„Der eigenen Verantwortung stellen“

Deutschland und der Genozid an den Armeniern

Von Nikolaus Brauns

„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?“[1], wollte der sozialistische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht am 11.Januar 1916 wissen. Und welche Schritte die Reichsregierung bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen habe, „um die gebotene Sühne herbeizuführen, die die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Gräuel zu verhindern?“ Der Reichsregierung sei bekannt, dass die Pforte „durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat“, gibt ein Vertreter des Auswärtigen Amtes die zumindest bei der türkischen Regierung bis heute gültige Lesart der Ereignisse wieder. Als Liebknecht in einer Nachfrage unter Berufung auf den Theologen Johannes Lepsius von einer „Ausrottung der türkischen Armenier“ spricht, wird er von anderen Reichstagsabgeordneten unterbrochen und ihm dann unter „lebhaftem Bravo“ vom Reichstagspräsidenten das Wort entzogen.

Während der Theologe Lepsius, der Sozialist Liebknecht oder der als Sanitätsoffizier in Ostanatolien dienende pazifistische Reiseschriftsteller und Photograph Armin T. Wegner unter Bedingungen der Kriegszensur die Massakrierung der armenischen und aramäischen Christen durch die jungtürkische Partei „Einheit und Fortschritt“ anprangerten, war die politische und militärische Führung des Deutschen Kaiserreichs nicht nur Mitwisser sondern bis zu einem gewissen Grad sogar Mittäter.[2] „Ein einziger Befehl des Kaisers hätte in der Tat viele Armenier retten können“[3], zeigt sich Wolfgang Gust als intimer Kenner der Akten des Auswärtigen Amtes zur Orientpolitik in seiner Rede zum Gedenken an den Genozid am 24.April 2009 in der Frankfurter Paulskirche überzeugt.

Durch den Bündnisvertrag zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich für die Waffenbrüderschaft im Kriege wurden der deutschen Militärmission weitgehend die osmanischen Streitkräfte unterstellt. Die Macht über die Truppe lag damit beim jungtürkischen Kriegsminister Enver Pascha – einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord - und einer Gruppe zum Teil äußerst anti-armenisch eingestellter deutscher Generäle und Admiräle.  Die deutsche politische Führung war durch die Berichte ihrer Diplomaten, von denen einige wie der Vizekonsul in Erzurum, Max Erwin von Scheubner-Richter, direkt deutsche Hilfe gegen die Massaker erbaten, über die Gräueltaten ihrer türkischen Verbündeten bestens informiert.[4] Doch die Diplomaten wurden vom Botschafter angewiesen, Kritik am Vorgehen ihrer türkischen Verbündeten allenfalls als „freundschaftlichen Rat“, aber keinesfalls in Form „einer amtliche Demarche“ zu äußern.[5]  Bezeichnend für den Umgang der Reichsregierung ist die Antwort von Reichskanzler Bethmann Hollweg auf das Ende 1915 geäußerte Ersuchen des deutschen Botschafters in Konstantinopel, Paul Graf Wolff-Metternich, wenigstens in der deutschen Presse den Unmut über die Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufzuhören. Der Kanzler lehnte dieses Ansinnen wie folgt ab: „Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.[6] Entsprechend hatte die Oberzensurstelle des Kriegspresseamtes die deutsche Presse bereits am 7.Oktober 1915 auf die folgende Sprachregelung verpflichtet: „Über die Armeniergreuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern im gegenwärtigen, schwierigen Augenblick nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen  Pflicht, zu schweigen. Später, wenn direkt Angriffe des Auslandes wegen `deutscher Mitschuld´ erfolgen sollten, muss man die Sache mit größter Vorsicht und Zurückhaltung behandeln und stets hervorheben, dass die Türken von den Armeniern schwer gereizt wurden.“[7]

