Warum USA
und Türkei die kurdische Stadt verbluten lassen*
von Nick
Brauns
Nur mit
ihrem Mut und ihren Kalaschnikows trotzen einige tausend Männer und Frauen in
der Stadt Kobanê im Norden Syriens bereits seit Mitte
September den mit Panzer und Artillerie vorrückenden mörderischen
Gotteskriegern des Islamischen Staates (IS).Die kurdischen Kämpfer vergleichen
die Schlacht um Kobanê mit der Schlacht von
Stalingrad, die die Wende im Zweiten Weltkrieg einleitete. Sollte der IS, der
im Juni die irakische Millionenstadt Mossul nahezu
kampflos einnahm, hier scheitern, dann wäre der Nimbus seines Erfolgs, der ihm
ständig neue Rekruten zuführt, zerstört. Würde Kobanê
aber fallen, könnte der IS seine Kräfte gegen die beiden anderen damit
voneinander isolierten Kantone des kurdischen Selbstverwaltungsgebietes Rojava – Afrin im Westen und Cizire
im Osten – wenden und sein Kalifat über hunderte Kilometer entlang der
türkischen Grenze festigen.
Schon die
Geschichte der an der Grenze zur türkischen Provinz Urfa gelegenen Stadt Kobanê kündet von der unheilvollen Rolle der
imperialistischen Großmächte, die mit willkürlicher Grenzziehung zur Aufteilung
ihrer Einflusssphären viel von dem Zündstoff legten, der bis heute keinen
Frieden einkehren lässt. Der kurdische Name Kobanê
leitet sich vom Wort «Kompanie» ab, da die heutige Stadt auf eine 1912 errichtete
Arbeitersiedlung der Bagdadbahn-Kompanie zurückgeht.
Mit jener legendären Bahnlinie wollte sich das deutsche Kaiserreich Einfluss im
Osmanischen Reich und Zugang zu den Ölfeldern Mesopotamiens sichern. Nach dem
für Kaiser und Sultan verlorenen Ersten Weltkrieg markierte der mitten durch
kurdisches Siedlungsgebiet führende Schienenstrang gemäß des
anglo-französischen Syces-Picot-Abkommens bis heute
die Grenze zwischen den neu geschaffenen Staaten Syrien und Türkei. Im Zuge der
von der syrischen Regierung ab den 60er Jahren betriebenen Arabisierungspolitik
gegenüber den kurdischen Landesteilen wurde Kobanê,
wo außer Kurden auch eine arabische und turkmenische Minderheit lebt, in Ain al-Arab – Quelle der Araber –
umbenannt.
Rojava – ein Modell
Von Kobanê aus nahm die Selbstbefreiung Rojavas
vom Baath-Regime mit einem Volksaufstand in der Nacht auf den 19.Juli 2012
ihren Anfang. Unter Anleitung der Partei der Demokratischen Union (PYD), einer
Schwesterpartei der in der Türkei aktiven Arbeiterpartei Kurdistans (PKK),
wurde mit dem Aufbau einer auf multiethnischen und multireligiösen Volksräten
beruhenden Selbstverwaltung begonnen. «Der Führer der türkischen Kurden,
Abdullah Öcalan, hat ein Gesellschaftsmodell für ein neues Zusammenleben der
verschiedenen Ethnien und Konfessionen im Nahen Osten verkündet, das sich sehr
stark auf direkte Demokratie und Partizipation stützt», erklärt Günter Seufert,
der Türkeiexperte-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die
Bundesregierung in außenpolitischen Fragen berät, die symbolische Bedeutung von
Kobanê für PKK-Anhänger «als der Ort, wo zum erstenmal das Gesellschaftsmodell ihres politischen Führers
verwirklicht worden ist. In ihren Augen symbolisiert Kobanê
die Zukunft der Kurden im Nahen Osten.»
Die demokratische
Selbstverwaltung in Kobanê brach mit dem wie ein
Zwangskorsett über das Bevölkerungsmosaik des Mittleren Ostens gelegten
europäischen Prinzip monolithischer Nationalstaaten ebenso wie mit dem
100jährigen Prinzip von «Spalte und herrsche», dessen Nutznießer stets die
Großmächte und ihre lokalen Vasallen waren. «Dieses demokratische Modell ist
nicht nur Modell für Syrien, sondern für alle Menschen in der Region», meint
der PYD-Vorsitzende Salih Muslim. «Bei uns verteidigen Muslime Kirchen, sie
verteidigen Jesiden, Andersgläubige. Das gab es im
Nahen Osten noch nie. In Rojava findet
ein Mentalitätenwechsel statt, eine Demokratisierung. Davor fürchten sich
viele. Auch davor, dass wir Frauenrechte stärken.»
Die Rolle
der Türkei
Der IS
greift Kobanê von drei Himmelsrichtungen aus an. Die
vierte Front im Norden bildet die Türkei. Bewohner der Grenzorte beobachteten,
wie kurz vor Beginn der IS-Offensive Mitte September hunderte Jihadisten in türkischen Bussen an die Grenze gebracht und
aus Zügen Munition entladen wurde. Während die Jihadisten
von der Türkei aus passieren konnten, sicherte die mit Panzern aufgefahrene
türkische Armee die Grenze gegen kurdische Freiwillige ab, die sich den
Verteidigern Kobanês anschließen wollten. Als sich
die Wut über die offene Parteinahme der AKP-Regierung für den IS in
Massenprotesten entlud, erschossen Polizei, Armee und islamistische
Paramilitärs in den kurdischen Landesteilen der Türkei innerhalb weniger Tage
mehr als 30 Demonstranten.
