen technologischen Schrecken und Massenvernichtungsmittel in diesem Krieg drohen sollten. Die Verwendung von Tanks und Giftgas stand noch bevor. Insbesondere der Einsatz des Maschinengewehrs signalisiert für Fussel die neue Ära der Kriegsführung: "Out of summer, 1914, marched a unique generation. It believed in Progress and Art and in no way doubted the beginning even of technology. The word machine was not yet invariably coupled with the word gun."[32] Und:"The war will not be understood in traditional term: the machine gun alone makes it so special and unexampled that it simply can't be talked about as if it were one of the conventional wars of history."[33] Die Naivität der Briten zeigt sich auch in dem festen Glauben, der Krieg würde nur zu einem kurzen ruhmreichen Festlandausflug.

Es war die Schlacht an der Somme, die die britischen Truppen am 1. Juli 1916 endgültig ihre Unschuld verlieren ließ. "That moment, one of the most interesting in the whole long history of human disillusion, can stand as a type of all the ironic actions of the war.", so Fussel.[34] Die Schlacht wurde, wie vielfältige Memoirenliteratur und Briefe von der Front belegen, als die letzte und somit entscheidende Schlacht vor dem Sieg angesehen. Das Erlebnis der Schlacht selbst machte dann aus "Kriegern" Soldaten, aus dem "Spiel" wurde blutiger Ernst. Jeder Teilnehmer mußte sich nun über die Art und Dauer des Krieges klarwerden. Der Schriftsteller Blunden erkennt: "By the end of the day both sides had seen, in a sad scrawl of broken earth and murdered men, the answer to the question. No road. No thoroughfare. Neither race had won, nor could win the War. The War had won, and would go on winning."[35]

 

 

 

7. Die Unendlichkeit des Krieges

 

Von der naiven Hoffnung auf den großen endgültigen Durchbruch durch die deutschen Linien blieb seit der Somme-Schlacht nichts mehr übrig. Je länger sich der Stellungskrieg an der Westfront hinzog, desto mehr schwand auch der Glaube an ein  absehbares Ende des Krieges überhaupt. Für die kämpfenden Truppen wurde Krieg zu einem scheinbar festen Bestandteil des 20.Jahrhunderts, zu einer Normalität. Die "innocence" hatte sich in ihr Gegenteil gewandelt. In der Memoirenliteratur der Schriftsteller Edmund Blunden wie Robert Graves und Siegfried Sassoon findet sich der Glaube, der Krieg könnte ewig andauern. Graves erklärte so: "We held two irreconcilable beliefs: that war would never end and that we would win it."[36]

Für Fussel bestätigt sich diese Vorstellung eines andauernden Krieges: "The way the data and usages of the Second War behave as if 'thinking in terms of' the First is enough almost to make one believe in a single continuing Great War running through the whole middle of the twentieth century. Churchill and the Nazi Alfred Rosenberg had their differences, but both found it easy to conceive of the events running from 1914 to 1945 as another Thirty Years' War and the two world wars as virtually a single historical episode."[37] Es kann mit dem Begriff des "Great War" letztendlich auch das 20.Jahrhundert selber gekennzeichnet werden: So folgten auf den Ersten Weltkrieg der Spanische Bürgerkrieg, der Zweite Weltkrieg, der Korea-Krieg, der Vietnam-Krieg bis hin zu den kriegerischen Auseinandersetzungen der heutigen Zeit. "Thus the drift of modern history domesticates the fantastic and normalizes the unspeakable. And the catastrophe that begins is the Great War."[38] Letztendlich kann Fussel hier zugestimmt werden. Unser Jahrhundert ist eine tatsächliche Folge von Kriegen, deren Grundlagen mit dem Ersten Weltkrieg gelegt wurden. In diesem Krieg begannen die Großmächte erstmals die Schlacht um die Weltgeltung, in diesem Krieg wurde durch die Russische Revolution auch die Ursache der Systemauseinandersetzung gelegt, die sich in  Vietnam und Korea entluden. Nachdem nicht nur die Briten ihre "innocence" durch das Erlebnis des Ersten Weltkrieges verloren hatten, wurde der technisierte Massenkrieg zur permanenten Erfahrung des 20.Jahrhunderts.

