Junge Welt 11.01.2003
Land gegen Zeit
Diplomatie unter Generalsstiefeln.
Vor 85 Jahren fanden in Brest-Litowsk Friedensverhandlungen zwischen Sowjetrußland und dem Deutschen Reich statt
Mit dem unmittelbar nach der Oktoberrevolution
verabschiedeten »Dekret über den Frieden« hatte der 2. allrussische
Sowjetkongreß allen kriegführenden Nationen einen sofortigen Frieden ohne
Annexionen und Kontributionen vorgeschlagen. Doch nur die Mittelmächte waren bereit
zu separaten Friedensverhandlungen mit Rußland, um dringend benötigte Truppen
von der Ost- an die Westfront verlegen zu können.
Am 15. Dezember 1917 wurde in der von deutschen Truppen besetzten Stadt
Brest-Litowsk ein vorläufiger Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und
Österreich-Ungarn einerseits und Sowjetrußland andererseits geschlossen, die
Friedensverhandlungen begannen am 22. Dezember. Das Deutsche Reich wurde vom
Staatssekretär des Äußeren Richard von Kühlmann, die Oberste Heeresleitung
durch General Max Hoffmann und Österreich-Ungarn durch seinen Außenminister
Graf Czernin vertreten. Leiter der sowjetischen Delegation war zuerst Trotzkis
Vertrauter Adolf A. Joffe. Ab Januar übernahm Leo Trotzki als Volkskommissar
des Äußeren die Leitung der sowjetischen Delegation. Während sich die
Delegation der Mittelmächte aus Berufsdiplomaten und Offizieren
zusammensetzten, hatte Rußland auch jeweils einen Arbeiter, einen Bauern und
einen einfachen Soldaten als Vertreter der Sowjetmacht entsandt.
Unter der heuchlerischen Losung »der Selbstbestimmung der Völker« verlangte die
Reichsregierung als Bedingung für einen Friedensschluß die Überlassung aller
nichtrussischen Westgebiete, also Polens, Litauens und des südlichen Baltikums
unter deutschen Einfluß. Mit Unterstützung der Mittelmächte forderten zudem
ukrainische Nationalrevolutionäre die Unabhängigkeit ihres Landes. Angesichts
dieser untragbaren Forderungen versuchte Trotzki, die Verhandlungen solange zu
verschleppen, bis auch in Deutschland eine Revolution ausbräche. Er nutzte die
diplomatische Bühne für flammende Appelle an das Weltproletariat, den
bedrängten Bolschewiki zu Hilfe zu kommen. »Ohne eine große Sympathie zu den
diplomatischen Instruktionen Kühlmanns zu zeigen, legte der General mehrmals
seinen Soldatenstiefel auf den Tisch, um den sich komplizierte juristische
Debatten drehten. Wir unsererseits, wir zweifelten keinen Augenblick, daß
gerade dieser Stiefel des Generals Hoffmann als die einzige ernsthafte Realität
bei diesen ganzen Verhandlungen zu betrachten sei«, schildert Trotzki die
Stimmung im Verhandlungsraum.
Entgegen späterer Darstellungen der stalinistischen Geschichtsschreibung
spielte sich der Kampf innerhalb der Bolschewistischen Partei um die Frage des
Friedensschlusses nicht primär zwischen Lenin und Trotzki ab, sondern zwischen
Lenin und den führenden Parteiorganisationen, in denen die sogenannten linken
Kommunisten dominierten.
Lenin war mit seiner Forderung, den Frieden sofort und unter allen Bedingungen
zu unterschreiben, in der Minderheit. Die russische Armee befand sich in
völliger Auflösung. Die Soldaten strebten in ihre Dörfer, um bei der
Landverteilung nicht leer auszugehen. »Sie stimmen für den Frieden – mit den
Füßen«, erkannte Lenin. Land gegen Zeit war das Credo seiner revolutionären
Realpolitik in dieser Situation. »Wenn wir Zeit gewinnen, wenn man wenigstens
eine kurze Atempause für die organisatorische Arbeit bekommen kann, so sind wir
verpflichtet, das zu erreichen. ... Indem wir die Sowjetmacht wahren, erweisen
wir dem Proletariat aller Länder in seinem unglaublich schwierigen, schweren
Kampf gegen seine Bourgeoisie die beste, die stärkste Unterstützung. Einen
größeren Schlag für die Sache des Sozialismus heutzutage als den Zusammenbruch
der Sowjetmacht in Rußland gibt es nicht und kann es nicht geben.« Wenn die
Revolution im Westen ausbräche, könnte der Friedensvertrag revidiert werden.