Dass sich das Deutsche Reich durchaus in einer Position befunden hätte, um zu Gunsten der Armenier einzugreifen, beweist das Beispiel des Leiters der deutschen Militärmission und Oberbefehlshaber über die 5. Osmanische Armee, General Liman von Sanders. Aus rein militärischen Gründen untersagte der preußische General und osmanische Marschall im November 1916 die Deportation der Armenier aus Smyrna (heute Izmir), ohne dass die jungtürkische Junta sich dieser Weisung sperrte. Doch andere derartige militärisch oder auch humanitär begründete Interventionen deutscher Militärs sind nicht bekannt geworden. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass führende deutsche Militärs ihre türkischen Verbündeten zur Deportationen von Armeniern sogar ermutigt haben. So gestand der Leider der Operationsabteilung im türkischen Großen Hauptquartier, Otto von Feldmann, nach dem Krieg, „dass auch deutsche Offiziere – und ich selbst gehörte zu diesen – gezwungen waren ihren Rat dahin zu geben, zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen“.[8] So soll der türkische Deportationsbefehl vom August 1915 dem Oberbefehlshaber der 1. Osmanischen Armee in Konstantinopel, Feldmarschall Colmar von der Goltz vorgelegt und von diesem genehmigt worden sein.[9]

In mehreren Fällen lässt sich auch eine direkte deutsche Beteiligung an Deportationen und Massakern nachweisen. So unterzeichnete der preußische Major Böttrich als Chef des Verkehrswesens im türkischen Hauptquartier Deportationsbefehle für die ihm unterstehenden armenischen Arbeiter und Angestellten der Bagdadbahn und der Artillerie-Offizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg ließ armenische Deserteure in Zaitun und widerständige armenische Zivilisten in Urfa zusammenschießen.  

Nicht nur Bündnistreue mit den türkischen Partnern oder militärische Überlegungen leiteten führende deutsche Offiziere und Diplomaten, sondern auch offener Rassismus, wobei die unter konservativen Kreisen im Kaiserreich gegenüber Juden gepflegten antisemitische Stereotype direkt auf die christlichen Armenier übertragen wurden. 1913 hatte Richard von Kühlmann, 1916 bis 1917 Botschafter in Konstantinopel und anschießend Reichsaußenminister, die Armenier als „hochbegabtes, aber unruhiges Volks“ bezeichnet, das den Juden ähnlich sei. Doch die Armenier hätten sich „in noch weit höherem Grad als die Juden als Elemente der Zersetzung erwiesen und überall der Revolution die gefährlichsten Kämpfer gestellt“.[10] Und der Chef des osmanischen Feldheeres, General Fritz Bronsart von Schellendorf, erklärte: „Der Armenier ist wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit des anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte“,[11] Aus einer solchen eliminatorischen Logik heraus folgerte der deutsche Admiral und Chef der osmanischen Flotte, Wilhelm Souchon: „Für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat.“[12]

Die in einigen Fällen von deutschen Diplomaten und Militärs zaghaft gegenüber der Reichsführung geäußerte Kritik am mörderischen Vorgehen der Jungtürken war nicht nur humanitär begründet, sondern auch in der Sorge um das Ansehen des Deutschen Reiches, wenn die Gräueltaten im Falle einer Kriegsniederlage zur Anklage kämen. Die Sorge, führende Jungtürken könnten über die deutsche Rolle auspacken, muss auch als ein Motiv dafür gesehen werden, dass diesen nach der türkischen Kriegsniederlage mit deutscher Hilfe die Flucht vor Strafverfolgung durch die britisch kontrollierte Sultans-Regierung in Konstantinopel ermöglicht wurde und Talât Pascha als wohl Hauptverantwortlicher für den Genozid Asyl in Deutschland bekam.