 

8. Das Feindbild des britischen Soldaten

 

Das Denken in strikten Schwarz-Weiß-Schemen ist für Fussel kennzeichnend für die Moderne und insbesondere den Great War. Alle Dinge lassen sich auf zwei Seiten vereinfachen. Es gibt nur noch "Uns" und "den Feind": "'He' is the Communist's 'Capitalist', 'Hitler's Jew, Pound's Usurer, Wyndham Lewis's Philistine, the Capitalist's Communist."[39] Daß eine solche Denkweise in Feindbildern typisch für das 20.Jahrhundert ist, erscheint sehr vereinfacht. Es ist wohl eher so, daß sich in jedem Krieg mit seinen klaren Fronten und seinen Kämpfen um Leben und Tod  eine solche Trennung von selbst ergibt. In unserem Fall ist jedenfalls von Interesse, welche Art von Feindbild und welchen Schematismus im Denken es im Ersten Weltkrieg gab.

Wie der englische Soldat sich selstr sah, wurde schon aufgezeigt. Der "Hun", wie der deutsche Gegner genannt wurde, war im Feindbilddenken der Briten der genaue Gegenpart hierzu. Im Stellungskrieg in den Schützengräben kam es normalerweise nur in der Dämmerung morgens und abends zu Feindberührung. Es gab also so gut wie keine Gelegenheit, den Gegner deutlich bei Tageslicht zu sehen. Dieser besondere Umstand der Kriegsführung trug zu dem Bild bei, daß sich die britischen Truppen von den Deutschen machten. "Living in the 'other' land, 'the strange land that we could not enter, the 'garden over the wall' of the nightmare,' as one soldier remembers, it is no wonder that the enemy took on attributes of the montrous and grotesque."[40] Schon bloße und zufällige Äußerlichkeiten gerieten zu feindlichen Attributen. Allein die Form des deutschen Stahlhelmes schien alle Vorurteile vom "Hun" bestätigen. Während der englische Helm einem Bowler-Hut ("Melone") ähnelte und so die gutbürgerliche Normalität zu reflektieren schien, war der deutsche Helm "serious" und "Gothic".[41] Für die Andersartigkeit des deutschen Gegners sprach letztendlich sogar, daß sie Schwarzbrot in den Schützengräben aßen, während die Engländer Weißbrot hatten.

 

9. Gerüchte

 

In jedem Krieg gibt es unzählige Gerüchte. Für den Grabenkrieg an der Westfront trifft dies verstärkt zu, da der tatsächliche Feind nur selten zu sehen war und gleichzeitig nur zensierte oder falsche Nachrichten über den Kriegsverlauf zu den Truppen gelangten. "The result was an approximation of the popular psychological atmosphere of the Middle Ages, where rumor was borne not as now by ration-parties but by itinerant 'peddlars, jugglars, pilgrims, beggars'."[42] Fussel führt einige dieser Gerüchte an, die sich häufig zur Propaganda gegen den deutschen Feind entwickelten und dessen besondere Grausamkeit und Schlechtigkeit betonten. Insbesondere das Gerücht über den von deutschen Soldaten "gekreuzigten Kanadier" war weitverbreitet und tauchte in den Erinnerungen sowohl des Ersten, wie auch des Zweiten Weltkrieges auf.[43] Zu der Vorstellung einer solchen Greueltat hatten die in Flandern überaus zahlreichen Weg- und Gebetskreuze beigetragen, die für die protestantischen Engländer neu und ungewohnt waren. Auch spielte bei diesem Gerücht die religiöse Komponente, die Erinnerung an den gekreuzigten Christus, eine wichtige Rolle, um den Gegner als das Böse schlechthin, als den Antichrist,  erscheinen zu lassen.

