Die Bühne betreten
Mit zweitägigen Massenstreiks in Istanbul trat die
Arbeiterklasse der Türkei vor 50 Jahren erstmals als unabhängige Kraft in
Erscheinung
Von
Nick Brauns
Das Jahr 1970 bildete mit einer
Streikwelle, Fabrikbesetzungen und Schulboykotten von Lehrern einen Höhepunkt
der Protestbewegung in der Türkei. An der Spitze vieler Kämpfe stand die
Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften, DISK. Dieser Bund war
erst drei Jahre zuvor von mehreren Einzelgewerkschaften gegründet worden, die
aufgrund ihrer klassenkämpferischen Orientierung vom staatsnahen
Gewerkschaftsdachverband Türk-IS suspendiert worden waren.
Um die linke Konkurrenz auszuschalten,
beantragten Abgeordnete der regierenden konservativen Gerechtigkeitspartei (AP)
von Ministerpräsident Süleyman Demirel, die zugleich der Leitung von Türk–IS
angehörten, eine Änderung des Gewerkschafts- und Tarifvertragsgesetzes. Diese
sah vor, dass Gewerkschaften nur noch dann das Recht auf landesweite
Betätigung, den Zusammenschluss in Föderationen sowie das Führen von
Tarifverhandlungen erhalten sollten, wenn sie mindestens ein Drittel aller
Beschäftigten einer Branche bei sich organisiert hatten. Faktisch liefen diese
am 12. Juni 1970 formal in Kraft getretenen Gesetze Nr. 274 und 275 auf die
indirekte Schließung von DISK hinaus.
Protest-
und Streikverlauf
Da alle Verhandlungsversuche mit der
Regierung fehlgeschlagen waren, beschloss der Rat der DISK-Vertreter am 14.
Juni auf einem Treffen mit rund tausend Gewerkschaftern einstimmig, zu
Protesten am folgenden Tag aufzurufen. Sie hatten mit einer Kundgebung von
20.000 Teilnehmern gerechnet. Doch am 15. Juni – einem Montag – ließen 75.000
Arbeiter in den Fabriken in Istanbul sowie in der Nachbarprovinz Kocaeli spontan die Produktion ruhen und strömten auf die
Straße. Am 16. Juni waren bereits bis zu 150.000 Arbeiter im Ausstand. Auch
eine große Zahl von Mitgliedern der Türk-IS-Gewerkschaften schloss sich an.
Dazu kamen Schüler und Studenten aus der Föderation der Revolutionären Jugend (Dev-Genc). In Ankara und weiteren Städten fanden
Solidaritätsdemonstrationen statt.
Eine riesige Menschenmenge, an deren
Spitze demonstrativ Arbeiterinnen marschierten, strömte über eine Schnellstraße
nach Istanbul, Sperren von Polizei und Armee wurden einfach beiseitegeschoben.
Um die Arbeiter daran zu hindern, auf den Taksim-Platz
im europäischen Teil der Stadt zu gelangen, ließen die Behörden den Fährverkehr
über den Bosporus einstellen und die Klappbrücken hochziehen. Als die Polizei
die Demonstranten in Kadiköy auf der asiatischen Seite
zu stoppen versuchte, kam es zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung, bei der
drei Arbeiter und ein Polizist ihr Leben verloren. Auch im Bezirk Levent gab es
Zusammenstöße. Arbeiter stürmten Polizeiwachen, um festgenommene Kollegen zu
befreien. Doch obwohl die Polizei nach Ansicht von Demonstranten das Ziel
verfolgte, letztere für die Öffentlichkeit als gewalttätig erscheinen zu
lassen, blieben die Proteste weitgehend gewaltfrei. Es kam zu keinerlei
Plünderungen.
Die von der Wucht des Widerstands gegen
die Gesetzgebung überraschte DISK-Führung reagierte dennoch erschrocken. »Da
wir fleißig im Sinne der Verfassung arbeiten, kann keine unserer Handlungen
gegen die Verfassung verstoßen«, beteuerte DISK-Präsident Kemal Türkler und warnte vor »Provokationen« wie Steinwürfen auf
»unsere ehrenwerte Armee«. Vergeblich appellierte der Gewerkschaftsführer an
die »arbeitenden Brüder«, wieder »an ihre Arbeitsplätze zurückzugehen«.
Kriegsrecht
und Repression
Erst die Ausrufung des Kriegsrechts über
Istanbul beendete am Abend des 16. Juni die Massenproteste auf der Straße. Es
blieb für drei Monate in Kraft. Die DISK-Führung und Hunderte Arbeiter wurden
nun festgenommen. Zahlreiche an den Demonstrationen Beteilige verloren ihre Jobs
und fanden sich auf schwarzen Listen der Unternehmer wieder. Doch politisch
hatten die Arbeiter einen Sieg errungen. Die gewerkschaftsfeindlichen
Gesetzesänderungen wurden nach Klagen von Oppositionsparteien vom
Verfassungsgericht aufgehoben. Dies kam der Anerkennung der DISK gleich, die
daraufhin einen beträchtlichen Zulauf verzeichnen konnte.
