Junge Welt 26.11.2010
/ Inland / Seite 4
Dersim-Kurden
fordern Aufarbeitung
Berliner Konferenz diskutiert über Völkermord in
osttürkischer Bergprovinz 1937/38
Von Nick
Brauns
Die
Anerkennung der Massentötungen 1937/38 in Dersim als
Völkermord« – das war die zentrale Forderung einer gut besuchten Konferenz von
zumeist kurdisch-türkischen Politikern, Juristen, Schriftstellern und
Zeitzeugen, die am Mittwoch auf Einladung der Linksfraktion sowie kurdischer
und alevitischer Verbände im Berliner
Abgeordnetenhaus stattfand.
1936 war der Belagerungszustand über die Bergprovinz Dersim
in der Osttürkei verhängt worden, um die dort lebenden alevitischen
Kurden ihrer bis dahin behaupteten Autonomie zu berauben. Bis zu 70000 Menschen
wurden in den folgenden Jahren durch Bomben und Giftgas getötet und
Zehntausende Überlebende deportiert. Dersim wurde in Tunceli umbenannt, um selbst den Namen der rebellischen
Region vergessen zu machen.
Als Dersim-Aufstand gingen diese Ereignisse in die
Geschichte ein, doch auf der Konferenz wird deutlich, daß
die bäuerlichen Partisanen unter Führung des hingerichteten alevitischen
Geistlichen Seyid Riza vor allem Selbstverteidigung
übten. Eindrucksvoll schildern Zeitzeugen, wie sie als Kinder von ihren Müttern
in Höhlen in Sicherheit gebracht wurden oder die Ermordung ihrer ganzen
Familien miterleben mußten. »Wir mußten
ein Baby töten, damit es uns nicht durch sein Weinen verrät«, erzählt Gülizar Kaytan. Was die alte Frau nicht erwähnt: Ihre Kinder gingen
40 Jahre später selber in die Berge, um als Guerillakämpfer der PKK gegen die
fortgesetzte Unterdrückung der Kurden zu kämpfen.
»Der türkische Staat wurde auf einer Mentalität des Völkermordes gegründet, die
bis heute fortwirkt«, meint die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin
Eren Keskin unter Verweis auf die Jungtürken, die den Völkermord an den
Armeniern im Ersten Weltkrieg zu verantworten hatten. Auch Anwalt Erdal Dogan,
der die Angehörigen des vor vier Jahren ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink vertritt, sieht den
von den Jungtürken geprägten Geist der türkisch-islamischen Synthese ebenso im
»staatlichen Mord« an Dink wie im andauernden Verbot
der kurdischen Sprache fortwirken. Das Sprachverbot sei nach der
Genozid-Definition der Vereinten Nationen ein kultureller Völkermord.
Rechtsanwalt Barry A. Fisher aus Los Angeles berichtet von seinen Erfahrungen
in internationalen Entschädigungsverfahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Bei
Kampagnen etwa für die von der japanischen Armee als Prostituierte versklavten
koreanischen »Trostfrauen« sei für den juristischen Erfolg neben der
politischen Unterstützung durch die US-Regierung eine Kampagne von
Nichtregierungsorganisationen entscheidend gewesen. Daher schlägt Fisher der
Dersim-38-Bewegung ein Tribunal vor. Die Berliner Konferenz diene dazu, mit den
von staatlicher Seite gewollten Tabus zu brechen, meint der
Sozialwissenschaftler Ahmet Özer von der Universität Isparta. »Wir wollen nicht
ewig unsere Finger in die Wunde legen, sondern friedlich miteinander leben.« Doch dazu müsse der türkische Staat sich der eigenen
Geschichte stellen und für den Genozid entschuldigen. Vorausetzung
dafür sei allerdings eine Lösung der kurdischen Frage.