Vermutlich durch die falsche Übersetzung des deutschen Wortes "Kadaver-Anstalt", also einer Sammelstelle für Tierleichen, entstand das wilde Gerücht von der Existenz deutscher "Corpse-Rendering Works" zur Fettherstellung. Hier, so hieß es, würden aus den Leichen gefallener Soldaten Fette gewonnen.[44] Als diese Gerüchte im ersten Weltkrieg aufkamen, war noch nicht zu erahnen, daß die Deutschen im nächsten Krieg tatsächlich die Brutalität aufbrachten, ermordete KZ-Häftlinge zu Seife zu verarbeiten. Wenn solche Gerüchte schließlich als bloße Greuelpropaganda entlarvt werden, tragen sie aber auch zu weitverbreiteten Unglauben selbst bei wahren Nachrichten bei. Diese Folgen von Lügenpropaganda waren, so Fussel, noch im nächsten Weltkrieg zu spüren."No one can calculate the number of Jews who died in the Second War because of the ridicule during the twenties and thirties of Allied propaganda about Belgian nuns violated and children sadistically used. In a climate of widespread scepticism about any further atrocity stories, most people refused fully to credit reports of the concentration camps until ocular evidence compelled belief and it was too late."[45]

Aus der Unsicherheit der Schützengräber entstand das Gerücht vom Geist eines deutschen Offiziers, der hinter den britischen Linien spionierte und dann verschwand und Zivilisten wurden verdächtigt, mit geheimen Zeichen Kontakt zum Gegner aufzunehmen.[46]

Eine Legende, die gleich die Elemente mehrerer Gerüchte beinhaltet, ist für Fussel die Geschichte einer Armee von Deserteuren zwischen den Fronten. "The rumor was that somewhere between the lines a battalion-sized (some said regiment-sized) group of half-crazed deserteurs from all the armies, friend and enemy alike, harbored underground in abandoned trenches and dugouts and caves, living in amitiy and emerging at night to pillage corpses and gather food and drink."[47] In dieser Vorstellung spiegelt sich, so Fussel, die Erkenntnis der Soldaten über ihre eigene Verrohtheit im Grabenkampf wieder, aber auch die pazifistische Erkenntnis, daß nicht Deutsche und Briten Gegner sind, sondern beide Völker Opfer des Krieges.[48]

 

10. Trennlinien und Gegensätze

 

"Simple antithesis everywhere. That is the atmosphere in which most poems of the Great War take place, and that is the reason for the failure of most of them as durable art."[49], so Paul Fussel über die Kriegsdichtung. Nicht nur zwischen Deutschen und Briten verlief eine strikte Trennlinie. Vielmehr ist das Denken und die Empfindung in der Kriegssituation an sich durch eine Vielzahl scharfer Spaltungen und unversöhnlicher Gegensätze gekennzeichnet.

Ein Standardmotiv in der Memoirenliteratur ist der Gegensatz vom aus der Erinnerung heraus immer als besonders idyllisch beschriebenen Vorkriegssommer 1914 und dem Krieg. Der Kriegsbeginn symbolisierte zugleich das Ende einer als romantisch und ruhig empfundenen Vergangenheit: "For the modern imagination that last summer has assumed the status of a permanent symbol for anything innocently but irrecoverably lost. Transferred meanings of 'our summer of 1914' retain the irony of the original, for the change from felicity to desapair, pastoral to antipastoral, is melodramatically unexpected."[50] Ausgehend von dieser klassischen Trennlinie des 4. August 1914 ergaben sich vielfältige weitere Unterteilungen. So kann die schon geschilderte Erfahrung der Somme-Schlacht als der Verlust der britischen "innocence" gesehen werden und stellte in der Erinnerung der Kriegsveteranen solch einen Bruch zwischen dem noch als heroisch empfundenen Krieg und der brutalen Wirklichkeit dar. Nicht nur große Zeitspannen waren scharf und antithetisch voneinander getrennt. Auch der normale Tagesverlauf im Schützengraben bestand aus diesem Schematismus. Es gab nur Freund und Feind, das eigene bekannte Terrain und das unbekannte Gebiet des Feindes, die Trennung von Tag und Nacht durch die Dämmerung, die gewöhnlich als Zeitpunkt des Angriffes diente.

Neben dem militärischen Gegner, den deutschen Truppen, gab es innerhalb der englischen Nation und den Soldaten weitere scharfe Spaltungen. In der englischen Armee trafen die Auswirkungen militärischer Hierarchie mit den Erfahrungen des gesellschaftlichen Klassensystems zusammen. Die verschiedenen Uniformen trennten den Stab von den Frontoffizieren, die Offiziere von den Mannschaften. Die höheren Offiziersränge wurden von Angehörigen der Oberklasse besetzt, die sich von den normalen Soldaten oftmals in Sprache und Auftreten abhoben.