Das
türkische Parlament ermächtigte Anfang Oktober die Regierung zum
Truppeneinmarsch in den Irak und nach Syrien. Noch vor dem IS wird in der
Begründung die PKK als terroristische Hauptbedrohung aufgeführt. Die Strategie
der AKP zeichnet sich deutlich ab: Zuerst soll Kobanê
durch den IS sturmreif geschossen und entvölkert werden. Anschließend will die
türkische Armee eine Sicherheitszone einschließlich einer gegen die syrischen
Regierungstruppen gerichteten Flugverbotszone in Nordsyrien schaffen.
Mit dem
Angriff auf Rojava soll zugleich die kurdische
Befreiungsbewegung in der Türkei soweit geschwächt werden, dass sie sich dem
Diktat der AKP beugt. Während türkische Flugplätze für Einsätze der
internationalen Anti-IS-Allianz gesperrt bleiben, flog die türkische Luftwaffe
Mitte Oktober erstmals seit Beginn der Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan
wieder Luftangriffe auf PKK-Stellungen. «Die Schwächung der kurdischen PKK
scheint der Türkei wichtiger zu sein als der Kampf gegen die IS-Terroristen»,
beklagt selbst der CSU-Außenpolitiker Andreas Schockenhoff die falsche
Prioritätensetzung der türkischen Regierung.
Die Haltung
der USA
Die Rettung
von Kobanê scheint aber auch für die unter US-Führung
gebildete Allianz aus rund 40 Staaten – darunter bisherige IS-Finanziers wie
Saudi-Arabien und Qatar – keine Priorität zu
besitzen. Während die Jihadisten mit dutzenden
Kampfpanzern den Belagerungsring um Kobanê schlossen
und zehntausende Menschen über die türkische Grenze flohen, bombardierte die
Allianz fernab der kurdischen Enklave sog. strategische Ziele wie
Ölförderanlagen. «So schrecklich es auch ist, in Echtzeit das Geschehen in Kobanê zu verfolgen, so wichtig ist es, einen Schritt
zurückzutreten und das strategische Ziel zu verstehen», stellte Pentagonsprecher Konteradmiral John Kirby die Öffentlichkeit
auf den Fall von Kobanê ein. Dieses strategische Ziel
ist die Stabilisierung des Irak. Erst als der IS nach zweiwöchigen Kämpfen in
der zweiten Oktoberwoche bereits in die Vororte von Kobanê
eingedrungen war, begannen zielgenaue Luftangriffe, die von den Verteidigern
der Stadt als Entlastung wahrgenommen wurden. Angesichts des für die
Pentagon-Strategen unerwartet entschlossenen Widerstands in Kobanê
und der internationalen Proteste wollte die US-Regierung offenbar nicht als
Papiertiger dastehen.
Einen
ausländischen Bodentruppeneinsatz lehnen die Verteidiger von Kobanê ab. Stattdessen fordert PYD-Chef Muslim einen
Korridor über türkisches Territorium zu den beiden anderen zu Rojava gehörenden Kantonen sowie zur kurdischen
Autonomieregion im Nordirak, um Waffen und Kämpfer nach Kobanê
zu bringen. «Wenn die Unterstützung uns erreicht, sind wir auch allein in der
Lage, den IS zu vertreiben.» Gemeinsam mit den Volks- und
Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ kämpfen einige Brigaden der Freien
Syrischen Armee (FSA) sowie Freiwillige aus der Türkei, darunter neben
PKK-Anhängern auch Mitglieder kommunistischer Parteien, in Kobanê.
Die
US-Luftwaffe könnte die Panzer des IS vor Kobanê
innerhalb von Stunden vernichten. Da dies bislang nicht geschah, beklagt selbst
Abu Leyla, Kommandant der Brigade Shams Al-Shamal ein
«Komplott». Bei dieser an der Seite der YPG in Kobanê
kämpfenden FSA-Einheit handelt es sich um solche «gemäßigten Rebellen», die der
Westen weiter aufrüsten will. Doch die in Kobanê
kämpfenden FSA-Einheiten bekommen keine ausländische Unterstützung, schließlich
haben sie sich mit der YPG die aus Sicht Washingtons und Ankaras falschen
Bündnispartner gesucht.
Der Gedanke
der Kommune
Angesichts
dieser internationalen Verschwörung gegen Kobanê
drängt sich der Vergleich mit der Pariser Kommune von 1871 auf. Als sich das
Volk von Paris im Deutsch-Französischen Krieg 1871 erhob und mit der Ausrufung
der Kommune sein Schicksal in die eigene Hand nahm, entließ das siegreiche
Preußen französische Kriegsgefangene und gab ihnen Waffen zur Niederschlagung
dieser ersten sozialistischen Räterepublik. Denn darin waren sich alle
reaktionären Mächte der damaligen Zeit einig: Der Kommune-Gedanke – diese
«endlich entdeckte politische Form» der Befreiung der Arbeiterklasse (Marx) –
bedrohte ihr Herrschaftsfundament in jedem Land. «Die Kommune war die
entschiedene Negation jener Staatsmacht und darum der Beginn der sozialen
Revolution des 19.Jahrhunderts. Was daher immer ihr Geschick in Paris ist, sie
wird ihren Weg um die Welt machen.»
Diese Worte
schrieb Karl Marx nieder, als die isolierten Kommunarden noch im Abwehrkampf
gegen die militärisch weit überlegenen Versailler Truppen standen. Sie gelten
auch für die Kommune von Kobanê als Keimzelle eines
neuen, demokratischen und selbstbestimmten Mittleren Ostens.
15.10.2014
Soz – Sozialistische Zeitung November 2014