Die DISK-Führung beurteilte die Aktionen
vom 15./16. Juni 1970 als einen Wendepunkt in der Geschichte, da sich die
türkische Arbeiterklasse erstmals als eine unabhängige politische Kraft im
Lande gezeigt hatte. Doch nur eine Minderheit innerhalb der sozialistischen
Bewegung der Türkei sah in den Junitagen die Bestätigung der marxistischen
Auffassung von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt. Unter der radikalen
außerparlamentarischen Linken dominierte statt dessen
die These von einer nationaldemokratischen Revolution. Deren Vertreter hielten
die Türkei für ein halbfeudales und halbkoloniales Land, das noch nicht reif
für den Sozialismus sei. Während ein Flügel dieser studentisch geprägten Linken
auf einen Militärputsch vermeintlich fortschrittlicher kemalistischer
Offiziere setzte, leitete ein anderer Teil der Studentenbewegung aus dem
Einsatz der Armee die Notwendigkeit ab, Guerillaorganisationen zu bilden, die
nach maoistischem Vorbild die Städte vom Land aus befreien sollten. Es gehört
zur Tragik der Geschichte der Linken in der Türkei, dass einige ihrer besten
und mutigsten Köpfe just in dem Moment mit der Vorbereitung eines von den
Massen isolierten bewaffneten Kampfes begannen, als das Proletariat die Bühne
der Politik betrat.
Von seiten der
herrschenden Klassen wurde der Istanbuler Arbeiterwiderstand dagegen als Beginn
einer Systemkrise des Kapitalismus in der Türkei eingeschätzt, der es
angesichts des Unvermögens der regierenden Gerechtigkeitspartei, die Lage zu
stabilisieren, mit einem Militärputsch zu begegnen galt. Aber auch fast die
gesamte Linke einschließlich der DISK-Führung applaudierte den Generälen, als
diese am 12. März 1971 mit einem Memorandum den Rücktritt der Regierung Demirel
erzwangen.
Doch Illusionen in das »revolutionäre
Potential« der Armee zerschlugen sich innerhalb weniger Tage, denn nun setzte
eine systematische Unterdrückung der Linken und der Arbeiterbewegung mit dem
Verbot der Dev-Genc und der Lehrergewerkschaft TÖS,
Massenfestnahmen von mehr als 10.000 Gewerkschaftern, Studenten und linken
Intellektuellen sowie dem vom Verfassungsgericht verfügten Verbot der 1961
gegründeten Arbeiterpartei der Türkei (TIP) ein. Das Streikrecht wurde
ausgehebelt und die DISK mit Repressalien überzogen. »Die soziale
Bewusstwerdung hat die Möglichkeit unserer Ökonomie überschritten«,
kommentierte einer der Putschisten, General Semih Sancar, später. Der
Aufschwung der Arbeiterbewegung war für die Armee Rechtfertigung genug für ihr
Eingreifen.
Konföderation
der Revolutionären Arbeitergewerkschaften
Unter Mitwirkung von US-Gewerkschaftern wurde 1952 die
Konföderation der Türkischen Arbeitergewerkschaften (Türk-IS) gegründet. Der in
hohem Maße staatlicher Aufsicht unterworfene »gelbe« Gewerkschaftsverband
organisierte anfangs vor allem Beschäftigte in Staatsunternehmen.
In den 1960er Jahren erfolgte vor dem Hintergrund eines rapiden
Wirtschaftswachstums in der Türkei die Wandlung der unerfahrenen Arbeiterklasse
zu einer hochgradig organisierten Abteilung der Werktätigen. Die nach dem
Militärputsch von 1960 erlassene Verfassung und ein Gewerkschaftsgesetz von
1963 garantierten erstmals das Organisations- und Streikrecht.
Als 1966 rund 2.000 Beschäftigte der Glasfabrik Pasabahce in Istanbul mit einem 83tägigen Streik für einen
betrieblichen Tarifvertrag kämpften, forderte die Türk-IS-Führung den Abbruch
des Arbeitskampfes, während eine Reihe ihrer Einzelgewerkschaften Spenden für
die Streikenden sammelten. Nach ihrer Suspendierung aus dem Dachverband
gründeten diese und weitere Gewerkschaften im Februar 1967 die Konföderation
der Revolutionären Arbeitergewerkschaften, DISK. Zählte DISK, deren
Einflussbereich sich zuerst auf den Istanbuler Raum beschränkte, im
Gründungsjahr rund 40.000 Mitglieder, so war diese Zahl 1970 bereits auf
100.000 angewachsen. Durch die anfangs sozialistisch, später eher
sozialdemokratisch orientierte Konföderation fanden verfemte Begriffe wie
»Klassen« und »Klassenkampf« Eingang in die Terminologie der
Gewerkschaftsbewegung.
Nick Brauns
Aus: junge
Welt vom 13.06.2020