Für den Schriftsteller Siegfried Sassoon erschienen die Unterschiede zwischen dem Stab und der Front ebenso groß, wie die zwischen den militärischen Gegnern.[51] Es waren nicht nur die Unterschiede von Rang und Uniform, vielmehr lagen Welten zwischen der Kampferfahrung der Truppe an der Front und den sicheren Kommandozentralen im Rückland und in England. Die Stabsoffiziere waren diejenigen, die, ohne sich selber in Gefahr zu begeben, das weitere Schlachtgeschehen planten und nach Meinung der Truppe für das Andauern des Krieges verantwortlich waren.

Die Spaltung zwischen Truppen und Stab entsprach auch einer allgemeinen Spaltung der Briten in diejenigen, die die Erfahrung der Front hatten und diejenigen, die den Krieg nur in England erlebten. Die nichtkämpfenden Zivilisten wurden, ebenso wie der Stab, als Gegner der Truppe empfunden. Die Kriegserfahrung war in der Heimat jedoch auch kaum zu vermitteln: "But even if those at home had wanted to know the realities of war, they couldn't have without experiencing them: its conditions were too novels, its industrialized ghastliness too unprecedented. The war would have been simply unbelievable. From the very beginning a fissure was opening between the Army and civilians."[52]

Insbesondere Sassoons Kriegserinnerungen sind durchzogen vom Bewußtsein dieser Frontenbildung und er steigert sich in offenen Haß, wenn er in einem Gedicht beschreibt, wie die siegreichen britischen Truppen nach dem Krieg ihre Gewehre gegen die Zivilisten in der Heimat richten, die zwar patriotisch sind, vom Krieg in Wirklichkeit aber keine Ahnung haben. Das Gedicht "Fight to a Finish" endet mit der Absichtserklärung: "To clear those Junkers out of Parliament."[53] Hier sitzt der echte Feind der britischen Truppen, die eigene Regierung wird als Verantwortlicher für den Krieg gesehen. Die englische Nation war durch den Krieg tief gespalten in Zivilisten und Soldaten, in Offiziere und Mannschaften, in Frontkämpfer und rückwärtige Truppen.

 

11. Feldpost

 

Es war eine Besonderheit des Ersten Weltkrieges, daß die Front für die Briten fast vor der Haustüre lag. Den Fronturlaub konnten die Soldaten häufig in der Heimat verbringen und es bestand ein ständiger Briefverkehr in beide Richtungen. Auch Literatur und Geschenke konnten innerhalb von wenigen Tagen an die Front geliefert werden.[54] Dennoch, oder gerade deswegen, empfanden die Truppen häufig ein Unwohlsein in der Heimat, da sie spürten, daß man ihr Kriegserlebnis dort nicht versteht. Robert Graves äußerte sich darüber in einem Interview: "The funny thing was you went home on leave for six weeks, or six days, but the idea of being and standing at home was aweful because you were with people who didn't understand what this was all about."[55] Es war nicht nur die fehlende Erfahrung der Zivilisten, es bestand auch die besondere Problematik, das Erlebte verständlich auszudrücken bei den Soldaten: "The problem was less one of 'language' than of gentility and optimism; it was less a problem of 'linguistics' than of rhetoric."[56]

 Eine strikte Zensur lag über der Truppenpost und verschärfte das Informationsdefizit der Zivilisten. Auch das Gefühl der Soldaten, ihre Angehörigen würden sie sowieso nicht verstehen und nur beunruhigt werden, führte zum häufigen Gebrauch von Euphemismen und Lügen über die tatsächliche Lage an der Front. "Clearly, any historian would err badly who relied on letters for factual testimony about the war.", bemerkt Fussel über die Feldpost richtig, wenngleich er auch erwähnt, daß gerade diese Briefe der Mannschaften nach Hause, die in diesem besonderen "British Phlegm"-Stil geschrieben sind, nicht nur eine historische Quelle, sondern schon fast eine eigene Literaturgattung darstellen.[57] Mit inhaltslosen Phrasen versuchten die Soldaten, ihren Angehörigen zu suggerieren, alles wäre in Ordnung und der Krieg eigentlich eine reine Nebensache, die sie nicht im Geringsten erschüttere.