Die linken Kommunisten um Nikolai Bucharin behaupteten dagegen, es sei
unzulässig für eine revolutionäre Macht, Abkommen mit Imperialisten zu treffen,
und forderten unter völliger Verkennung der desolaten Situation der Truppe,
einen revolutionären Krieg zu führen.
Trotzki, der wie Lenin den revolutionären Krieg in dieser Situation als
weltfremde Phrasendrescherei zurückwies, versuchte mit der Kompromißformel
»Weder Krieg noch Frieden« eine Brücke zu Lenin zu bauen, ohne daß die
Bolschewiki das Gesicht verlören oder gar als deutsche Agenten diffamiert
werden konnten. »Ich hielt es für unbedingt notwendig, vor der Unterzeichnung
des Separatfriedens, wenn diese sich für uns als absolut unvermeidlich erweisen
sollte, den Arbeitern Europas einen grellen und eindeutigen Beweis der
Todfeindschaft zwischen uns und dem regierenden Deutschland zu geben. Eben
unter dem Einfluß dieser Erwägung kam ich in Brest-Litowsk auf den Gedanken
einer politischen Demonstration, die sich in der Formel äußerste: Wir beenden
den Krieg, demobilisieren die Armee, aber wir unterschreiben keinen
Friedensvertrag.«
Sollten die Deutschen unter diesen Umständen den Krieg fortsetzen, wäre für die
Weltöffentlichkeit klar, daß die Bolschewiki unter Bajonetten unterschrieben.
Am 22. Januar erhielt Trotzkis Antrag, die Verhandlungen hinauszuzögern, im
Falle eines deutschen Ultimatums den Krieg als beendet zu erklären, aber keinen
Frieden zu unterschreiben, eine Mehrheit im Zentralkomitee.
Aufgrund der Weigerung der Sowjetdelegation, das Friedensdiktat zu
unterzeichnen, befahl die Oberste Heeresleitung am 18. Februar den deutschen
Truppen einen erneuten Vorstoß zur vollständigen Besetzung des Baltikums, ohne
dabei auf nennenswerten russischen Widerstand zu stoßen. Da ein Angriff auf
Petrograd nicht mehr auszuschließen war, beschloß der Rat der Volkskommissare
die Evakuierung der Regierung nach Moskau und forderte mit der Proklamation
»Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr« die totale Mobilmachung aller
verfügbaren Kräfte zum Schutz der Revolution.
Bucharins Anhänger plädierten weiter für den revolutionären Krieg, während die
linken Sozialrevolutionäre die Westalliierten um Hilfe bitten wollten. Doch
angesichts der akuten Bedrohung der Sowjetmacht fand Lenin nach einem erneuten
deutschen Ultimatum am 21. Februar eine Mehrheit für die sofortige Zustimmung
zum Friedensdiktat. Um diese Mehrheit nicht zu gefährden, hatte sich Trotzki
der Stimme enthalten.
Am 23. Februar 1918 erklärten die Bolschewiki telegraphisch die Annahme der
Friedensbedingungen, und am 3. März unterschrieb G. J. Sokolnikow den Vertrag.
Er wurde am 15. März vom Sowjetkongreß und am 22. März vom Deutschen Reichstag
mit den Stimmen der Mehrheitssozialdemokratie ratifiziert. Rußland hatte durch
den Brester Raubfrieden 26 Prozent seiner Bevölkerung, 27 Prozent des
anbaufähigen Landes, 26 Prozent des Eisenbahnnetzes, 33 Prozent der Textilindustrie,
73 Prozent der Eisenindustrie und 75 Prozent der Kohlebergwerke eingebüßt.
»Das Fazit von Brest ist nicht Null, selbst wenn es jetzt zu einem brutalen
Unterwerfungsfrieden kommt. Durch die russischen Delegierten wurde Brest zur
weithin vernehmbaren revolutionären Tribüne. Es brachte die Entlarvung der
Mittelmächte, die Entlarvung der deutschen Raubgier, Verlogenheit, Hinterlist
und Heuchelei. Es hat ein vernichtendes Verdikt über die deutsche
›Mehrheits-Friedenspolitik‹ gefällt, die nicht sowohl scheinheilig, als
vielmehr zynisch ist... Es wird sich zeigen, welche Ernte den heutigen
Triumphatoren aus dieser Saat reifen wird. Sie sollen ihrer nicht froh werden.«
- Diese prophetischen Zeilen schrieb Karl Liebknecht damals in einem deutschen
Gefängnis in sein Notizbuch.
Nick Brauns