So war es dann auch nach Kriegsende die Absicht des Auswärtigen Amtes, durch die Herausgabe einer manipulierten Edition von diplomatischen Quellen zur Orientpolitik des Kaiserreichs zwar die Vertreibungen und Massaker des türkischen Verbündeten einzugestehen, doch gleichzeitig eine deutsche Mittäterschaft zu vertuschen. Als Herausgeber des bereits 1919 erschienenen Werkes „Deutschland und Armenien 1914-1918. Sammlung diplomatischer Aktenstücke“ gewann das Auswärtige Amt Johannes Lepsius. Der Theologe, der als stimmgewaltiger Anwalt der verfolgten Armenier während des Krieges mit seinen Veröffentlichungen als einer der Wenigen den Genozid bekannt machte, sollte mit seinem guten Namen für die Authentizität der Edition bürgen. Tatsächlich hatte Lepsius bei der Zusammenstellung der Edition nicht mit Originaldokumenten, sondern mit den eben zum Teil vom Auswärtigen Amt manipulierten Kopien gearbeitet, die er entgegen seines wissenschaftlichen Anspruchs nicht mit den ihm zugänglichen Originalen abglich. Wieweit Lepsius über die Manipulationen im Bilde war, ist Spekulation. Sicherlich war es Lepsius Hauptziel, den Genozid weiter in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Doch darf nicht übersehen werden, dass der Theologe, der bereits kurz nach der Veröffentlichung seines an Tausende evangelische Pfarrstellen in Deutschland versandten „Berichts über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ 1916 in den Niederlanden für den deutschen Nachrichtendienst des Ludendorff-Vertrauten Hans von Haeften arbeitete, ein glühender deutscher Patriot war, der politisch weit rechts stand. „Zwei Seelen wohnten seit langem in der Brust des Johannes Lepsius: eine armenische und eine deutsche“, beschreibt Wolfgang Gust, der die Manipulation der Akten nachwies, das Dilemma des Theologen. „Die eine galt dem christlich-armenischen Volk, die andere vornehmlich dem deutschen Kaiser, den Lepsius für einen großen Pazifisten hielt und bewunderte.“[13]

Noch im April 2007 verwies das Auswärtige Amt in seiner Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zu „Konsequenzen aus der deutschen Mitverantwortung für den Völkermord an den Armeniern“ auf die seit 1919 vorliegende  „Sammlung einschlägiger Akten“ des Armenienkenners Lepsius.[14] Erst auf Nachfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke gab das AA im folgenden Jahr zu: „Die von Johannes Lepisus 1919 herausgegebene Aktenpublikation `Deutschland und Armenien 1914-1918´ gilt als manipuliert.“[15]  Stattdessen verwies das AA nun auf die auf der Grundlage der im Politischen Archiv des Amtes verwahrten Akten erarbeitete Dokumentensammlung von Wolfgang Gust „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16“ aus dem Jahr 2005.

Während der Völkermord an den europäischen Juden unter dem Nazi-Faschismus in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend aufgearbeitet und als Tatsache in der Öffentlichkeit präsent gehalten wurde, sollte es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges noch rund 85 Jahren dauern, bis sich die deutsche Politik wenigstens teilweise ihrer Mitverantwortung für den Armeniergenozid stellte, dessen schnelle und weitgehende Verdrängung aus der öffentlichen Erinnerung erwiesenermaßen Adolf Hitler beim seinem Vernichtungskrieg gegen die slawischen Völker ermutigt hatte.[16]

Noch im März 2001 erklärte die damalige SPD-Grünen-Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke, dass „die Frage der Bewertung der Massaker an den Armeniern 1915/16 im Wesentlichen eine historische Frage und damit Gegenstand der Geschichtswissenschaft und in erster Linie Sache der betroffenen Länder Armenien und der Türkei“ sei.[17] Zu diesem Zeitpunkt lag dem Bundestag bereits seit rund einem Jahr eine vom „Verein der Völkermordgegner“ sowie verschiedenen in der „Arbeitsgruppe Anerkennung“ zusammengeschlossenen armenischen Verbänden initiierte Petition zur Ankerkennung des Genozids als historische Tatsache vor, die von 16.000 Personen - meist in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern - unterzeichnet war. Das Auswärtige Amt und der Petitionsausschuss erklärten die mit der Petition geforderte Initiative „für nicht geeignet, Wunden der Vergangenheit zu heilen und zur Versöhnung beizutragen“ und erklärten abermals die Bewältigung der Vergangenheit in erster Linie zur Sache der „betroffenen Länder“, zu denen Deutschland nicht gezählt wurde.[18] Nun ergriff der PDS-Abgeordnete Uwe Hiksch die Initiative für einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag mit den beiden zentralen Forderungen auf Anerkennung des Genozids als Völkermord im Sinne der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen und einer öffentlichen Entschuldigung des Bundestags „für die Unterstützung und wissentliche Duldung des Genozids durch die damaligen Regierungsbeamten und Offiziere des Deutschen Kaiserreichs.“[19] Deer stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Gernot Erler, gestand zwar in einem Schreiben an die SPD-Fraktionsmitglieder das Faktum des Genozids ein, doch lehnte er es „aus grundsätzlichen Erwägungen“ ab, einen parlamentarischen Beschluss darüber herbeizuführen, da dies die Aufgabe der Geschichtswissenschaft und nicht „irgendwelcher fremder Parlamente“ sei. „Eine Befassung des eigenen Parlaments mit der Geschichte seines Landes hingegen ist sinnvoll und geradezu geboten“[20], so Erler, der dabei völlig ignorierte, dass genau das eine zentrale Forderung des Gruppenantrags von Hiksch war. Denn für Erler war der Völkermord bereits „damals“ – im Ersten Weltkrieg - ein „öffentliches Thema“ durch Botschafterberichte und Zeugenaussagen von deutschen Offizieren. „Die Evangelische Kirche protestierte beim Kaiser und der Reichstag beschäftigte sich mit dieser Sache.“ Kein Wort findet sich in Erlers Schreiben über die deutsche Mittäterschaft und die von höchster Stelle angeordneten Kriegszensur, die eben verhinderte, dass der Genozid zum öffentlichen Thema werden konnte.