Eine Institutionalisierung erfuhr diese Art von nichtssagenden Briefen durch den Gebrauch der "Field Service Post Card". Der Absender durfte nur noch zwischen wenigen, vorgedruckten  Phrasen auswählen und diese ankreuzen oder ausstreichen. Es war unmöglich, etwas Persönliches zu sagen, oder Details über den Krieg zu berichten. Die Karte war nur dazu geeignet, den Angehörigen zu signalisieren, daß man noch lebte. Die millionenfach gebrauchte Postkarte war ein Wegweiser für zukünftige Entwicklungen: "As the first widely known example of dehumanized, automated communication, the post card popularized a mode of rhetoric indispensable to the conduct of later wars fought by great faceless conscripted armies."[58]  Die Postkarte drückte den Geist des modernen Massenkrieges aus, in dem es keine Individualität mehr gibt und die Soldaten austauschbar werden. Eine klarere Absage an den heldenhaften Krieger, der bis zum Great War das Bild des Soldaten beherrschte, läßt sich kaum vorstellen. Auch der Glaube an die Individualität des britischen Soldaten wird hier deutlich widerlegt und gehört nun ebenso, wie die Arthur-Romane, der Legende an. Das Equivalent hierzu ist das Gedenken gerade an den "unbekannten Soldaten", der anonym auf einem Soldatenfriedhof begraben liegt.

 

12. Resumé

 

Die Elemente, die als "The Matter of Flanders and Picardy" gelten können, hat Fussel in seiner Untersuchung weitgehend herausgearbeitet. Es war im Wesentlichen die Dichtung der jungen "wartime poets" und ihre semi-autobiographischen Schriften, die im Bewußtsein der englischen Öffentlichkeit das Bild vom "Great War" prägten. Die Autoren zeigten auf, wie ein letztendlich von mittelalterlichen Mythen geprägten Bild der Briten vom Krieg durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges erschüttert wurde. Sie waren die Ersten, die mit literarischen Mitteln einen modernen, technisierten Massenkrieg zu erfassen suchten. Schon von daher fußt vieles von der Literatur und Dichtung, die in und nach den folgenden Kriegen entstand, egal ob Lyrik, Autobiographie, oder Prosa, auf der durch die Generation der Kriegsschriftsteller gelegten Basis. Wenn, wie eingangs kritisiert, dieses Bild vom Krieg nur eine Teilwirklichkeit darstellt, da viele Erfahrungen neben denen der jungen Infantrieoffiziere der Westfront fehlen, so ist es doch Realität, daß unser, und noch deutlicher das Bild der Briten vom Ersten Weltkrieg tatsächlich einseitig geprägt ist. Der Geist des "Great War" ist der Geist der Schützengräben von Flandern. Es ist nun die Aufgabe der Historiker aufzuzeigen, welche anderen Aspekte und Empfindungen der Krieg außerdem noch hervorrief.

Die Schriftsteller der Westfront prägten das Bild vom Krieg. Wie weit war ihre Kunst eine passende Verarbeitung des Erlebten? Was Arthur Lane über Owen und Sassoon schreibt, kann auch für die Masse der anderen "wartime poets" gelten: "These men were humanists, and poets, and they were involved in the war. It was their faith in humanity which caused them to try to communicate, through their art, their awareness of the new possibilities for evil which technology was providing for an unprepared race. As poets and men of conscience, they realized that it was time to sound a warning about where the old myths, whether cynically mishandled or simply misunderstood, were leading man in an age of scientific industrialism. Their poetry in form as in content, was an adequate response to the fact of modern warfare - warfare which, in its technical sophistication, was more of a threat to human values than war had ever been before."[59]

 

 

13. Bibliographie

 

- Bernard Bergonzi: Heroes' Twilight, A Study of the Literature of the Great War,

   London 1965.

 

- Paul Fussel: The Great War and Modern Memory, London 1977.

 

- Paul Fussel (Hrsg.): Sassoon's Long Journy: An illustrated selection from Siegfried Sassoon's

  Memoirs of George Sherston, London/ New York 1983.