Ließ sich eine Initiative der damals noch weitgehend verfemten PDS leicht vom Tisch wischen, so tat sich die rot-grüne Bundesregierung im Februar 2005 schwerer mit einem Antrag der oppositionellen Unionsfraktion. Wenige Tage vor dem 90.Jahrestag des Genozids einigten sich alle SPD, CDU/CSU, FDP und Bündnis90/Die Grünen auf einen gemeinsamen Antrag „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915“, der am 15.Juni 2005 verabschiedet wurde.[21] Zwar vermied dies Resolution aus außenpolitischer Rücksichtnahme auf die Türkei als wichtigem Handels- und NATO-Partner die Klassifizierung der damaligen Ereignisse als Genozid und auch eine unmittelbare deutsche Täterschaft wird nicht erwähnt.  Doch in der Begründung des Antrags wird die Zahl von über einer Million Opfer der Deportationen und Massenmorde genannt und als salomonischer Kompromiss hinzugefügt, dass zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen hier von einem „Völkermord“ sprechen. Der Deutsche Bundestag „bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen“, heißt es in der einleitenden Entschließung. In der Begründung wird beklagt, dass die Reichsleitung es trotz ihrer Informationen über die „planmäßige Durchführung der Massaker und Vertreibungen“ und dringender Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und den Kirchen wie der Politiker Philipp Scheidemann, Karl Liebknecht und Matthias Erzberger oder der Kirchenvertreter Adolf von Harnack und Lorenz Werthmann unterlassen habe, wirksamen Druck auf die osmanischen Verbündeten auszuüben. „Diese fast vergessene Verdrängungspolitik des Deutschen Reiches zeigt, dass dieses Kapitel der Geschichte auch in Deutschland bis heute nicht befriedigend aufgearbeitet wurde.“  Die Bundesregierung wurde unter anderem aufgefordert,

-         Dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türken und Armeniern ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnung und Verzeihen historischer Schild erreicht wird,

-         Dafür einzutreten, dass sich Parlament, Regierung und Gesellschaft der Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinandersetzen,

-         sich für die Bildung einer Historiker-Kommission einzusetzen, an der außer türkischen und armenischen Wissenschaftlern auch internationale Experten beteiligt sind.