 

- Dominic Hibberd / John Onion (Hrsg.): Poetry of the Great War, An Anthology,

  London 1986.

 

- Arthur E. Lane: An Adequate Response, The War Poetry of Wilfred Owen & Siegfried

  Sassoon, Detroit 1972.

 

- George Parfitt: English Poetry of the First World War, Contexts and Themes, London 1990.

 

- Catherine Reilly: Scars upon my Heart, London 1981.

 

- Jon Silkin: Out of Battle, the Poetry of the Great War, London 1972.

 

- Women's Poetry of the First World War, London 1988.

 

 

Rezensionen:

 

- R. Bouyssou in : Études Anglaises, XXXe Année 1977, 373.

 

- Douglas Kerr in: The Modern Language Review, Vol. 72, 1977, 928-930.

 

- Jon Silkin in: The Review of English Studies, New Series, Vol. XXVIII, 1977, 244-246.

 

 



[1] P. Fussel: The Great War and Modern Memory, London 1977.

  Rezensionen siehe z.B.:

 - R.Bouyssou: Études Anglaises, XXXe Année 1977/3, 373.

 - J. Silkin:The Review of English Studies, New Series, Vol.XXVIII, 1977., 244-246.

 - D.Kerr: The Modern Language Review, Vol.72, 1977, 928-930.

 

 [2] Fussel,War, VII: "To the Memory of Technical Sergant Edward Keith Hudson, ASN 36548772, Co.f.410th

   Infantry, Killed beside me in France, March 15, 1945."

 

[3] ebda. IX.

 

[4] ebda.IX.

 

[5] G.Parfitt: English Poetry of the First World War, Contexts and Themes, London 1990.

 

[6] ebda.14.

 

[7] ebda.14

 

[8] ebda.14f.

 

[9] siehe Fussel War 82f.

 

[10] Fussel War IX f.

 

[11] Parfitt Poetry 15.

 

[12] Fussel War: Soldier Boys 270-309.

 

[13] C. Reilly (ed.): Scars upon my Heart, London 1981.

    siehe auch: Women's Poetry of the First World War, London 1988.

 

[14] J. Silkin: Out of Battle, the Poetry of the Great War, London 1972.

 

[15] Fussel War 159.

 

[16] ebda. 166.

 

[17] ebda. 173.

 

[18] Fussel War 310.

 

[19] P. Fussel (ed.): Sassoon's Long Journy: An illustrated selection from Siegfried Sassoon`s Memoirs of George

     Sherston, London/ New York 1983.

 

[20] Fussel War 206.

    vgl. auch B. Bergonzi: Heroes' Twilight, A Study of the Literature of the Great War, London 1965.

 

[21] Fussel War 203-220.

 

[22] D.Hibberd / J Onios (eds.): Poetry of the Great War, An Anthology, London 1986, 2.

 

[23] Fussel War 33.

 

[24] Fussel War .35.

 

[25] ebda. 3f.

 

[26] ebda.7f.

 

[27] ebda. 18.

 

[28] ebda.21f.

 

[29]  Fussel War 26f.

 

[30] ebda.21.

 

[31] ebda.27.

 

[32] ebda.24.

 

[33] ebda.175.

 

[34] ebda.29.

 

[35] ebda.13.

 

[36] Fussel War73.

 

[37] ebda.317f

 

[38] ebda.74.

 

[39] Fussel War75.

 

[40] ebda.77.

 

[41] ebda.78.

 

[42] ebda.115.

 

[43] ebda.117-120.

 

[44]  Fussel War 116f.

 

[45] ebda.316f.

 

[46] ebda.120f.

 

[47] ebda.123.

 

[48] ebda.124.

 

[49] ebda.82.

 

[50] Fussel War24.

 

[51] ebda. 82f.

 

[52] ebda. 87.

 

[53]  Fussel War86

 

[54]  ebda.64-69.

 

[55]  ebda.170.

 

[56]  ebda. 170.

 

[57]  ebda.181 ff.

 

[58] Fussel War 186.

 

[59] A.E. Lane: An Adequate Response, The War Poetry of Wilfred Owen & Siegfried Sassoon, Detroit 1972.