In dem Antrag, an dessen Zustandekommen der Leiter des Lepisus-Archives in Halle, der evangelische Theologe Hermann Goltz, besonderen Anteil hatte, heißt es, dass „besonders das Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, […] dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen den armenischen , dem deutsche und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden.“ Was sich hier noch wie eine einfache Würdigung dieses bekanntesten deutschen Fürsprechers der Armenier liest, sollte sich in den folgenden Jahren allerdings als eine folgenschwere Sackgasse für die weitere Aufarbeitung des Genozids und der deutschen Rolle daran entpuppen. So flossen bislang alle für die Umsetzung des Antrags 15/5689 bereitgestellten Bundesmittel von jährlich 100.000 Euro nach einem von allen Fraktionen außer der Linksfraktion stattgegebenen Projektantrag von Goltz ausschließlich in das von ihm geleitete Lepisus-Haus in Potsdam. In der Villa, in der Lepsius zwischen 1907 und 1925 wohnte, wurde eine Gedenkstätte für Lepsius eingerichtet. „Die vom deutschen Bundestag beschlossene Förderung“, erläuterte Goltz, „ist bestimmt für die Einrichtung einer öffentlichen ständigen Ausstellung zu Leben und Werk von Dr. Johannes Lepsius sowie für die Einrichtung des Johannes-Lepsius-Archivs und einer Forschungsbibliothek im Lepsiushaus Potsdam. Die Öffentlichkeitsarbeit des Lepsiushauses ist thematisch dem gesamten Spektrum des Lebens und Werkes“ von Lepsius gewidmet. „Zu diesem Spektrum gehört zuallererst der Kampf des Johannes Lepsius gegen die hamidischen Massaker wie auch die Schaffung seines großen Armenier-Hilfswerkes ab 1896. Es gehört ebenso dazu sein politisches Wirken für die Armenischen Reformen im Osmanischen Reich (1912-1914) wie auch sein Kampf gegen den Völkermord an den Armeniern (1915 ff).“[22] Dass der Genozid hier erst an letzter Stelle der Aufzählung kommt, ist offenbar kein Zufall. So werfen Kritiker wie der Genozid-Forscher Wolfgang Gust dem Vorstand des Lepsius-Hauses vor, nichts für die Aufarbeitung des Genozids zu tun, aber gleichzeitig „Lepsius als Ikone zu pflegen“ und sein Haus zur „Stätte eines völlig unprotestantischen Heiligenkultes“ zu machen.[23] Kritisiert wird auch, dass das Haus eines früheren Islam-Missionars kaum ein geeigneter Ort sein kann, um eine Annäherung zwischen Armeniern und türkischen Muslimen voranzubringen.

Während sich die türkische Regierung anfangs laut Auskunft der Bundesregierung „besorgt über die geplante Einrichtung des Lepsius-Hauses“[24] geäußert hatte, wurde dort der von Goltz vorgegebene Kurs mittlerweile offensichtlich wohlwollend aufgenommen. So lud die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die weiterhin den Genozid leugnet, das Lepsius-Haus ausdrücklich zur Mitwirkung an einer im Rahmen bilateraler Gespräche zwischen der türkischen und der armenischen Regierung im Oktober 2009 vereinbarten  Historikerkommission ein – und der Vorstand des Lepsius-Hauses nahm laut seinem Jahresprogramm 2010 die Einladung an. Dagegen drückte der Vorstand des Zentralrats der Armenier in Deutschland in einem Schreiben vom 20.Januar 2010 seine „Missbilligung der Mittäterschaft des Lepsiushauses in einer sogenannten türkisch-armenischen Historikerkommission aus“[25], die von türkischer Seite aus nur das Ziel verfolge, „die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch die Türken endgültig von der politischen Agenda zu fegen“.

Von Karl Marx stammt die Feststellung, dass sich die Geschichte zweimal wiederhole, einmal als Tragödie und anschließend als Farce. Sollte also Lepsius, der sich bereits 1919 bei den Aktenmanipulationen des Auswärtigen Amtes als Feigenblatt zur Vertuschung deutscher Schuld einspannen ließ, erneut dazu herhalten müssen, eine Aufarbeitung gerade der deutschen Rolle beim Genozid zu verhindern?

Der jetzigen Bundesregierung käme das durchaus entgegen, hat doch offenbar unter Schwarz-Gelb ein Rollback in der armenischen Frage stattgefunden. Hatte die parteiübergreifende Resolution von 2005 den Begriff „Genozid“ zwar vermieden, aber die Vernichtung der Armenier ganz eindeutig im Einklang mit den Kriterien der UN-Konvention über Völkermord beschrieben und damit zumindest indirekt anerkannt, so fällt die Regierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zur Umsetzung dieses Bundestagsantrag im Februar 2010 weit hinter diesen wieder auf den Stand vor zehn Jahren zurück. Die völkerrechtliche Bewertung der Massaker soll nun „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten bleiben“ und die „Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien“ sein.[26]  Diese Sichtweise blendet die millionenstarke armenische Diaspora, für die der Genozid mehr noch als für die Republik Armenien ein konstituierendes Element der Selbstwahrnehmung darstellt, ebenso aus, wird die in der Bundestagsentschließung von 2005 zumindest teilweise anerkannte historische Mitverantwortung Deutschlands. Eindeutig hatte es da geheißen: „Auch Deutschland, das mit zur Verdrängung der Verbrechen am armenischen Volk beigetragen hat, ist in der Pflicht, sich der eigenen Verantwortung zu stellen. Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen.“ Wohlgemerkt ist die Rede von Türken und Armeniern und nicht von den „betroffenen Ländern Türkei und Armenien“. Die armenische Diaspora ist hier also ebenso eingeschlossen, wie Millionen türkisch- und auch kurdischstämmige Bürger in Deutschland. 

Auf eine Nachfrage der Linksfraktion vom Frühjahr 2010 heißt es, die Bundesregierung nehme „insgesamt keine Bewertung der vorliegenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur Rolle des deutschen Kaiserreichs vor“[27]. Und weiter: „Angesichts eines noch laufenden Verfahrens armenischer Kläger vor einem US-Bundesgericht gegen deutsche Unternehmen, in dem von Klägerseite auch eine angebliche Zwangsarbeit beim Bau der Bagdad-Bahn vorgetragen worden ist, gibt die Bundesregierung keine Stellungnahme ab.“[28] Angesichts Tausender nachweislich für den Bau der Bagdadbahn durch Konzerne wie die Deutsche Bank und die Philipp Holzmann AG von der türkischen Armee herangezogener Armenier, die später in den sicheren Tod geschickt wurden, kommt dies schon dem Versuch einer teilweisen Genozid-Leugnung gleich.

Die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft des Ersten Weltkrieges findet bis heute ihre Fortsetzung im Rahmen der NATO. Deutsche Rüstungsgüter kamen in den 90er Jahren bei der Zerstörung von rund 4000 kurdischen Dörfern durch die türkische Armee zum Einsatz, was von der Bundesregierung bis heute bestritten wird. Gleichzeitig ermutigt die Bundesregierung die Unterdrückung der Kurden in der Türkei durch ein eigenes repressives Vorgehen gegen kurdische Politiker und Medien in Deutschland. Die Bagdadbahn-Politik des Kaiserreichs findet heute ihre zeitgemäße Entsprechung in der geplanten Nabucco-Gaspipeline von den kurdischen Gebieten der Türkei bis nach Europa. So, wie der christliche deutsche Kaiser die christlichen Armenier dem Kriegsbündnis mit den Jungtürken opferte, wird heute das Selbstbestimmungsrecht der Kurden Profiten der deutschen Wirtschaft und geopolitischen Interessen der NATO geopfert.  

 

Berlin im Dezember 2010

 

Über den Autor:

Dr. Nikolaus Brauns, geb. 1971 in München, arbeitet als Historiker und Journalist in Berlin und schreibt regelmäßig u.a. für die Tageszeitung junge Welt zur Geschichte und Politik der Türkei. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Ulla Jelpke.

Zuletzt erschien von ihm das gemeinsam mit Brigitte Kiechle verfasste Buch „PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“ (Stuttgart 2010).



[1] Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1972, 438 f.

[2] Dokumentensammlungen und Hintergrundinformationen zum Genozid, der deutschen Rolle dabei und der aktuellen Rezeption finden sich unter anderem bei: Taner Akcam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung, Hamburg 2004; Jörg Berlin / Adrian Klenner: Völkermord oder Umsiedlung. Das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich. Darstellung und Dokumente, Köln 2006; Vahakn N. Dadrian: German responsibility in the Armenian genocide; Watertown, Mass. 1996;

Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005; Artem Ohandjanian: Armenien. Der verschwiegene Völkermord, Wien/Köln/Graz 1989; Sibylle Thelen: Die Armenierfrage in der Türkei, Berlin 2010. Die Website www.armenocide.de bietet eine umfangreiche von Wolfgang und Siegrid Gust zusammengestellte und editierte Dokumentensammlung.

[3] Wolfgang Gust: Hätte Deutschland die Armenier retten können? Vortrag Frankfurt Paulskirche 24.April 2009. http://www.wolfgang-gust.net/armenocide/gusthome.nsf/d3cb8075f11223b4c12572ef004f2e81/bb415519c63cfd8ec12575a5006f39ae!OpenDocument

[4] Scheubner-Richter wurde als führender Nationalsozialist beim Hitler-Putsch am 9.November 1923 erschossen.

[5] Wangenheim an Scheubner-Richter, Politisches Archiv – Auswärtiges Amt (im folgenden als PA-AA), BoKon Bd. 168, A53, 3034. [1915-05-19-DE015[.

[6] PA-AA, R14089, A36184[1915-12-07-DE001]; Hervorhebung von N.B.

[7] Zit. nach: Kurt Mühsam: Wie wir belogen wurden. Die amtliche Irreführung des deutschen Volkes, München 1918, 76.

[8] Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 301 vom 20.Juni 1921.

[9] PA-AA, R14105, A51505[1918-11-25-DE-001].

[10] Zit. nach: Wolfgang Gust: „Verständnislose Auswüchse des Militarismus“, Historicum, Herbst 2007, 23.

[11] Zit. nach Julius H. Schoeps: Der verdrängte Genozid. Armenier, Türken und ein Völkermord für den bis heute niemand die Verantwortung übernehmen will. Internet: http://www.compass-infodienst.de/Compass/compass_extra/schoeps.htm

[12] Zit. nach: Wolfgang Gust: „Verständnislose Auswüchse des Militarismus“, Historicum, Herbst 2007, 21.

[13] Wolfgang Gust: Magisches Viereck – Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien. http://www.armenocide.de/armenocide/armgende.nsf/WebStart-De?OpenFrameset

[14] Bundestagsdrucksache 16/4959.

[15] Bundestagsdrucksache 16/10074.

[16] „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“, fragte Hitler während einer Ansprache am 22. August 1939 vor den Oberbefehlshabern der Streitkräfte anlässlich des bevorstehenden Überfalls auf Polen.

[17] Bundestagsdrucksache 14/5540.

[18] Auswärtiges Amt, Leiter Parlaments- und Kabinettsreferat, an den Verein der Völkermordgegner e.V. Frankfurt/Main, Berlin 6. September 2001; http://www.aga-online.org/downloads/de/document/aga_12.pdf

[19] Uwe Hiksch, Entwurf für einen Gruppen-Antrag, http://www.aga-online.org/downloads/de/document/aga_10.pdf.

[20] Gernot Erler an die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, 8.Mai 2001; http://www.aga-online.org/downloads/de/document/aga_08.pdf

[21] Die PDS war zu diesem Zeitpunkt nur durch zwei Abgeordnete und damit nicht als Fraktion im Bundestag vertreten. Bundestagsdrucksache 15/5689.

[22] Prof. Dr. Dr. hc. Hermann Goltz: ‚Heiligenkult‘ im Potsdamer Lepsiushaus? Eine notwendige Richtigstellung von Falschmeldungen vom 24. April 2009 aus der Frankfurter Paulskirche; http://www.lepsiushaus-potsdam.de/LHP-Richtigstellung_Falschmeldungen_24.04.2009.pdf

[23] Wolfgang Gust: Hätte Deutschland die Armenier retten können? Vortrag Frankfurt Paulskirche 24.April 2009. http://www.wolfgang-gust.net/armenocide/gusthome.nsf/d3cb8075f11223b4c12572ef004f2e81/bb415519c63cfd8ec12575a5006f39ae!OpenDocument

[24] Bundestagsdrucksache 16/10074.

[25] http://www.zentralrat.org/de/node/776.

[26] Bundestagsdrucksache 17/687.

[27] Bundestagsdrucksache 17/1798.

[28] Ebda.